Erinnern Sie sich? (An Lili Schönemann)

Erinnern Sie sich? (An Lili Schönemann)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F. W. Bernstein | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 10 – Lili Schönemann

ERINNERN SIE SICH?

Sehr geehrter Herr B. Sie haben in den letzten Wochen, dankenswerterweise, aber letztlich erfolglos, an meinem Krankenbett gesessen und mir vorgelesen. Von Goethe und seiner zauberhaften Verlobten Lili Schönemann lasen Sie mir vor, auch von anderen Geistesgrößen, neben denen man sich, zu Recht, klein und hässlich fühlt. Aber nicht allein deswegen bin ich den Weg alles Irdischen zu Ende gegangen: Wenn Sie diese Zeilen überfliegen, bin ich tot, worüber Sie nicht traurig sein müssen, es geht mir da, wo ich hinkomme, besser als hier. Auf jeden Fall wird es keine Klinik mehr sein, in die man mich steckt, und man hält mich, da alles entschieden und widerlegt ist, auch nicht mehr für bekloppt. Sie haben sich Mühe mit mir gegeben, nach anfänglichem Widerstreben. Aber es war, als würden wir zwangsweise zusammengespannt, und das hat uns gut getan. Die Macht, die dahinter steckt, ist m.E. Lili gewesen, weniger der Herr Goethe. Der war, glaube ich, zur Liebe nicht wirklich befähigt. So wie ich lange Zeit zur Liebe nicht wirklich befähigt war. Bis ich meine Lili traf. Sie hat meine Gefühle nicht recht verstanden, damals, übte sich in einer Strenge, die sie, wie mir erst hinterher klar wurde, von mir hatte, denn ich war auch streng, ein beruflicher Leisetreter, der sich durch strikte Anpassung an eine vorhandene Hierarchie, die er allenfalls in seinen wüsten Träumen in Frage stellte, zu profilieren und zu beweisen suchte. Das musste schief gehen, und die Liebe hat darunter gelitten, blieb nur ein schwaches Licht. Erst hier, als Sie mir vorgelesen haben, in einem Augenblick strengster Beruhigung, der mir eine wunderbare, längst verloren geglaubte Erinnerung erschloß, hat sich diese Liebe doch noch verwirklichen dürfen, und dafür bin ich dankbar! Ich habe darüber ein Gedicht gemacht; lachen Sie nicht: Ich war nicht immer ein dumpfbackiger Karrierist und Streber, sondern es gab eine Zeit, sie währte leider nicht allzulange, in der ich mich als Dichter betätigte, und ich meine, es hat schlechtere Dichter gegeben in unserem Land. Dieses Gedicht, mein letzter Wurf auf Erden, ist Lili gewidmet – und ein klein wenig auch Ihnen, Freund, der Sie, vermutlich ohne es zu wollen, zu meinem Erinnerungsgräber geworden sind, dem ich ein nachgereichtes Liebeserlebnis verdanke, wie es sich inniger und passender kaum vorstellen lässt … Machen Sie’s gut, mein Bester, und gehen Sie behutsam mit sich um! (Ich habe, während Sie mir vorlasen, manchmal die Vermutung gehabt, dass in Ihnen eine Krankheit schlummert, die nirgendwo, schon gar nicht in der hiesigen Anstalt, zu therapieren ist. Eine solche Krankheit wird man nur los, wenn man sich selbst los wird, aber wie soll das gehen -. )

Für Lili

Keinen Schimmer hatte ich, als meine Reise zu
Ende ging, und doch hatte ich so viel erfahren.
In das Abendlicht kam ein Glanz Punkt aus Blau.
Ich schlief ein im Stehen, hörte Stimmen
Von weit her, Lili, von früher, kein Luft Zug, mein
Herz schlug, als müsste es mich wecken. Der Wind
Kam zurück, Lili, Trauer und Freude, der eingebrannte
Bildstock, vom Glück gibt es nichts zu berichten und
Genau das ist mein Glück. Noch einmal flog ich hinauf
Zu dir, Lili, ohne dich zu berühren, der eine bedachte
Augenblick, ich sah ihn wie der Märchenonkel:
Die Sonne stand wie ein schimmernder Altar
Dort draußen, wo Himmel und Meer sich begegnen
Alles zerschmolz in glühenden Farben. Der Wald sang
Und das Meer sang, und mein Herz sang mit, die ganze
Natur war eine große heilige Kirche, darin Bäume und
Segelnde Wolken die Pfeiler waren, Blumen und Gras
Die gewobene Samtdecke und der Himmel selbst die
Kuppel, Lili, dort oben erloschen die roten Farben als
Die Sonne versank, und der Königssohn breitete seine
Arme dem Himmel entgegen. Später, Lili, viel später
Als meine Träume traumlos wurden, war nur noch
Das Rauschen der Wälder in der Nacht.

P.S.: Man sollte mit der Liebe nicht sorglos umgehen, das hat sie nicht gern. Darauf kommt man aber erst später, manchmal sogar: zu spät. Folgen Sie dem Rat eines alten Mannes, der, alles in allem, dann doch wohl zu früh gestorben ist: Stellen Sie sich Ihrer Liebe, Herr B., als stünden Sie im Fadenkreuz. Auf Sie darf geschossen werden! Nur wer bereit ist, sich aufzugeben, wird mit dem Licht einer wunderbaren Einsicht belohnt.

Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 20.11.2024  |  Erstellt am: 17.06.2024

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