Erdsee-Fantasien

Erdsee-Fantasien

Seitenwechsel
David Oates | © privat

SEITENWECHSEL heißen Tagebuchnotizen aus dem Rheinland, aus Riga, Portland, Oregon; aus Barcelona und Kathmandu. David Oates ist einer von sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen SEITENWECHSELS, der von faust-kultur aufgenommen wird. Eine Sonntagswanderung auf einen Berg nahe Portland öffnet die Sinne für die Natur und lässt Oates an die „Erdsee-Trilogie“ der Schriftstellerin Ursula Le Guin denken, worin der ansteigende Meeresspiegel Berge in Inseln und so in eine verbesserte Staatengemeinschaft verwandelt.

Portland, Sonntag, 10. Juli 2022
 
 

Diesen Spielzeugvulkan hinauf.

Nadelbäume überall – die Douglasie, unser dichtes und ausladendes hiesiges Emblem, dunkelgrün von ferne und Schatten spendend direkt darunter. Das ist die gefühlte Heimat, nach der ich mich mein ganzes in der Wüste begonnenes Leben lang gesehnt habe. Und jetzt lebe ich hier. Umfangt mich, große Bäume. Atmet mich.

Eine schmale, für den Verkehr gesperrte Straße schlängelt sich, mit Wanderern und Läufern gesprenkelt, den kleinen Berg hinauf. In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts müssen hier T-Modelle von Ford hoch geschnauft sein. Die Steigung reicht gerade für ein Beintraining, ich bin nämlich jetzt ein langsamer alter Wanderer. Da kommt eine Läuferin, eine geschmeidige Gleiterin, großartige Form. Ich erfreue mich auf eigenartige Weise an der Jugend anderer Menschen. Gerne sehe ich die jungen Leute gut laufen, ohne Ruckeln oder überlange Schritte. „Lauf in dir drinnen“, sagte mein Trainer immer und meinte damit, dass ich nichts forcieren, sondern das Laufen von da kommen lassen sollte, wo alles in Einklang, alles gut ist.

Kühle Morgenluft weht sanft von Osten her, so als schickte uns der große Vulkan in Originalformat dort drüben eine kleine Schnee-und-Gletscher-Brise, schneidend und klar. Der Mt. Hood glänzt in der Sonne, noch halten seine Gletscher stand. Und von hier oben sind mehrere andere Vulkanreste zu sehen – kleine Spitzberge und Kegel, die sich aus Vororten erheben und Autobahnen umlenken. Jeder von ihnen eine alte Geschichte, die wir nicht erzählen.

Jetzt höre ich vertraute Vogelstimmen … und merke, dass das die ersten Wanderdrosseln sind, die ich in diesem Jahr höre. In meinem Viertel, das mit seinen Grünflächen und den vielen Bäumen den perfekten Lebensraum für Wanderdrosseln darstellt, waren sie auf merkwürdige Weise abwesend. Ganz im Inneren weiß ich, dass diese Abwesenheit Teil der kontinentalen Verlagerung und des Aussterbens ist. In der winzigen Savanne meines Hinterhofs drückt sich das in einer unheimlichen Stille aus.

Denken wir daran, das, was weg ist, zu vermissen, oder bildet Abwesenheit bloß eine neue Normalität? Der unbewusste Konservatismus, alles, was passiert, einfach hinzunehmen.

Oben angekommen, weiß ich, dass ich nur rund zweihundert Meter aufgestiegen bin. Ein grüner Garten ist das hier oben, so groß wie ein Sportplatz, beschattet von einem ausgewachsenen Tannenwäldchen. Dieser Berg ist ein winzig kleiner Magmarülpser in der Kette des pazifischen Feuerrings – ein Schlackenkegel, der nun schon ein paar hunderttausend Jahre schläft. Genug Zeit, um sich oben aufzufüllen und in großzügigem Abstand diese Bäume wachsen zu lassen, die gesprenkeltes Licht erzeugen. Die befestigte Straße bildet unbemerkt einen Kreis, vielleicht einen Kilometer im Umfang. Wenn die Wiederholung einem nichts ausmacht, könnte man hier ein Zehn-Kilometer-Rennen laufen. Um den Rand herum tauchen immer wieder Spaziergänger auf, die entspannt mit Hund und Kindersportwagen unterwegs sind. Mittendrin ein paar Frisbees. Manche Leute sitzen in trauter Zweisamkeit bei ihrem Mittagessen.

Grüner Garten in einer alten Caldera, üppig und ruhig, als würde die Welt das Grün nicht mit jedem Atemzug bekämpfen. Jetzt, heute ist hier oben alles gut. Die Wahrheit (und die Lüge) der Natur.

Ich habe Tagträume von Urbanität und Anstand. Wer nicht?

Parkbänke bieten einen Ausblick auf die Stadt. Vororte fallen schräg zum großen Fluss ab, dann tauchen plötzlich, gebieterisch und stolz, die Wolkenkratzer der Innenstadt auf. Und ich kann so in etwa ausmachen, wo die Autorin der Erdsee-Geschichten lebte – etwas nördlich des Stadtzentrums, unweit der Pfade von Portlands weitläufigem Forest Park. Ursula Le Guin bezeichnete sich einmal als „baumartigste unter den Schriftstellern.“ Wir lachten alle, empfanden aber dasselbe.

Ihr berühmtestes Fantasiegebilde war allerdings von Inseln inspiriert – in ihrer „Erdsee“-Trilogie wurde eine Kette von kleinen oder mittelgroßen Nationen genau auf die richtige Weise zu Inseln, sodass ihre Individualität gewahrt blieb, Handel und Austausch jedoch förmlich explodierten. Ein Rezept für Zivilisation, finde ich. Jede Menge Anleihen.

Ich versuche es mit einer Erdsee-Fantasie. Wenn wir von einem Anstieg des Meeresspiegels um rund dreißig Meter ausgehen, würden sich die vulkanischen Kegel und Spitzkuppen von Portland in eine Anzahl verstreuter Inseln verwandeln, ihnen gegenüber eine hohe Kammlinieninsel, die West Hills, die früher einmal das Stadtzentrum überragten. So viel Wasser würde ein Aufgeben dieser Innenstadtbezirke bedeuten. Ein paar Generationen lang würden die Hochhäuser ihren Kopf aus dem ansteigenden Wasser heben. Die Leute würden in ihren oberen Etagen leben und sich daran erinnern, dass es einmal eine andere Welt gab. Dann würden die großen Gebäude eins nach dem anderen fallen. Und die Menschen würden allmählich daran zweifeln, dass sie wirklich so hoch gewesen waren wie die Legenden behaupteten. Oder dass sie überhaupt von Menschen erbaut worden waren.

Dann werden wir der Gegenstand der Sehnsucht sein. Sie werden denken, dass wir klug gewesen sein müssen und daher edelmütig und gut. Und daher glücklich.

Ich gehe weiter, vollende eine Runde um das Wäldchen. Noch einmal blicke ich hinunter, sehe, wie die Vororte von Portland sich uns zuneigen. Ich kann mein Viertel ausmachen, wo ich jeden Tag zu Fuß unterwegs bin. Ich weiß, wo die guten Cafés sind und die guten Kneipen. Und ich weiß, wo vor hundert Jahren die Straßenbahnen entlangfuhren, geradewegs hinauf zu den hübschen Wasserreservoirs an den unteren Hängen des Vulkans. Die haben wir wenigstens erhalten, perfekt beschattete Seen, umgeben von spitzenbewehrten Eisenzäunen und kunstvollem Mauerwerk.

Und dann habe ich noch einen Wachtraum. Als ich vor ein paar Jahren die deutsche Stadt Kassel besuchte, um mir das Kunstspektakel der Documenta anzuschauen, fuhr ich mit einer Straßenbahn mitten in der Stadt einen Hügel hinauf und gelangte an ein kleines, von Wald umgebenes Palais. Hatte wohl etwas mit dem ehemaligen Markgrafen oder Kurfürsten oder so was Ähnlichem zu tun. Das Palais war in einen öffentlichen Raum, vermutlich ein Museum, umgewandelt und an den öffentlichen Nahverkehr angebunden worden. Und natürlich frage ich mich: Warum können wir so etwas nicht auch hier bauen? Wir brauchen ein paar mehr Konzertsäle. Unsere Stadt hat brillante Musikerinnen und Musiker, ein erstklassiges Barockorchester, Kammermusikfestivals, Ensembles für Vokal- und Gegenwartsmusik und natürlich das große Orchester, das munter aufspielt. Ganz ehrlich, Musik ist der andere Grund, hier zu leben. Zusammen mit den Bäumen. Und dem Kaffee. Und dem Bier.

So träume ich von einer schönen kleinen Konzerthalle, die gleich neben einem spiegelnden Oval auf der Flanke dieses Hügels thront. Rundherum Wald. Und stündlich eine Straßenbahn, die zwischen Häusern und kleinen Geschäften hindurch die Steigung hinauf und direkt an die Schwelle zur Musik fährt.

Solche Dinge sind schon passiert. Ich weiß nicht, woher das Geld kommt oder der Wille. Aber eins weiß ich: Erst einmal muss jemand davon träumen. Und dann – irgendwie – die ganze Stadt dazu bewegen, mit zu träumen.

So entsteht unsere Realität. Sie muss erst erträumt werden. Ich weiß nicht, ob Straßenbahnen uns glücklicher oder weiser machen werden. Musik wird es tun, das weiß ich.

Später, wenn das Wasser tatsächlich steigt, könnte die Halle, in einer Seltsame-neue-Welt-Manier heiter venezianisch, Gondeln voller Konzertbesucher empfangen. Vielleicht werden wir uns dann in geschnitzten Kanus aus Zedernholz fortbewegen, so, wie wir es früher so lange getan haben.
 
 

Aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller

Letzte Änderung: 13.01.2023  |  Erstellt am: 13.01.2023


Geschrieben werden Tagebuchnotizen, die zeitgleich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Ländern entstehen und in der WORTSCHAU veröffentlicht werden. An einem bestimmten (vorgegebenen) Tag machen sich sechs Autorinnen und Autoren Notizen darüber, wo sie sich an diesem Tag aufhalten, woran sie arbeiten, was sie erleben, wie sie sich durch den Tag bewegen und was sie bewegt. Jeder und jede ist jedoch frei, eine poetisch-verfremdete Wahrheit oder wirklich an diesem Tag Erlebtes aufzuschreiben.
Auf diese Art entsteht simultan ein Tagebuch, das einen vielschichtigen Blick auf eine jeweils individuell erfahrene Welt wirft. Was alle vereint und auch den tieferen Anlass des Seitenwechsels ausmacht, ist der genaue Tag, auf den alle sich beziehen. Das öffentliche und private Geschehen dieses Tages an ganz unterschiedlichen Orten mit seinen Chancen und Gefahren geben den gemeinsamen Fokus vor.

Seiten Wechsel | © privat

Johanna Hansen und Wolfgang Allinger (Hrsg.) Seiten Wechsel

Tagebuchnotizen,
204 S., brosch.
ISBN 978-3-944286-39-6
WORTSCHAU VERLAG, Neustadt an der Weinstraße 2022

Das Buch kann beim Verlag bestellt werden:
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