Wasserwald

Wasserwald

AUSZUG AUS EINER ERZÄHLUNG
Buchcover

„Wasserwald“, hier ein Auszug, ist eine der Erzählungen in der Sammlung „Nur noch weg“, Stephan Woltings Prosadebüt. In der Beschreibung des Buches auf der Homepage des Berliner Verlages PalmArtPress heißt es: „Alle wollen sie nur noch weg und jede(r) aus anderen Gründen: den eigenen. Und so tauchen Geschichten auf und verschwinden wieder wie der versunkene Wald der Ostsee an der Wanderdüne, der das ganze Jahr nicht zu sehen ist und nur im April kurz aus dem Meer auftaucht und wieder verschwindet. Und irgendwann ganz verschwunden sein wird mit ihm die Menschen dieser Geschichten. Leben, die immer mal wieder kurz auftauchen und dann irgendwann für immer in der Versenkung verschwinden, so war es Leszek geschehen, Agnieszka, Ilona, ihm selbst. Seiner Partnerin hätte er diese Geschichten nicht erzählen mögen.“

„Ich wollte noch hören, was Sie sagen. Ich habe nur den ersten Teil mitbekommen.“ Erst jetzt nahm er wahr, dass der schon ältere Mann mit dem Stetson-Kingsley Hut auf der Treppe im Foyer beim Einlass des BE hinter ihnen stehengeblieben, gelauscht, ihn angesehen und dann beinahe entschuldigend die beiden Sätze herausgebracht hatte.

Der Mann war doch gar nicht gemeint gewesen, dachte er bei sich. Und dann: Wie viele mögen sonst noch hinter uns stehen, genau hinhören auf das, was wir sagen, die wir nicht bemerken, die wir nicht meinen. Dagegen hatte seine koreanische Begleiterin, eine in Deutschland ausgebildete Opernsängerin, die auf Gesanglehrerin umgesattelt hatte, die er fast zwanzig Jahre kannte und mit der er seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden war, nicht mal Notiz von seiner Bemerkung genommen; einer Begleiterin mehr, die auf das, was er sagte, nicht Acht gab. Vielleicht kannten sie sich einfach schon zu lange. Je länger man sich kennt, umso weniger nimmt man die andere Person wahr. War es nicht so? Er konnte sich kaum drauf besinnen, es anders erlebt zu haben. (…)

Was hatte er damals eigentlich gesagt? Woran er sich jetzt zu erinnern versuchte, was ihm geblieben war, bestand darin, dass er etwas gesagt und der Mann reagiert hatte. Erinnerung schien aus unbewussten Bruchstücken wie aus einem Versuch der Rekapitulation davon zu bestehen. (…) Und dabei: Jene Erinnerung brach plötzlich ein, fiel über einen her. Und plötzlich versucht man verzweifelt, sich wieder zu erinnern. (…) Wie oft war er schier wahnsinnig geworden, wenn es ihm dann nicht kam. Wenn ihm die Erinnerung nicht kam. Nicht vollständig oder zumindest nur einigermaßen vollständig kam.

Noch mal, was hatte er gesagt? Etwas von Thomas Mann, ein Zitat oder so etwas über München, dass „die Stadt immer die Stadt der Maler, nicht die der Literaten gewesen sei.“ Und dann schob sich die Assoziation seiner Erinnerung davor, dass die Ostsee immer das Meer der Maler war… Der Grauschleier, der die wenigen Farben so betonte. Das Meer bei Berlin, nicht weit vom BE… Er war als letzter zurückgeblieben, alle waren sie mit Ende der Ferien wieder zurückgefahren (…)

Und dann tauchen Geschichten auf und verschwinden wieder wie der versunkende Wald der Ostsee an der Wanderdüne, der das ganze Jahr nicht zu sehen ist, und nur im April kurz aus dem Meer auftaucht und wieder verschwindet…Und irgendwann ganz verschwunden sein wird…mit ihm die Menschen dieser Geschichten… Leben, die immer mal wieder kurz auftauchen und dann irgendwann für immer in der Versenkung verschwinden… so war es Leszek geschehen, Agnieszka, Ilona, ihm selbst. Seiner Partnerin hätte er diese Geschichten nicht erzählen mögen.

Aber jenem Mann hätte er damals gerne die ganze Geschichte erzählt von Leszek, jenem versunkenen Wald und den Wracks der Ostsee und dass er überall immer zu lange geblieben war. Aber da war der Mann längst schon wieder verschwunden. Resonanz immer nur für einige wenige Augenblicke. Und als sie schon ihre Plätze eingenommen hatten, kam ihm noch mal die ganze Geschichte hoch, des versunkenen Waldes an der Ostseeküste, der nur für wenige Momente im April zum Vorschein kommt und sonst von der Ostsee versteckt, in ihr verborgen bleibt. So war es mit allen seinen Geschichten gewesen, die ihm geblieben waren, so war es mit dieser Geschichte, warum sie ihm gerade in dieser Situation wieder kam? – Die Ostsee ihm im Foyer des BE erschien … zu ihm zurückgekommen war, auf dem Weg zu den Plätzen (8. Reihe, Platz 15 und 16), ausgelöst von einem Mann, der für einen Augenblick hinter ihm stand, … als er was zu Thomas Mann und München gesagt hatte … wie verwinkelt die Gänge der Erinnerung …

War es das Rauschen der Wellen der Ostsee oder der Wind in den Schwarzkiefern vom Strand her? Leszek, mit dem er den Stellplatz für das Standchalet am Rand des Nationalparks ausgesucht hatte, versuchte, ihm den Unterschied zu erklären: das dunklere Rauschen der Föhren, das hellere Aufsäuseln der Wogen. Der „Szum”, wie Leszek das nannte; ihm gefiel das Wort, weil es all das für ihn hier Unfassbare enthielt. Ein Schimmer, schummern… der Schummer als die Dämmerung, der Schimmer als die kurz durchdringenden Farben des Lichts…, dann wieder die defekte, auf wenige Tonzungen reduzierte, eine in Schwingungen versetzte Spieldose der Geräusche… dazu das Hin- und Herschwingen der Bäume im Wind.

Im November waren das oft die einzigen Geräusche, die er vernahm, von außen zu ihm durchdrangen, dazu die Silber- und die Lachmöwen, manchmal ein Eichelhäher…in der Nacht ein Steinkauz, jenes Tier der Öde und der Weisheit zugleich, an manchen Morgen sogar ein Sandregenpfeifer, der selbst an den Küsten der Ostsee selten geworden war. Die kleinen Graubrust – Strandläufer mit den für ihre Größe so langen Schnäbeln.

Leszek, der als Ranger im Slowinzischen Nationalpark arbeitete, hatte ihm auch die riesigen Wechselhorste gezeigt, von den Seeadlern in den Kiefern ausgelegt, die Nestmulde ausgestattet mit Moos und Gras, ihm erzählt, dass nur die jungen Adler zu Zugvögeln würden, von den seit einigen Jahren zurückgekehrten Elchen, den wieder ausgewilderten Kegelrobben und den Marderhunden gesprochen. Aber Rohner hatte nie welche gesehen. Er würde noch einmal mit Leszek gehen müssen, für ihn gab es hier draußen nur die absolute Einsamkeit, die sich auch darin äußerte, dass er vom Strand aus nie irgendein Schiff am Horizont gesehen hatte. Leszek hatte ihm auf seine Frage hin erklärt, dass es sich hier um die Ausläufer der Stolpebank handeln würde, wo es immer gefährliche Strömungen geben könnte, weshalb hier in den Kriegstagen am 30.Januar 1945, 60km vor der pommerschen Küste die Friedrich-Gustloff gesunken wäre, die allerdings von einem russischen Marine-U-Boot mit einem betrunkenen Kapitän Marinesko, der schon einige Tage danach zum „Helden des Vaterlands“ gekürt worden war, mit einem Torpedo-Treffer angeschossen und zum Sinken gebracht worden wäre. Und dass man von den anderen Wracks der Ostsee wie dem ehemaligen Frachter Goya, der Steuben oder der Cap Arkona viele Teile erst in den letzten Jahren geborgen hätte.

Die Schiffe würden also viel weiter draußen vorbeiziehen, so dass sie vom Ufer schwer mit eigenen Augen zu erkennen wären. Aber die Ostseeroute nach Gdańsk und Gdynia, in die baltischen Staaten, Richtung Kurische Nehrung, Kaliningrad oder St. Petersburg oder auch dann weiter hoch nach Skandinavien, gehörte trotzdem zu einer der meistbefahrenen Schiffsstraßen der Welt. So ein verlassenes Meer, sein Einsamkeitsmeer, das Melancholiemeer, und es hatte doch seine Hanse- und Seeräuberzeiten.

Leszek hatte ihm von der Räuberkuhle erzählt, die die Piraten schon seit den Zeiten der Vitalienbrüder, Klaus Störtebeker und Co., benutzt hätten. So regen Anteil am Handel wie am Tod, dachte er bei sich und musste dabei auch an die Statistiken denken, die alljährlich vom polnischen Innenministerium herausgegeben würden, wieviel Menschen den ganzen Sommer über in der Ostsee ertrinken würden: Es waren manchmal in drei Monaten mehr als 180 Personen, mehr als „terroristische“ Opfer in einem halben Jahr vermeldet würden, wie der Journalist süffisant bemerkt hatte (…). Wozu in die Ferne schwelgen, wo der Tod doch liegt so nah…dachte er bei sich, dieses so melancholisch, traurig-schöne wie heimtückische Meer, wo nie was passiert oder passieren kann. Dann kamen ihm die plötzlich auftretenden Strömungen ins Gedächtnis, die nur acht Grad hatten.

Er musste daran denken, wie er sich von Leszek verabschiedet hatte. Und dass er damals noch nicht wusste, dass es das letzte Mal gewesen sei. Und er fragte sich, ob es damals schon Anzeichen der Krankheit gegeben hatte. Er hatte nichts bemerkt.

Zu jener Zeit wurde es bereits gegen halb vier dunkel. Ben Christoph Rohner war nach den Semesterferien nicht nach Berlin zurückgekehrt. Weil er ein Forschungssemester, ein Sabbatical hatte, brauchte er nur selten im Institut zu sein. Vor Jahren hatten er und Agnieszka von ihrer inzwischen verstorbenen „Babcia“, der Großmutter, ein Grundstück direkt am Eingang des Nationalparks vererbt bekommen, da, wo die Küstendünen wandern, und sich kurz darauf über das Netz in Reading ein gebrauchtes Standchalet gekauft, das sie anfangs Freunden zur Verfügung stellten oder an Bekannte vermieteten, auch manchmal über Airbnb. Seit ihrer Trennung hatten sie es abwechselnd benutzt.

Schon immer hatte Rohner ein solches Strandchalet besitzen wollen und er hatte sich viele Jahre ausgemalt, wie es sein würde, auf diese Weise ganz nahe der Ostsee die Sommer und Winter zu verbringen. Von daher hatte er sich auch ganz besondere Mühe gegeben, das Standchalet einzurichten: Das Schlafzimmer hatte er zu einer gemütlichen Schlafkoje ausstaffiert, die große Fensterfront vor dem Esstisch erlaubte einen weiten Blick über den Kanal bis hin zu den „Weißen Bergen“ und zum Leuchtturm, den Sanddünen den Wänden hingen Reproduktionen von Ostseebildern von Schmitt-Rottluff oder Max Pechstein, die Madonna in der Kirche von Smołdzino/Schmolsin, die Pechstein selbst noch, lange nach dem Krieg, dort angefertigt hatte, Poster mit den Fischen und den Leuchttürmen der Ostsee, ein Bild, das Agnieszka hier noch gemalt hatte und das den Aufstieg zum Leuchtturm zeigte, eine Topographie der Ostseeküste bis in die Bucht von Kaliningrad, ehemals Königsberg, für Rohner hatte das Ganze immer die Funktion zugleich am Ort wie unterwegs zu sein, die Ostsee wanderte für ihn so immer am Fenster vorbei, von Drinnen und Draußen zu sein, von Heimat und Fremde zugleich. (…)

Er war immer früh an Morgen auf, um nach Strandgut zu schauen, den so verschiedenen Arten des Heidekrauts, aber vor allem nach letzten Teilen von Wracks der Ostsee wie der Friedrich Gustloff, der Cap Arcona oder der Friedrich Wilhelm Steuben…. der Goya…

Rohner hatte von Beginn an eine Verbindung zu diesem „Einsamkeitsmeer“ verspürt, der Grauschleier, die immer zu spürende, feuchte Kälte, wo auch die Temperaturen, selbst im Sommer nie über 25 Grad stiegen, an dessen Ufern auch neben Thomas Mann Ringelnatz, Fallada oder Erich Kästner Urlaube verbrachten. Es war trotz oder gerade wegen Berlin das Meer der Kleinbürger, an dem keine einzige Metropole lag. (…) Und dann war da das Ostseelied und damit verbunden die immer nahe Stadt Berlin: „Gib mir noch einmal das Meer… meiner Kindheit…“ Von der Ostsee, jenem Meer vor unserer Tür…

Nachdem Rohner am Morgen aufgewacht war, machte er sich zum Strand auf, weil er hoffte, nach dem Sturm im Glitzern der ersten Morgensonne Bernsteinbrocken zu finden. Darin hat er es inzwischen zu einiger Geschicklichkeit gebracht und manchmal hatte er das mit Agnieszka geteilt.

Für ihn war das gelb dunkelbraune Element, das den einst klebrigen Harz, dem Baumsaft der Kiefern konservierte, von jeher auch mit dem Licht dieser Landschaft verbunden, die nie ganz hell wurde und von der ein berühmter Künstler mal gesagt hatte, dass man aufgrund dieser ständigen Dämmerung des Lichts die Farben so genau und besonders expressiv erkennen konnte. Das galt besonders für jenen Brennstein, woher er seinen Namen hatte. Und – welche Ironie der Geschichte – verbrannt sollte offenbar auch das Bernsteinzimmer sein, mit dem er sich als Historiker während seiner Doktorarbeit beschäftigt hatte, das Friedrich I. dem russischen Zaren Peter dem Großen geschenkt hatte und das kurz nach Ende des 2. Weltkrieges im Königsberger Schloss vernichtet worden sein sollte. (…)

Vielleicht war von daher auch sein großer Hang zu dieser Gegend entstanden oder es hatte immer schon so etwas in ihm geschlummert und war durch die Beschäftigung damit und durch die Landschaft nur noch weiter entfacht worden. Für ihn blieb auch der Stein an sich mit seinem Geheimnis als Fossil und den eingefassten Insekten, mythisch, ja fast erotisch und er teilte nie die Auffassung, dass es sich um Schmuck für „ältere Tanten“ handeln würde. Es war auch die Dynamik, die von diesem Stein ausging, der die Jahrmillionen überstanden und sie in die neue Zeit transportiert hatte. Eine Art von Dynamik hatte er auch in der Beschäftigung mit dem Bernsteinzimmer wiedergefunden, das von Berlin nach Königsberg transportiert und von dort wahrscheinlich noch weiter transportiert worden war. Etwas dieses „beweglichen Zimmers“ hatte auch sein Standchalet, das dennoch stark mit dem Boden verwurzelt war, stärker als jeder Wohnwagen oder Caravan.

Als Historiker war es ihm oft, als drehte er an der Zeit, aber auch, was seine eigene Zeit betraf, er erinnerte sich daran, wie der Sommer vor unendlich langer Zeit begonnen hatte, wie es ihm schien. Wie er mit Agnieszka hier in einem Juni vor heute ebenfalls unendlich erscheinender Zeit, begonnen hatte, das Strandchalet aufzubauen, und wie sie schon bald gespürt hatten, dass diese Enge und Nähe ihnen und ihrer Beziehung nicht mehr bekommen würden. Sie hatten den Sohn in der fast 40 Kilometer entfernten Kleinstadt bei ihren Eltern gelassen, aber irgendwann hatte sie die Nähe nicht mehr ausgehalten und auch sie war zurück in die Stadt zu ihren Eltern gegangen. Ab und an war sie mit den Kindern vorbeigekommen, der Sommer war dunkel und schön, sie waren schweigend hinunter zum Strand gelaufen…

Von der großen Fensterfront unter den Landhausgardinen betrachtete er rechts in der Ferne die weißen Berge, halbrechts die hohen Klinkersteine des alten Leuchtturms, in der Nacht hatte er das Kreiseln des neuen Lichts bemerkt und ganz links der Revekól, die „Räuberkuhle“, jenen Berg, den Max Pechstein immer wieder gemalt hatte. Rohner hatte oft versucht, den Berg mit den Augen von Pechstein zu betrachten, den leicht rötlichen Sand, die Orange schimmernden weißen Wolken, die Bewegung in einer Landschaft, in der sonst alles stand.

An einem Tag war Agnieszka zu Beginn des Sommers dann noch mal mit ihrem gemeinsamen kleinen Sohn Marvin, vorbeigekommen, der seinen Freund Mateusz mitgebracht hatte. Sie hatten ihn im Standchalet besucht, an einem jener weiß-blauen Tage, wenn der Himmel voller Federwolken steht, waren auf der alten Betonstraße, die zum Training für Rommels Afrikakorps gebaut worden war, dann zum Strand runter gelaufen und hatten dort nach angeschwemmten Dingen abgesucht.

Dann war ein Gewitter mit Sandsturm aufgezogen, sie waren zu den Fahrrädern gelaufen, so schnell sie konnten zum Standchalet gefahren und Agnieszka war mit den durchnässten Kindern sofort wieder in die Stadt zurückgekehrt. Sie hatte ihm und dem Standchalet wohl nicht getraut. Er hatte ihnen noch vorgeschlagen, sich bei einem Tee aufzuwärmen, aber zunächst war es ihnen nicht richtig warm geworden und nach fünf Minuten schon wieder so heiß, dass sie aufgebrochen waren und er ihnen noch zugerufen hatte: Kommt bald mal wieder vorbei…

Am nächsten Tag – das Unwetter hatte sich längst wieder verzogen und es war eine angenehme Art von Nachwetter –, trommelte jemand plötzlich gegen die Tür seines Standchalets und Mateusz, der kleine Freund seines Sohnes Marvin, stand vor der Tür und fragte ihn auf Polnisch, ob er wie gestern mit zum Strand kommen wollte: „Jesteś sam“ („Bist du ganz alleine hier?“), „Nein, ich bin mit meiner Mama da, sie wartet dort.“ Rohner schaute in die Richtung, in die Mateusz gedeutet hatte, konnte aber niemanden erkennen. Bis sie plötzlich hinter ihm stand. „Dzień dobry,“ und „Ich bin Ilona“, mehr sagte sie nicht. Und wies fast wie zur Entschuldigung auf die Jungens. Sie trug beige Shorts, darüber ein rotes Top und Lederriemenpumps, woraus der Sand und lackierte Fußnägel blinkten, das blonde Haar zusammengebunden, große, nah beieinander liegende Augen mit einem strengen Gesichtsausdruck und einem leicht bitteren Zug um den Mund. Sie mochte Ende Dreißig sein. Da er mehrere Jahre in diesem Land gearbeitet hatte, war er der Sprache noch einigermaßen mächtig, so dass er sie zu einem Tee einladen wollte.

Von da an sahen sie sich öfter, d.h. sie kam ihn zwei- bis dreimal in der Woche besuchen, zunächst immer mit dem Sohn, später dann auch allein. Sie liefen den kleinen Kanal entlang, der direkt am Grundstück vorbeiführte und von dem es hier viele gab, weil sie die sich vor langer Zeit vom Meer abgetrennten Süßwasserseen miteinander verbanden. Zu Beginn des Sommers hatte er mit den Kindern versucht, mit einem Schlauchboot die Kanäle entlangzufahren, und sie hatten es tatsächlich bis zum Gardno-See geschafft. Der Sommer war heiß und trocken gewesen. Jetzt war der Kanal verschilft und kaum mit Wasser gefüllt.

Er hatte Fotos von ihr in der „Polnischen Sahara“ gemacht, der Strandhafer, die weißen Berge, auch Nacktfotos (er fühlte, dass sie mit knapp Vierzig noch stolz auf ihren Körper war), nach der Geburt ihrer Kinder, und überlegte die Bilder einer Zeitung zu schicken, die vor Jahren Hochglanzfotos von unbekannten Frauen und die Vierzig veröffentlicht hatten. (…)

Nach jeder Session hatten sie sich in der Räuberkuhle geliebt – schon der Name hätte ihr den Kick gegeben, wie sie sagte -, danach hatte sie von ihrem Mann erzählt, der vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und sie mit ihren vier Kindern zurückgelassen hatte. Seitdem lebte sie mit den Kindern und dem Vater im kurz davor fertig gestellten Haus der Eltern (ihre Mutter war bereits zu Beginn der Bauarbeiten von einer Dachlatte erschlagen worden) auf einer Anhöhe, von der aus man die ganze Kleinstadt überblicken und den Wolken vom nahegelegenen Meer nachsehen konnte.

Nachher erzählten beide mehr sich selbst als dem anderen ihre Geschichte, bis sie irgendwann abrupt aufsprang und sagte: „Wir sind nur bei uns, wir lieben uns nicht. Ich habe dich dazu benutzt, mich mal wieder, nach so vielen Jahren, als Frau zu fühlen. Und du, um das mit deiner Beziehung mit Agnieszka zu regeln, zumindest zu der einen Seite hin eine Lösung zu erzwingen.“

Er sah sie aufspringen, mehr vorwärts stürzen als laufen durch den sandigen Untergrund und schon war sie seinem Blick entschwunden. Schon da wusste er, dass er sie nicht mehr wiedersehen würde. Dennoch begann er seit dieser Zeit zu warten… Mal wieder war er zu lange geblieben, übriggeblieben. (…) Der Sommer, der vor so langer Zeit begonnen hatte, schien vorüber. Von Agnieszka erhielt er eine Mail, dass Leszek nach einem Zeckenstich sehr schwer an Borreliose erkrankt wäre, so dass man sich ernste Sorgen um ihn machen würde.

Plötzlich musste er wieder an den szum denken…an das Rauschen der Föhren, des Meeres, alles ist Schall und Rauch…, dass sie nun nicht mehr gemeinsam würden gehen können durch den Slowinzischen Nationalpark, den Strandläufern und dass er jetzt wohl die Marderhunde kaum noch würde zu Gesicht bekommen. Und dass Leszek in Ausübung seines Berufs an der Borreliose gestorben und auf dem Friedhof von Smołdziński Las, begraben war.

An das Stück im BE kann er sich nicht mehr erinnern. Er hat kaum etwas davon mitbekommen. Wieder bestätigte sich ihm, dass man sich nicht einfach irgendetwas aussuchen kann, sondern es ist umgekehrt, man wird ausgesucht. Das war der Grund, warum er sonst eher selten in Ausstellungen und Theaterstücke ging. Sie stimmten selten mit der Aktualität des eigenen Lebens überein. Und die authentischen Momente wurden seltener. Deshalb ging er immer häufiger mit seiner Erinnerung fremd. So wie er früher sich und andere Menschen mit seinen Assoziationen und Projektionen betrogen hatte. Die Menschen dafür weniger geworden waren. (…) Es stellte sich für ihn nur die Frage, wieso er dem Mann diese Geschichte erzählen wollte. Oder hatte er sie ihm erzählt. Der Mann tauchte nicht mehr auf und blieb auch nach dem Stück verschwunden.

Von seiner Freundin verabschiedete er sich bald. Auf ihre Frage: Wollen wir noch was trinken gehen, antwortete er: „Das nächste Mal gern, heute bin ich zu müde.“ Diesmal würde er nicht zu lange bleiben. Aber da waren wir schon wieder am Ausgang… an der Stelle, wo der Mann ihn angesprochen hatte.
Auf dem Weg zur U-Bahn Friedrichstraße ertappte er sich dabei, wie er nach dem Mann suchte. Ob er ihn gefunden hat, davon muss weiter nichts erzählt werden. Das kann man sich denken. Aber vielleicht hat er mit Leszek noch vor dessen Tod gesprochen. Er war gut darin, Dinge aufzuschnappen, die nicht an ihn gerichtet waren. Wie Leszek von der versinkenden Wasserwaldlandschaft, die nur einmal im Jahr kurz auftaucht und gleich wieder verschwindet. Das hatte er noch von Leszek, ob ihm das wohlmöglich geholfen hätte, wenn er es dem Mann noch hätte erzählen können.

„Nur noch weg. Zwischen Wendezeit und Zeitenwende“, Erzählungen
Wolting, Stephan
PalmArtPress
Erschienen am 25.05.2025
25,00 € (inkl. MwSt.)
ISBN/EAN: 9783962582067
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 2.5 × 21.9 × 13.3 cm
Einband: gebundenes Buch

Letzte Änderung: 12.09.2025  |  Erstellt am: 12.09.2025

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