Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 1 - Richard Windsheimer
ERINNERN SIE SICH?
An Windsheimer zum Beispiel, Richard Windsheimer, den Adorno-Schüler a.D., der sein Philosophiestudium mit dem Ausruf Genug ist genug! beendete, womit er, situationsübergreifend, recht hatte, und danach in Frankfurt, genauer: in Frankfurt-Griesheim, Am Gemeindegarten 11, ein ganz eigenartiges Etablissement, das Puppentheater Kleine Frankfurter Denker Bühne, betrieb, das durchaus eine gewisse Anerkennung fand, aber dennoch geschlossen werden musste; man weiß nicht, warum. Seither ist Windsheimer verschwunden; es heißt, er habe geerbt und sich einen alten Herzenswunsch erfüllt: Er residiere nun im nicht gerade billigen Hotel Bellevue in Davos, das früher der Zauberberg Thomas Manns war; dort warte er, Windsheimer, darauf, eine schmerzlose, stille, auszehrende Krankheit zu bekommen, die ihn so wunderbar müde und mürbe macht, daß der Tod vom fürsorglichen Schlaf nicht mehr zu unterscheiden ist. – Als Impresario seines Puppentheaters hatte Windsheimer, ein Stimmenimitator und Dialektkünstler von Rang, nur selbstgeschriebene Stücke zur Aufführung gebracht; dabei ließ er gern Frankfurter Dichter und Denker auftreten, allen voran Goethe, den er als kapriziösen, Hessisch babbelnden Beau präsentierte, dazu einen unentwegt grantelnden Schopenhauer und, als unangefochtenen Publikumsliebling, den Philosophen Theo W. Zenga, eine rundliche, gutmütig dreinblickende Figur, die Windsheimers Lehrer Adorno unverschämt ähnlich sah. Wir erinnern uns noch an die letzte oder vorletzte Vorstellung auf der Kleinen Frankfurter Denker Bühne: Goethe und Schopenhauer saßen zusammen beim Wein, während Zenga, fleißig wie immer, an einem Nebentisch hockte und seine Aphorismen-Sammlung vervollständigte. »Jajaja«, sagte Goethe, »trunken müssen wir alle sein! / Jugend ist Trunkenheit ohne Wein; / Trinkt sich das Alter wieder zu Jugend, / so ist es wundervolle Tugend. / Für Sorgen sorgt das liebe Leben / Und Sorgenbrecher sind die Reben. Prost, Prost, Kameraden!« – »Prost«, sagte Schopenhauer. »Bevor Sie weiterreden, lege ich hier, vor Zeugen, für den Fall meines Todes noch das Bekenntnis ab, daß ich die deutsche Nation wegen ihrer überschwenglichen Dummheit verachte und mich schäme, ihr anzugehören.« – »Aber, aber«, erwiderte Goethe, »wer wird denn so streng sein? Hans Adam war ein Erdenkloß, / Den Gott zum Menschen machte, / Doch bracht´ er aus der Mutter Schoß / Noch vieles Ungeschlachte.« »Wohl war«, sagte Schopenhauer, »aber der einfache Gelehrte, der gemeine Professor der Philosophie beispielsweise, sieht den originellen Kopf an wie wir den Hasen, der erst nach seinem Tode genießbar und der Zurichtung fähig ist, auf den man aber, solange er lebt, bloß schießen muß.« – »Sie sollten sich schämen«, rief Zenga da und sprang auf. »Ich selbst bin ja ein höchst anerkannter Frankfurter Professor, der im Grunde so einfach daherdachte, daß ihn niemand, außer vielleicht seine Frau, die aber auch ihre liebe Mühe hatte, verstand. Ich sage Ihnen, meine Herren: Wer liebte und Liebe verrät, tut Schlimmes nicht nur dem Bilde des Gewesenen, sondern diesem selber an. Mit unwiderstehlicher Evidenz nämlich drängt in die Erinnerung eine unwillige Gebärde beim Erwachen, ein abwesender Tonfall, eine leise Hypokrisie der Lust sich ein und macht die Nähe von einst schon zu der Fremdheit, die sie heute geworden ist.«
»Ach was«, sagte Schopenhauer, »Zenga faselt, er faselt wie immer! Vielleicht sollte ich euch lieber meinen Lieblingswitz erzählen?« – »Den kennen wir schon«, sagte Goethe, »bedenkt: Am Jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen / Und alles aus ist mit dem Erdenleben, / sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben / Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen.« – »Ich erzähl´ ihn trotzdem«, sagte Schopenhauer. »Also: Der eingebildete Philosoph Hegel ging eines Tages am Hause des wirklichen Philosophen Schopenhauer vorbei, welcher gerade aus seinem Fenster schaute. ›Guten Tag, Schopenhauer‹, rief Hegel, ›wenn ich so ein Gesicht wie Ihr hätte, würde ich lieber gleich meinen Allerwertesten aus dem Fenster hängen‹. ›Das hab ich schon gemacht‹, antwortete Schopenhauer, ›und wissen Sie was: Alle Leute haben mich gegrüßt und gerufen: Guten Tag, Herr Hegel!‹«
Wir waren damals gegangen, noch vor Ende der Vorstellung, eine merkwürdige Unruhe plagte uns, eine Ahnung wohl auch, daß es, wie unser Freund Rilke in jedem dritten Gedicht schrieb, einen Abschied gibt, dem man voran sein muß, will man nicht kläglich, d.h. ohne Erkenntniszugewinn, scheitern. Wir kamen dann noch ans Mainufer, und es war nicht festzustellen, welche Jahreszeit gerade über dem schlammfarbenen Wasser hing. Es liegt etwas in der Luft, konnte man, einfältigerweise, denken, der Frühling vielleicht mit seinen warmen Winden, seinen schräg klingenden Vogelstimmen und den abartig Sehnsüchtigen, die jedes Jahr in die Asservatenkammer der Unteren Kulturschutzbehörde weggesperrt werden und doch immer wieder zum Vorschein kommen. Oder war es bereits Sommer mit seinem hitzigen Licht, das die Staubfahnen durchdringt und derart heftig zum Leuchten bringt, daß man meint, die Vergangenheit selbst werde nun dauerhaft illuminiert? So oder ähnlich dachten wir noch, immer träger werdend, und während Papierschiffchen, von fernen besoffenen Kapitänen zu Wasser gelassen, an uns vorbeizogen, hörten wir noch Goethe auf seiner kleinen Denkerbühne murmeln: »Ja, das ist das rechte Gleis, / Daß man nicht weiß, / Was man denkt, / Wenn man denkt; / Alles ist als wie geschenkt.«
Erinnern Sie sich?
Letzte Änderung: 17.06.2024 | Erstellt am: 22.05.2024
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