
Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
Nr. 25 - Hölderlin
Es war noch einmal ein erstaunlich schöner Herbsttag geworden. Die Sonne, deren Zeit zu Ende ging, war ein schmerzlich klares Licht, das von den Fensterfronten der Häuser zurückgegeben wurde. Wer es aufnahm, als Einzelgänger etwa oder auch nur als betrachtungswütiger Flaneur, mußte die Augen zusammenkneifen, so grell und unvermittelt kam ihm das Licht vor. Ein solcher Herbsttag paßte eigentlich nicht mehr ins Bild, denn es war ja, verhieß der Kalender, Winter angesagt, der die Kälte der Tage bringen sollte, die Hölderlin längst verinnerlicht hatte. Die Jahreszeiten stellen sich quer, dachte er, das soll ja, wenn man zeitgenössischen Bedenkenträgern Glauben schenken darf, von nun an so bleiben und womöglich zu einem Kennzeichen der Moderne werden, welche dem Menschen droht. Vielleicht wird das der Ernst des Lebens sein, mit dem die Zukünftigen umzugehen haben, eine nahezu unbemerkte, diebesvergnügliche Unterwanderung aller bisherigen Gesetzmäßigkeiten; die Inthronisation des Ungewohnten und, daraus abfolgend, der despektierliche Umgang mit dem Gewohnten.
Hölderlin befand sich auf einem Spaziergang am Neckar. Er setzte sich auf eine Bank. Vom Fluß her, der leicht faulig roch, wehte ein kühler Wind; der Dichter fröstelte, auch das war nichts Neues. Am Ufer machten sich Enten zu schaffen, ein Schwan, der seine Hoheitsgewässer zu bewachen schien, äugte drohend zu ihm herüber. Schon gut, dachte Hölderlin, von mir haben Sie nichts zu befürchten, mein lieber Schwan. Ich halte es mit der Macht der Poesie, die sich einen Jux machen will und inzwischen für ein Trauerspiel angesehen wird. Mit den Dichtern ist kein Staat zu machen, sie bewundern die Toten und nehmen’s von den Lebendigen.
„Gestatten Sie?“ hörte Hölderlin auf einmal eine Stimme. Vor ihm stand ein feingekleideter Herr, der ihn freundlich anlächelte. „Gestatten Sie?!“ wiederholte er. „Ich würde mich gern zu Ihnen setzen.“ „Wenn’s denn sein muß“, sagte Hölderlin, „an sich bin ich lieber allein.“ „Dazu haben Sie immer noch Gelegenheit“, meinte der Mann. Er holte ein Taschentuch hervor und säuberte den von ihm auserwählten Sitzplatz, auf dem er sich vorsichtig niederließ. Ein vornehmer Mensch, dachte Hölderlin, er will sich nicht schmutzig machen, aber sicher hat er auch seine schmutzigen Gedanken. „Was wissen denn Sie!?“ sagte der Mann. Hölderlin sah ihn erstaunt von der Seite an. „Nichts“, murmelte er, „vermutlich weiß ich nichts. Da geht es mir wie den meisten andern. „Dabei kann man durchaus mehr wissen, als allgemein für möglich gehalten wird“, sagte der Mann. „Erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Findeisen, ich bin Bankier.“ „Macht nichts“, erwiderte Hölderlin, „Sie müssen sich nicht entschuldigen.“ „Haben Sie je über die Zukunft nachgedacht, mein Herr?“ fragte Findeisen, ohne eine Miene zu verziehen. „Gelegentlich“, sagte Hölderlin, „wenn es sich nicht vermeiden ließ. Die Vergangenheit jedoch erschien mir stets ergiebiger.“
„Unsinn!“ rief Findeisen. „Verzeihen Sie, aber das ist wirklich Unsinn. Unser Mögliches liegt ausschließlich in der Zukunft. Die Vergangenheit gehört den Toten.“ „Also uns allen“, sagte Hölderlin, „denn wir sterben bei lebendigem Leibe, jeden Tag ein kleines Quäntchen mehr.“ Findeisen schüttelte den Kopf. „Sie reden, mit Verlaub, etwas wirr“, sagte er. „Kann es sein, daß Sie ein Dichter sind? Oder gar Philosoph?“ „Kann sein“, sagte Hölderlin, „kann aber auch nicht sein.“ „Die Gegenwart dient der Zukunft“, erklärte Findeisen, “die Zukunft aber wird dem Gelde gehören!“ „Gut für Sie“, sagte Hölderlin. „Ihr Gewerbe hat zu allen Zeiten die besten Möglichkeiten gehabt.“ „Was heißt gehabt?“ sagte Findeisen. „Wir haben sie immer noch. Die Stadt der Zukunft wird von den Palästen des Geldes geprägt sein. Riesige Hochhäuser werden an einem klein gewordenen Horizont stehen. Und die Menschen …“ – „Ach, Menschen gibt es auch noch?“ sagte Hölderlin. „Dann bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon, es würde alles ganz anders.“
„Mein Herr“, sagte Findeisen streng, „mit der Zukunft treibt man keine Scherze. Sie erhebt Anspruch auf das Pfund, mit dem wir wuchern. An der Zukunft hängt unseres Lebens ausschließliche Erwartung. Ich glaube allerdings, daß Sie nicht recht verstehen, was ich meine … Sie scheinen mir eher schlichteren Gemüts zu sein!“ „Wohl wahr“, sagte Hölderlin. „Seien Sie nachsichtig mit mir. Nicht jeder kann ein Bankier und Vertrauter der Zukunft sein.“ „Mein Herr“, sagte Findeisen. „Ich will Ihnen beileibe nichts Arges. Was ich Ihnen verdeutlichen möchte, ist nur, daß im Geld unsere Zukunft liegt. Das Geld macht alles!“ „Ihre Botschaft habe ich wohl verstanden“, sagte Hölderlin und erhob sich. „Allein mir fehlt der Glaube. Was immer nämlich das Geld für uns macht, es wird weniger sein als das, was die Menschen fürs Geld machen! Leben Sie wohl, Herr Bankier. Ich wünsche uns allen eine gewinnträchtige Zukunft!“
Wenn er hinüberschaute zu den sanft ansteigenden Bergen, die sich um diese Zeit, trotz ihrer nicht überragenden Höhe, schon mal in Wolken verloren, stiegen ihm Tränen in die Augen. Er stand neben sich, so kam es ihm vor, ein noch junger Mann mit altersschwerer Bürde. Warum nur diese Traurigkeit, er hatte bislang doch nicht mehr getan, als seines Lebens Pflichten abzuleisten; nach bestem Wissen und Gewissen. Er fror im Sommerwind, auch die Blumen und Gräser schon gebeugt, das Summen der Bienen, wenn man nur ergeben genug lauschte, wurde bereits drohend. Einst hatte er gehofft, wie viele Jahrhunderte war das her, im Denken das Sein zu arretieren, hochachtungsvoll und in Ansehung seiner selbst; der Geist, aus einem Ich geboren, um dann, fortschreitend und notwendig, größenwahnsinnig zu werden, sollte sich als Reflexionselixier behaupten, das die Gegensätze anerkennt, bis sie sich aufgegeben haben und nur noch wissender Grund sind, der die Einverständigkeit fordert. Die Hoffnung hatte getrogen, sein Denken, obwohl versuchsweise vom Herzen befeuert, war in sich eine kalte Registratur. Noch immer ahnte er, was der innige Moment sein kann, in dem der Mensch bei sich selbst ist; er gleicht darin dem zufriedenen Tier – mehr ist nicht, mehr kann nicht sein im Areal hiesiger Vernunft, die auf Eigenleistung beruht, nicht auf göttlicher Eingabe.
Da war dann seine Sehnsucht zurückgekehrt, jenes schmerzlich schöne Instrument, das in seiner Seele spielte, wo und wann es wollte. Es war nicht darauf angewiesen, daß man sich seiner annahm – es spielte für sich, ganz allein. Seinen wundersamen Klänge hatte er gelauscht, bis er erneut an die Philosophie geriet, die sich damals aus äußerer Beengtheit erhob und ein Terrain oberhalb der gewöhnlichen Welt errichtete, auf dem man alles wie zum ersten Mal sah, ein unwirkliches, aus Geist und Gedächtnis angereichertes Gesamtpanorama, das seine realen Entsprechungen nur noch über den Begriff nachstellte. Ich und Ichheit wollte Hölderlin, da er sich, vorübergehend, als philosophischer Baumeister betätigte, unter einem Dach vereinen, keinem gewöhnlichen Dach, sondern einem Kunstwerk, das wärmte und schützte, die Stürme des Lebens abhielt und nur das ursprüngliche Licht einließ, auf daß alle Räume, es waren unendlich viele, von der Helle durchflutet wurden. Ach, es wäre ein unglaubliches Geschenk gewesen, in diesem Haus zu wohnen, aber dann begriff er, daß er auch dort nur allein gelebt hätte; für sich. Aus seinem Kopf kam er nicht heraus. Als Trauer und Sehnsucht zurückkehrten, verdüsterte sich das helle Haus, in unmerklicher Annäherung; eine fremde, zuvor noch nicht wahrgemachte Stille legte sich um ihn, schnürte ihn ein, und es schien ihm, als rollte sein verselbständigter Kopf, der nun entbehrlich und abgetan war, durch leere Räume, eigentlich ein Spielball für ihn, mit dem er jedoch nicht mehr spielen mochte – nun wurde es ernst.
Von da an blieb die Sehnsucht bei ihm wie eine fremd gewordene Vertraute; sie war unversöhnlicher als früher, fast konnte man meinen, daß sie sich, vom Widerstand enttäuscht, den sie erfahren hatte, und innerer Not gehorchend, nur noch auf sich selbst besann. Hölderlin wurde zwangsrekrutiert; die Sehnsucht war in ihm, ließ nicht von ihm ab, auch wenn er glücklich zu sein glaubte wie in der Liebe, die nicht gelingen konnte, nicht – auf Dauer. Noch immer hielt Susette sein Herz besetzt, aber er war schon, bei aller Liebe, über sie hinaus. Auch über sein eigenes Leben war er schon hinaus: Zuletzt hatte er sich öfter sein Sterben ausgemalt, es glich einem Schlaf mit mildem Vergessen; mehr wollte er nicht vom Tod, nur Ruhe und Hausverbot für sein Denken, das ein unseliger Totengräber war, den man des Friedhofs verwiesen hatte. So gab er keinen Frieden, der Totengräber, war lange am Werk, in seinem geplagten Kopf, für sein unverständliches Geschäft brauchte er keine Toten mehr, er durchwühlte alles, heiligen und unheiligen Boden, alte Naturschutzgebiete und neu ausgewiesenes Bauland, sogar in den Inneren Bezirk drang er ein, mit mechanischen Bewegungen, er war zur Maschine geworden; wenn er anrückte, drehten sich die Insassen im Grabe um, und die noch Lebenden, eigenartig fasziniert, wandten sich mit Grausen.
Hölderlin schaute zu den grünen Bergen, die nun frei standen. Die Sonne blendete, es war sehr warm. Er stieg über einen Weidezaun, legte sich ins Gras, schloß die Augen. So konnte er sehen, was nicht zu sehen war, den ganzen, ausschließlichen Himmel nämlich, jeden Winkelstern, unzählige fahle Monde, die nun Kolonien der Abberufenen waren, mit denen man göttlicherseits, auch wohl aus einer gewissen Vergeßlichkeit heraus, nichts mehr anzufangen wußte, zumal es ja noch die eigentliche, früh eingerichtete Heimat der Seelen gab, ein ehemals paradiesisches Gelände, in dem man, gewöhnt noch an irdische Zuwendung, darauf wartete, daß etwas geschieht. Wer jedoch gestorben ist und geadelt wird zur freischwebenden Seele, darf darauf nicht hoffen; es gibt keine Bestandsgarantie, keine Zugabe. Hölderlin lächelte. Er hatte, trotz Trauer und Sehnsucht, einen kindlichen Spaß am absolut Unbegreiflichen. Jemand kitzelte ihn mit einem Grashalm. Eine leise Stimme hörte er, ganz nah; warum flüsterte sie so, seine Liebe, sie waren doch unbesehen an diesem Ort, und wie es um Liebende steht, weiß ohnehin jeder. –
Eine Erinnerung, nur eine, dann war’s das wohl. Zurück also zu den sanft aufgeschwungenen Bergen, zu Wäldern und Lichtungen, auf denen man manchmal dachte, man bekäme was eingeflüstert, aber dann kam nichts, und es war dennoch schön. Tatsächlich leuchteten die Wälder, jetzt, das sah er, unbe¬wegt, von seiner Bettstatt aus; ein Glanz hatte sich erhoben, einschmeichelndes Licht, das zwischen den Baumstämmen zu verharren schien, Wind ging dazu, der ihn, wohlmeinend, an das erinnerte, was er sich zurechtge¬legt hatte. War das nicht eine fast feierliche Stimmung, die man sogar mit Tränen begrüßen durfte, Tränen der Einsichten und der Gewißheit, eine erhebende Stimmung, schon ging’s ihm besser; das Vergangene blieb ja, blieb gegenwärtig, und die Zukunftsmusik, sie wurde wieder und wieder gespielt, ein nicht totzukriegendes Rührstück, an dem so viele Her¬zen hingen; er lachte, mußte lachen, auch wenn das seinem Magen mißfiel – in der Schönheit dieser Nacht.
Es war still, nur der Wind rauschte, und über dem gewöhn¬lichen Himmel, der nun aufgerissen war, tat sich ein zweiter Himmel auf, sternenübersät, ein wahrhaftiges Firmament, mächtig aufgedonnert, so daß man die schlechte Ewigkeit, bis auf weiteres, vergessen konnte und sich stattdessen eine solide, eine grundsolide Ewigkeit vorstellte. Er kehrte um; ver¬fehlte, vielleicht auch verlorene Stimmung, sein Gespür. Im¬merhin tat der Himmel ein übriges, er gab nach, noch in die¬ser, nicht mehr so ganz feierlichen Nacht gab er nach, machte sich flach, vor der eigenen Größe flach; kannte man schon, und das Rauschen des Winds wurde zum zögernden, fast lach¬haften Wimmern. Er nahm das als Zeichen; durch die rau¬schende Nacht also zurück auf sein Lager, die Angelegenheit war geregelt, ein Fall für den himmlischen Beistandsdienst. Der kam dann auch, war aber nicht himmlisch, sondern irdisch, ja noch schlimmer: akademisch, und ein seltsam vierschrötiger Mann, der fast genauso breit wie hoch war, eine seltsame Schwarzwälder Tracht trug und ihm bekannt vorkam wie einer, der einem schon länger nachgestiegen ist, obwohl man ihn erst später, viel später kennenlernen muß, was dann keine reine Freude mehr ist, beugte sich zu ihm herab.
»Die Vor¬teile, tot zu sein, Herr Hölderlin«, flüsterte der Mann, »sie sind beträchtlich. Ich selbst habe das leider erst etwas spät festgestellt und konnte daraus keinen Nutzen mehr ziehen. Keiner kümmert sich mehr um uns, wenn wir tot sind, keiner, wobei Angehörige und ehrenhaft Trauernde nicht zählen. Es ist ganz einfach und läßt sich, mit ein bißchen Übung, schon zu Lebzeiten bewerkstelligen: Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen – und den letzten Rest Kraft auf das Zuschauen verwenden! Ein herrlicher Friedfertiger werden Sie sein, Herr Hölderlin, auf immer und ewig, nichts entgeht Ihnen, wie auch mir, der ich mich Ihnen, ohne daß Sie es merkten, ungefragt angeschlossen habe, nichts mehr entgeht; denken Sie nur; Herr Hölderlin, Sie und ich, die wir, vorwiegend auf mein Betreiben, zusammengefunden haben, wir sind die unsichtbaren Zuschauer.”
Erinnern Sie sich?
ERINNERN SIE SICH?
Letzte Änderung: 22.08.2025 | Erstellt am: 09.07.2025
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