
Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 16 – Friedrich Heinrich Jacobi
ERINNERN SIE SICH?
Man kann sich das heute wohl nicht mehr so recht vorstellen: dass es, damals, tatsächlich ein Leben gab ohne Hektik, ohne Computer, Radio, Fernsehen und Telefon, ein Leben ohne nervös flimmernde Bildschirme und manipulierte Daseinsvorsorge, ein Leben – in Ruhe. Die Menschen redeten noch miteinander; sie redeten sogar unermüdlich: über Gott und die Welt, über Liebe und Leid, über all das Großartige und Bedenkliche zwischen Himmel und Erde. Die Zeit, in der dieses geschah, brachte vor allem die Philosophie zu ihren vorläufig vorletzten Blütenträumen; sie machte, von eigenen Gnaden, noch einmal Furore, weil sie das Allerselbstverständlichste, das Ich nämlich, neu entdeckte: Ihm wurden nun so unendlich viele Möglichkeiten zugeschrieben, dass man aus Anmaßung und Staunen, aber eben auch aus den Gesprächen gar nicht mehr herauskam. Beeindruckende Debatten waren zu führen, an denen sich nicht nur, wie eh und je, Dichter und Denker beteiligten, sondern auch Praktiker des damaligen Wirtschaftslebens wie etwa der Düsseldorfer Handelsherr Friedrich Heinrich Jacobi, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, auch als Philosoph und Schriftsteller, ein bekannter Mann in deutschen Landen war. Jacobi kann als Modellfall für eine Gesprächskultur gelten, die heute, mehr oder weniger, der Verdrängung anheimgefallen ist. Jacobis Landsitz Pempelfort bei Düsseldorf, ein großzügig gestaltetes Anwesen, wurde zu einer Art Privatakademie, in der illustre Gäste aus ganz Europa zu Gast waren.
Von der Atmosphäre, die dort herrschte, schwärmte sogar Goethe; im Jahr 1792, nach einem mehrwöchigen Aufenthalt bei den Jacobis, schrieb er: “Ein freistehendes, geräumiges Haus, in der Nachbarschaft von weitläufigen wohlgehaltenen Gärten, im Sommer ein Paradies, auch im Winter höchst erfreulich (…), ohne Prunk ausgestattet, eine würdige Szene jeder geistreichen Unterhaltung (…). Ein großes Speisezimmer, zahlreicher Familie und nie fehlenden Gästen geräumig, heiter und bequem, lud an eine lange Tafel, wo es nicht an wünschenswerten Speisen fehlte. Hier fand man sich zusammen, der Hauswirt immer munter und aufregend, die Schwestern wohltuend, die Tochter wohlgebildet, tüchtig, treuherzig und liebenswürdig. Es gab Abende, wo man nicht aus dem Lachen kam.“
Jacobi verstand es, seinem Leben die wesentlichen Vertrautheitsmomente zu belassen. Als es, nach Phasen der Bewegtheit, auch der äußeren Rückschläge, im Alter zur Ruhe kam, griff er auf seine Erinnerungen zurück; sie gaben ihm Halt und Besinnung in spröder gewordener Zeit. Die Dichterin Bettine von Arnim, die den alten Jacobi besuchte, berichtete in einem Brief an Goethe: „Jacobi ist zart wie eine Psyche. Mitteilung ist sein höchster Genuß; er appelliert in allem an seine Frühlingszeit. Jede frisch aufgeblühte Rose erinnert ihn lebhaft an jene, die ihm zum Genuß einst blühten, und indem er sanft durch die Haine wandelt, erzählt er, wie einst Freunde Arm in Arm sich mit ihm umschlangen in köstlichen Gesprächen, die spät in die laue Sommernacht währten, und da weiß er noch von jedem Baum in Pempelfort, von der Laube am Wasser, auf dem die Schwäne kreisten, von welcher Seite der Mond hereinstrahlte auf reinlichen Kies, wo die Bachstelzen spazierten: Das alles spricht aus ihm hervor wie der Ton einer einsamen Flöte; sie deutet an: der Geist ist noch hier; in ihren friedlichen Melodien aber spricht sich die Sehnsucht zum Unendlichen aus. Seine höchst edle Gestalt ist zerbrechlich; es ist, als ob die Hülle leicht zusammensinken könne, um den Geist in die Freiheit zu entlassen.“
Erinnern Sie sich?
Letzte Änderung: 07.04.2025 | Erstellt am: 07.04.2025
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