Erinnern Sie sich? (An Rainer Maria Rilke)

Erinnern Sie sich? (An Rainer Maria Rilke)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F. W. Bernstein, Schöne Seele | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 3 – Rainer Maria Rilke

ERINNERN SIE SICH?

An Rilke zum Beispiel, Rainer Maria Rilke, der als Dichter am liebsten „so leicht wie ohne Namen“ lebte, jenseits der üblichen Pflichten und Exempel, was wir sympathisch finden, weshalb wir auch über seinen zweiten Vornamen nichts Nachteiliges sagen möchten, obwohl wir uns dran erinnern, dass Rilke selber damit seine Probleme hatte, weswegen er, beispielsweise, um sämtliche Marienverehrungsveranstaltungen einen Bogen machte, weil er dabei nicht selten in ein inneres Beben, eine anhaltende Rührung über sich selbst geriet; dann stiegen ihm die Tränen in die Augen, und er hörte melodischen Singsang und Lobpreisungen auch dort, wo nur normale Erfahrungs- und Befindlichkeitssätze, Dienst- und Tagesbefehle, Wetter- und Wasserstandsmeldungen sowie die üblichen Unfreundlichkeiten ausgetauscht wurden, von denen unser freudlos gewordenes Dasein nur so wimmelt. Damit, mit seinem Hang zur vorschnellen Ergriffenheit, musste er leben, Rainer Maria Rilke, der nicht nur ein höflicher, sondern auch ein wortmächtiger Dichter war, der die Mittel der Poesie so gekonnt zu handhaben wusste wie der geübte Zahnarzt den Bohrer. Einer wie Rilke geht uns heute ab, da die Poesie in einer Literatur aufgegangen ist, die sich am Neuen Markt platziert sieht, was gerade wir aber nicht zu beklagen haben, denn die Zeiten sind nun mal so, wie sie sind. Wir erinnern uns noch, wie Rilke, damals, einen seiner vielen, vielen Briefe schrieb, an dem Kunden Rilke hat die Post, damals, ordentlich verdient; im Pariser Café Humberto sitzt er, ein eher kleiner, fast verhuscht wirkender Mann, dem dennoch beträchtliche Wirkung auf alle empfindsamen und feinfühligen Frauen nachgesagt wurde, von denen es, damals schon, so viele gab, dass es allen empfindsamen und feinfühligen Männern zuviel wurde, und er schreibt, der Rilke, ein Glas preiswerten Cognac vor sich, schreibt, wobei er gelegentlich müde aufschaut und drei rötlich braune Zweige beäugt, die auf dem Tisch liegen; hatte der Wirt, besagter Humberto, ein ehemaliger Jahrmarktsringer, diese vertrockneten Zweige etwa schon bei der Gründung seines Etablissements im Mai 1904 auf dem Tisch abgestellt und gleich danach wieder vergessen, fragten wir uns, aber es stellte sich ja dann wohl heraus, dass sie ein Geschenk, ein Souvenir von Rilkes Frau Clara waren, die bei Worpswede in der Heide wohnte und sich so lange als einsame Bildhauerin betätigte, bis es für sie nichts mehr zu bilden und zu hauen gab. Rilke, ein erschöpfter Poet, bedankt sich, was indes kein gewöhnlicher Dank ist, sondern Briefpoesie in Reinform, die alles verwenden, verwerten, verdichten kann, womit schon gesagt ist, dass der wahre Dichter immer auch ein Recycling-Künstler sein muss, der allenfalls etwas vergessen, aber nichts wegwerfen darf, weswegen die braunen, grünen und blauen Tonnen seiner Dichterseele stets fein säuberlich leer bleiben müssen. »Niemals hat mich Heide so gerührt und beinahe ergriffen«, lasen wir damals in Rilkes Brief, wir durften ihm ja, freundlicherweise, ein wenig über die schmale Dichterschulter schauen, »und seither liegen sie in meinem Buch der Bilder und durchdringen es mit ihrem starken ernsten Geruch, der eigentlich nur der Duft herbstlicher Erde ist… Aber vermutlich macht mich auch der überstandene Stadtsommer so empfänglich für die Pracht der Heidestücke, die aus dem Aufwand des nördlichen Jahres stammen. Man hat wohl nicht umsonst so einen Zimmersommer durchgemacht, wo man untergebracht ist wie in der kleinsten von jenen Schachteln, von denen immer eine in die andere passt, – zwanzigmal. Lieber Gott: Was hab ich voriges Jahr gewirtschaftet; Meere, Parke, Wald und Waldwiesen; meine Sehnsucht nach alledem ist manchmal unbeschreiblich. Jetzt, da es hier schon mit dem Winter droht. Schon fangen die Dunstmorgen und Abende an, wo die Sonne nur noch wie die Stelle ist, wo früher die Sonne war, und wo in den Parterres alle die Sommerblumen, die Dahlien und großen Gladiolen und die langen Reihen der Geranien den Widerspruch ihres Rots in den Nebel schreiben. Mich macht das traurig. Es bringt trostlose Erinnerungen herauf, man weiß nicht, warum; als ginge des Stadtsommers Musik mit einer Dissonanz aus, mit einem Aufstand aller Noten; vielleicht nur, weil man das alles schon einmal so tief in sich hineingesehen und gedeutet und mit sich verbunden hat.«
Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 08.07.2024  |  Erstellt am: 17.06.2024

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