Erinnern Sie sich? (An Theodor W. Adorno)

Erinnern Sie sich? (An Theodor W. Adorno)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F. W. Bernstein, Diese Dichter Gruppenbild mit Rabe | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 2 - Theodor W. Adorno

ERINNERN SIE SICH?

An den Philosophen Theodor W. Adorno beispielsweise, der sich einmal zu dem Philosophen Martin Heidegger an den Tisch setzte. Dieses denkwürdige Ereignis, von dem wir erst kürzlich Kenntnis erhalten haben, fand im Restaurant Strandmöwe bei Dagebüll statt, in dem man an guten Tagen Meerblick hat, allerdings nur im ersten Stock und dort auch nur im Stehen. Da beide Herren einander nicht kannten, konnte es zu dem folgenden, durchaus freundlich gehaltenen Zwiegespräch kommen.

Adorno (er hatte sich gerade einen Fischermen’s Toast mit gemischtem Salat sowie ein großes Spezi bestellt): „Ach ja! Wenn man bedenkt, daß das philosophische Denken – nach Abstrich von Raum und Zeit – weder Reste zum Gehalt hat noch generelle Befunde über Raumzeitliches …“

Heidegger (er wartete seit geraumer Zeit auf einen Hubertustopf mit Spätzle und ein Glas Bollschweiler Ölegarten): „Sie sagen es! Dabei fragen wir uns doch immer wieder, ob das Dasein nur Gewesenes im Sinne des Dagewesenen ist – oder gewesen als Gegenwärtigendes-Zukünftiges, in der Zeitigung seiner Zeitlichkeit.“

Adorno: „Eben. Wo ein absolut Erstes gelehrt wird, ist allemal, als von seinem sinngemäßen Korrelat, von einem Unebenbürtigen, ihm absolut Heterogenen die Rede; prima philosophia und Dualismus gehen zusammen. Um dem zu entrinnen…“

Heidegger: „Müssen wir uns wieder auf das aus dem Sichvorweg entnommene Phänomen des Noch-nicht besinnen. Es ist ja so wenig wie die Sorgestruktur überhaupt eine Instanz gegen ein mögliches existentes Ganzsein, daß dieses Sichvorweg ein solches Sein zum Ende allererst möglich macht. Aber, verzeihen Sie bitte, ich habe Sie unterbrochen.“

Adorno: „Das macht nichts. Je selbstherrlicher das Ich übers Seiende sich aufschwingt, desto mehr wird es unvermerkt zum Objekt und widerruft ironisch seine konstitutive Rolle. Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes, weil es Anderes immer in sich schon ist.“

Heidegger: „Leider denken ja nicht alle so wie Sie. Die meisten haben längst vergessen, daß in der einfachsten Handhabung eines Zeugs das Bewendenlassen liegt. Das Wobei desselben hat den Charakter des Wozu; im Hinblick darauf ist das Zeug verwendbar oder in Verwendung. Das Verstehen des Wozu, das heißt des Wobei der Bewandtnis, hat die zeitliche Struktur des Gewärtigens.“

Adorno: „Allerdings. Wen wundert`s da noch, daß der Gedanke, der nichts positiv hypostasieren darf außerhalb des dialektischen Vollzugs, über den Gegenstand hinausschießt, mit dem eins zu sein er nicht länger vortäuscht; er wird unabhängiger als in der Konzeption seiner Absolutheit, in der das Souveräne und das Willfährige sich vermengen. Vielleicht zielte darauf die kantische Exemtion der intelligiblen Sphäre von jeglichem Immanenten.“

Heidegger: „Meinen Sie? Ich glaube eher, daß der Umgang mit Zeug sich letztlich doch der Verweisungsmannigfaltigkeit des Umzu unterstellt. Die Umsicht bewegt sich in den Bewandtnisbezügen des zuhandenen Zeugzusammenhangs… Guten Appetit darf ich wünschen!“

Adorno: „Danke. Ihnen auch. Der mythische Bann hat sich ja säkularisiert zum fugenlos ineinandergepaßten Wirklichen. Das Realitätsprinzip, dem die Klugen folgen, um darin zu überleben, fängt sie als böser Zauber ein; sie sind desto weniger fähig und willens, die Last abzuschütteln, als der Zauber sie ihnen verbirgt: Sie halten sie für das Leben. Alles, was heutzutage Kommunikation heißt, ausnahmslos, ist nur der Lärm, der die Stummheit der Gebannten übertönt …“

Heidegger (nach einer kurzen, aber deutlich vernehmbaren Pause des Ankostens): „Hm … Was essen Sie da, wenn ich fragen darf?“

Adorno (sorgfältig kauend): „Einen sogenannten Fischermen’s Toast. Etwas pappig, aber geschmacklich erfreulich neutral. Und Sie? Sind Sie mit Ihrem…“

Heidegger: „Mit meinem Hubertustopf will ich nicht unzufrieden sein. Zumindest ahnt man, was man ißt, und weiß doch nicht …“

Adorno: „Daß eine Art Versenkung ins Detail wie auf Verabredung jenen Geist zutage fördert, der als Totales und Absolutes von Anbeginn gesetzt war.“

Heidegger: „Dabei kann die durchschnittliche Alltäglichkeit ja durchaus bestimmt werden als das verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein. Ob es aber gelingen kann, diese Strukturganze der Alltäglichkeit des Daseins in seiner Ganzheit zu erfassen?“

Adorno: „Warum nicht? Das Moment von Selbständigkeit, Irreduktibilität am Geist dürfte doch wohl zum Vorrang des Objekts stimmen. Wo Geist heute und hier selbständig wird, sobald er die Fesseln nennt, in welche er gerät, indem er anderes in Fesseln schlägt, antizipiert er, und nicht die verstrickte Praxis, Freiheit.“

Heidegger: „Dieser phänomenale Befund ist nicht wegzudeuten. Das Gewissen ruft das Selbst des Dasein auf aus der Verlorenheit in das Man. Das angerufene Selbst bleibt in seinem Was unbestimmt und leer.“

Adorno: „Unter anderem wohl auch, weil der Überschuß übers Subjekt, den subjektive metaphysische Erfahrung nicht sich möchte ausreden lassen, und das Wahrheitsmoment am Dinghaften Extreme sind, die sich berühren in der Idee der Wahrheit. Denn diese wäre so wenig ohne das Subjekt, das dem Schein sich entringt, wie ohne das, was nicht Subjekt ist und woran Wahrheit ihr Urbild hat. Unverkennbar wird reine metaphysische Erfahrung blasser und desultorischer im Verlauf des Säkularisierungsprozesses, und das weicht die Substantialität der älteren auf. Sie verhält sich negativ in jenem Ist das denn alles?, das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert.“

Heidegger (auf die Uhr blickend): „In der Tat. Sie geben mir das Stichwort. Es wird, glaube ich, Zeit …“

Adorno: „Für mich, denke ich, auch … (laut) Herr Ober, können wir bitte zahlen?“

Ober (mißmutig): „Ich hoffe doch …“

Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 17.06.2024  |  Erstellt am: 17.06.2024

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