Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 11 – Kleist
ERINNERN SIE SICH?
Das moderne Krisenbewußtsein, das wir uns zu eigen gemacht haben, schätzt die Zerrissenheit: Ein Mensch, der nicht behäbig in sich selber ruht, sondern sich als zerrissen empfindet, durchjagt von den zwiespältigsten Gefühlen und Gedanken, gilt als sensibel. Er zeigt sich betroffen, auch wenn ihn manches gar nichts angeht; am Zustand der Welt und der Gesellschaft leidet er geradezu vorbildlich. Vielleicht liegt die Zerrissenheit des Menschen aber auf dunklem Terrain begründet, in der menschlichen Seele, die ein übersensibles, für die Verzweiflung besonders empfängliches Erkenntnisinstrument ist. Insgesamt allerdings muß einem die moderne Zerrissenheit gar nicht so modern vorkommen; jede Zeit hat ihre Moderne, hat Künstler, die, bis zum Überschwang leidensbereit und von der Welt unverstanden, an sich selber zu Grunde gehen. Der Dichter Heinrich von Kleist war so ein Mensch; sein Leben glich einem Bühnenwerk, das mit hohem Anspruch und kühnen Entwürfen begonnen wird, aber schon nach den ersten Bildern den Unmut eines verwöhnten Publikums hervorruft. Kleist (1777 – 1811) stammt aus einer altadligen Offiziersfamilie, eigentlich ist seine Laufbahn vorgezeichnet: Er soll Offizier werden. 1792, im vergleichsweise zarten Alter von 15 Jahren, tritt er in das Potsdamer Garderegiment ein, 1797 wird er Leutnant. Der militärische Drill fällt ihm schwer, er beginnt in aller Vorsicht zu zweifeln.
Die Welt besteht nicht nur aus Kriegsspiel und Pflichterfüllung, sie kann auch, als Landschaft beispielsweise, aus der man sich für einen langanhaltenden Moment nur die Menschen wegdenken muß, vorbehaltlos schön sein. Eine erste Ahnung davon bekommt der junge Kleist ausgerechnet bei der Belagerung des französisch besetzten Mainz, an der auch Goethe teilnimmt, der, wie seine Aufzeichnungen verraten, allerdings schon damals im Dienste breit hingelagerter Eigeninteressen steht und den militärischen Umständen wenig, seinem privaten Beobachtungen dafür um so mehr abgewinnen kann. Der junge Kleist indes sieht sich von einer Landschaft inspiriert, die wenig von sich hermacht, bei besonderem Licht aber unverwechselbar anmutet und zukunftsverführisch wird. Das Bild, das sich daraus ergab, konnte er auch noch nach Jahren abrufen: „Das war damals die üppigste Sekunde in der Minute meines Lebens! Sechzehn Jahre, der Frühling, die Rheinhöhen … War die Anlage nicht günstig, einen großen Eindruck tief zu begründen?“ Aus einem solch verschwörerischen Moment läßt sich viel herleiten: Die Zukunft, freigiebig beglänzt, liegt vor einem, sie wird sich, ist man in diesem Moment überzeugt, so erkenntlich zeigen, wie man es glaubt zu verdienen. Allerdings sind die Augenblicke des schönen Scheins nicht von langer Dauer, sie neigen dazu, sich zu verflüchtigen, und vor der Realität geben sie, besonders wenn diese vereinnahmend und belastend wird, schnell klein bei.
Was von ihnen bleibt, ist auf Erinnerung angewiesen, der Kleist, gerade weil sie sich als eigenwillig und unzuverlässig erweist, auch nach Jahren noch gerne Gehör schenkt: „Damals entwickelten sich meine ersten Gedanken und Gefühle. In meinem Innern sah es so poetisch aus wie in der Natur, die mich umgab. Mein Herz schmolz unter so vielen begeisternden Eindrücken, mein Geist flatterte wollüstig, wie ein Schmetterling über honigduftende Blumen, mein ganzes Leben ward fortgeführt von einer unsichtbaren Gewalt , wie eine Pfirsichblüte von der Morgenluft. – Mir war’s, als ob ich vorher ein totes Instrument gewesen wäre und nun, plötzlich mit dem Sinn des Gehörs beschenkt, entzückt würde über die eigenen Harmonien.“ Eine solche Begeisterung kann nur so lange anhalten, wie es die Umstände zulassen, die sich in der Regel aber als wenig begeisterungsfördernd erweisen. Kleist gelang es jedoch, das Belagerungsgeschehen rund um Mainz auszublenden und sich stattdessen ein Standbild auszudenken, das verfügbar blieb, auch wenn es sich mit der Zeit immer mehr verlor. Die Betrachtungsweise, die ihm zu Grunde lag, war der einer erhöhten Aussicht, für die sich sogar, wenn man denn schon einmal beim Ausschmücken war, göttliche Beaufsichtigung und Gewähr hinzudichten ließ: „In der Tiefe liegt Mainz, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters.
Der Krieg war aus dieser Gegend geflohen, der Friede spielte sein allegorisches Stück. Die Terrassen der umschließenden Berge dienten statt der Logen, Wesen aller Art blickten als Zuschauer voll Freude herab und sangen und sprachen Beifall. – Oben in der Himmelsloge stand Gott. Hoch an dem Gewölbe des großen Schauspielhauses strahlte die Girandole der Frühlingssonne, die entzückende Vorstellung zu beleuchten. Holde Düfte stiegen, wie Dämpfe aus Opferschalen, aus den Kelchen der Blumen und Kräuter empor. Ein blauer Schleier, wie in Italien gewebt, umhüllte die Gegend und es war, als ob der Himmel selbst hernieder gesunken wäre auf die Erde …“
1799 quittiert Kleist den Militärdienst, der ihm, bezogen auf Stand und Karriere, immerhin eine gewisse Sicherheit gebracht hatte, und immatrikuliert sich an der Universität Frankurt (Oder). Er erhofft sich davon verläßliches Wissen und Erkenntnisse, die man nicht andauernd in Frage stellen muß, aber stattdessen wird alles noch viel unsicherer als zuvor, was nicht nur an den Studienfächern liegt, sondern auch mit Kleists Veranlagung zu tun hat: Der schöne Schein aufkommender Selbstgewißheit ist ihm verflogen, seine Zweifel, oft schon gefährlich nah an der Verzweiflung, für die er ohnehin besonders empfänglich zu sein meint, haben wieder die Oberhand gewonnen. An seine Lieblingsschwester Ulrike schreibt er: „Ach, ich passe mich nicht unter die Menschen, es ist eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht.“ Das beruht auf Gegenseitigkeit: auch seine Zeitgenossen wissen mit Kleist meist wenig anzufangen, er kommt ihnen gehemmt vor, scheint in undurchdringlichen Grübeleien befangen, von denen er, wenn überhaupt, nur stockend zu berichten vermag.
So werden ihm gesellschaftliche Auftritte schnell zur Qual: „Die Notwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwillen dagegen machen mir jede Gesellschaft lästig, und froh kann ich nur in meiner eigenen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein, und keiner ist es. – Ach, es gibt eine traurige Klarheit, mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund – sie zeigt mir Alles, was mich umgibt, und mich selbst in seiner ganzen armseeligen Blöße, und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit.“
Kleist ist auch deswegen gehemmt, weil sich ihm als angehendem Schriftsteller ein denkbar ungünstiger Verdacht aufdrängt: Die Sprache, das Handwerkszeug des Dichters, taugt wohl zu gelegentlichen Höhenflügen und manch bemerkenswerten Sonderleistung; ansonsten aber ist sie kaum mehr als ein Verständigungsmittel mit eingeschränkten Möglichkeiten. In die Tiefe gelangt Sprache nur selten: „Sie kann die Seele nicht mahlen, und was sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke.“
Der Student Heinrich von Kleist beginnt sein Studium nicht gerade hoffnungsfroh; er sieht sich, noch bevor es richtig losgeht, bereits als unglückliche Figur, die am Ende bestenfalls viel unbrauchbares Wissen zusammengetragen hat und damit so schlau ist wie zuvor. „Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maulwurf in ein Loch zu graben und Alles Andere zu vergessen. Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere, und wenn ich eine vorziehe, so ist es nur wie einem Vater immer derjenige von seinen Söhnen der liebste ist, den er eben bei sich sieht. – Aber soll ich immer von einer Wissenschaft zur andern gehen, und immer nur auf ihrer Oberfläche schwimmen und bei keiner in die Tiefe gehen? Das ist die Säule, welche schwankt.“
Beruhigung für sein zweifelndes Gemüt erhofft sich Kleist vom großen Philosophen Kant, aber da gerät er an den Falschen: Kant hat mit seinen philosophischen Kritiken zwar das Erkenntnisfundament des Menschen neu abgesteckt, das dadurch aber noch lange nicht sicheres Terrain wird, im Gegenteil. Kleist muß feststellen, daß Kant ein Sicherheitsberater ist, der keine Sicherheiten kennt, es sei denn, man bewegt sich auf zulässigem, d.h. für den Verständnisverkehr ausgewiesenen Gelände. Diese Erkenntnis macht ihm zu schaffen, seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge schreibt er: „Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich.“ Tatsächlich hat Kant, von seinen Zeitgenossen auch „der Alleszermalmer“ genannt, Kleists Weltsicht in ihren Grundfesten erschüttert. Die waren zwar vorher schon einigermaßen wacklig, zumindest was ihre innere Wartung anbetraf, für die Kleist selbst zu sorgen hatte, dem seine Zweifel inzwischen zum Dauergast geworden waren. Darüber hinaus jedoch, bei der Betrachtung und Bewertung des äußeren Wirklichkeitsgeschehens, schien es durchaus eine gewisse Verläßlichkeit zu geben, die auf Erfahrungswerten und Wiedererkennung beruhte.
Auch davor macht Kant jedoch nicht halt, so daß sich Kleist, noch bevor ihm Freigang gewährt wird, in das Gefängnis des eigenen Ich zurückgeworfen sieht: „Wenn Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihnen ihr Auge die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns in das Grab folgt, ist vergeblich.“ Kleist ahnt, daß diese Einsicht möglicherweise nur auf ihn erschütternd wirkt, andere Zeitgenossen jedoch, die weniger empfindsam sind, nicht unbedingt in Aufregung versetzt. So wünscht er seiner Verlobten denn auch, daß sie besser nicht verstehen möge, was ihn so beunruhigt: „Ach, Wilhelmine, wenn die Spitze dieses Gedankens Dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen Andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.“ Das hörte sich dramatisch an, war auch so gemeint, mußte die angesprochene Wilhelmine jedoch nicht schrecken: Bekenntnisse dieser Art waren ihr nicht ganz unbekannt, ihr Verlobter sprach gern große Gefühlslagen an, die keineswegs immer zu Tode betrübt waren, sondern bei Gelegenheit auch himmelhoch jauchzend sein konnten. Um seiner Verlobten klarzumachen, was es heißt, wenn man den Erkenntnisboden unter den Füßen verliert, legt Kleist nach, er beschreibt sich als nervös Gehetzten, den eine Angst besetzt hält, die er vermutlich nicht mehr loswird: „Seit diese Überzeugung, nämlich daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich nicht wieder ein Buch angerührt. Ich bin untätig in meinem Zimmer umhergegangen, ich habe mich auch an das offne Fenster gesetzt, ich bin hinausgelaufen ins Freie, eine innerliche Unruhe trieb mich zuletzt in Tabagien und Caféhäuser, ich habe Schauspiele und Concerte besucht, um mich zu zerstreuen …, und dennoch war der einzige Gedanke, den meine Seele in diesem äußeren Tumulte mit glühender Angst bearbeitete, immer nur dieser: dein einziges, dein höchstes Ziel ist gesunken …“
Auch die Verlobung vermag die trüben Aussichten nicht aufzuhellen; er sagt sich von Wilhelmine los, die das gefasst zur Kenntnis nimmt und wohl auch deswegen nicht in Schmerz versinkt, weil sich ihr Verlobter, der in seine Liebesbriefe gern die eine oder andere Belehrung mit einfließen ließ, durchweg als anstrengender Partner erwiesen hatte. Kleist glaubt zu wissen, daß er fürs gewöhnliche Glück nicht taugt, womit er immerhin die Grundvoraussetzung für eine veritable Schriftstellerexistenz erfüllt, denn nur über das Unglücklichsein kann man schreiben, das Glück entzieht sich jeder anspruchsvollen Literatur. Als Schriftsteller versucht sich Kleist, in einer Ordnung einzurichten, die keine Ordnung mehr ist, sondern Fassade. Er muß allerdings erleben, daß andere diese Meinung keineswegs teilen; vor allem der bewunderte Goethe möchte sich mit Zweifeln, Ängsten und anderen unnützen Gefühlszuständen nicht aufhalten: Autoren wie Kleist, dem er „Zwiespalt der Sinne“ vorhält, oder Hölderlin ärgern ihn mehr, als daß sie ihn erfreuen könnten. Kleists innerer Unruhe entspricht äußere Umtriebigkeit: Er ist viel unterwegs, reist nach Paris, will Bauer in der Schweiz werden, wo er sich jedoch nur eine langwierige Krankheit zuzieht. Danach sind ihm zwei Jahre relativer Ruhe vergönnt: Er kommt im preußischen Staatsdienst unter, vollendet eines seiner bekanntesten Theaterstücke Der zerbrochene Krug und beginnt mit Erzählungen, darunter Michael Kohlhaas und Die Marquise von O. Preußen liegt, nach der Niederlage bei Jena und Auerstädt (1806), am Boden; Napoleon ist der starke Mann in Europa. An dieser weltgeschichtlich dominanten Figur reibt sich der Dichter Kleist, den man als Dichter kaum wahrnimmt; er sieht Napoleon als Herausforderung für die nationale Sache und die Bestimmung des Menschen.
Im Januar 1807 scheidet er aus dem Staatsdienst aus. Auf einer Wanderung von Königsberg nach Berlin wird er festgenommen, weil man ihn für einen Spion hält; bis zum Juli des Jahres bleibt er in französischer Haft. Danach versucht sich Kleist als Herausgeber verschiedener Zeitschriften, die zwar zunächst Beachtung finden, letztlich aber erfolglos bleiben und wieder eingestellt werden. 1808 kommt sein Theaterstück Penthesilea heraus, das er mit großen Erwartungen belegt: „Mein innerstes Wesen liegt darin …, der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele“. Nur zwei seiner Stücke sieht er aufgeführt, den Zerbrochenen Krug und Das Käthchen von Heilbronn (1810), das den Gegenentwurf, die „Kehrseite der Penthesilea“ darstellt: Käthchen lebt ihrem Gefühl, der „Grazie“ einer „gänzlichen Hingebung“. Wenn aber die Zweifel immer verzweifelter werden, wenn die Seele Brandwunden hat und ein äußeres Scheitern hinzukommt, das auf kalte Verachtung hinausläuft, ist jeder „Lebensplan“ zum Scheitern verurteilt. Fast täglich muß Kleist sich durch einen Zustand kämpfen, den er so beschreibt: „Ich sitze, wie an einem Abgrund, das Gemüt immer starr über die Tiefe geneigt, in welcher die Hoffnung meines Lebens untergegangen ist: jetzt wie beflügelt von der Begierde, sie bei den Locken noch heraufzuziehen, jetzt niedergeschlagen von dem Gefühl unüberwindlichen Unvermögens.“ Und doch stirbt die Hoffnung zuletzt; sie könnte sich, wenn ihr denn schon keine persönliche Bevorzugung abzuhandeln ist, immerhin als übergreifendes Prinzip begreifen lassen, hinter der eine Macht steht, die Wert darauf legt, absolut unerkannt zu bleiben.
Kleist schreibt ihr eine gewisse Grundgüte zu, die für die Regelung der irdischen Tagesgeschäfte aber unerheblich ist: „Es kann kein Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen? Denken Sie nur, diese unendliche Fortdauer! Millionen von Zeiträumen, jedweder ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung, wie diese Welt! Wie doch der kleine Stern heißen mag, den man auf dem Syrius, wenn der Himmel klar ist, sieht? Und dieses ganze ungeheure Firmament, das die Phantasie nicht ermessen kann, nur ein Stäubchen gegen den unendlichen Raum! O mein edler Freund, ist dies ein Traum? Zwischen je zwei Lindenblättern, abends, wenn wir auf dem Rücken liegen, eine Aussicht, an Ahndungen reicher, als Gedanken fassen und Worte sagen können!“ Mehr gibt es auf Erden nicht einzusammeln, die Gewißheiten sind bestenfalls Ahnungen, das Leben selbst bleibt auf Widerlegungskurs. Das bekommt im besonderen der Einzelne zu spüren, der sich beizeiten darauf einstellen sollte, seine Existenz als „ein Pensum zum Abarbeiten“ (Schopenhauer) zu begreifen, an das man sich besser nicht allzusehr klammert: „Ach, was ist dies für eine Welt! Wie kann ein edles Wesen, ein denkendes und empfindendes wie der Mensch, hier glücklich sein! Wie kann er es nur wollen, hier wo Alles mit dem Tode endigt! Wir begegnen uns, drei Frühlinge lieben wir uns, und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander! Und was ist des Strebens wert, wenn es die Liebe nicht ist! O, es muß noch etwas Anderes geben, als Liebe, Ruhm, Glück …, wovon unsere Seelen nichts träumen. Nur darum ist dieses Gewimmel von Erscheinungen angeordnet, damit der Mensch an keiner hafte.“
Als die Hoffnungen nicht mehr greifen, ist Kleist am Ende. „Meine Seele ist so wund“, schreibt er, „daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für Krankheit und überspannt halten; aber … dadurch, daß ich mit Schönheit und Sitte, seit meiner frühsten Jugend an, in meinen Gedanken und Schreibereien, unaufhörlichen Umgang gepflogen, bin ich so empfindlich geworden, daß mich die kleinsten Angriffe, denen das Gefühl jedes Menschen nach dem Lauf der Dinge hienieden ausgesetzt ist, doppelt und dreifach schmerzen.“ Kleist nimmt Abschied; seiner Lieblingsschwester Ulrike, die ihm, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, eine treue und verständnisvolle Begleiterin war, schreibt er: „Wirklich, du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für dich aufzubringen weiß“. Seinen eigenen Tod inszeniert Kleist als überlegte Tathandlung: Am Berliner Wannsee erschießt er erst seine kranke Bekannte Henriette Vogel, dann sich selbst.
Zu Lebzeiten war Kleist kein Ruhm vergönnt; die Nachwelt meinte es besser mit ihm und beförderte ihn zum anerkannten Dichter. In einem kurzen Prosastück mit dem Titel Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden hat dieser Dichter eine originelle Theorie aufgestellt: So wie der Appetit bekanntlich beim Essen kommt, werden die wichtigen Ideen erst über das Reden zur Klarheit gebracht; dabei ist die Anwesenheit eines Gesprächspartners zweckmäßig – wer mit sich selber redet, sieht sich dem Verdacht der Wunderlichkeit ausgesetzt: „(…) Siehe da, wenn ich mit meiner Schwester … rede, welche hinter mir sitzt und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte … Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt … Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, … jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus …“ Kleist, der bis heute im Ruf steht, ein Dichter von verzweifelter Ernsthaftigkeit zu sein, verstand sich auch aufs Heitere, das bei ihm mit Vorsicht zu genießen war.
Er betätigte sich als Sammler von Anekdoten; in der Anekdote wird die an sich humorlose Macht des Schicksals klein und überschaubar, sie stellt sich dem menschlichen Ermessen: „Ein junger Doktor der Rechte und eine Stiftsdame, von denen kein Mensch wußte, daß sie miteinander in Verhältnis standen, befanden sich einst … in einer zahlreichen und ansehnlichen Gesellschaft. Die Dame, jung und schön, trug, wie es zu derselben Zeit Mode war, ein kleines schwarzes Schönheitspflästerchen im Gesicht, und zwar dicht über der Lippe, auf der rechten Seite des Mundes. Irgendein Zufall veranlaßte, daß die Gesellschaft sich auf einem Augenblick aus dem Zimmer entfernte, dergestalt, daß nur der Doktor und die besagte Dame darin zurückblieben. Als die Gesellschaft zurückkehrte, fand sich, zum allgemeinen Befremden derselben, daß der Doktor das Schönheitspflästerchen im Gesicht trug; und zwar gleichfalls über der Lippe, aber auf der linken Seite des Mundes. -“
Heinrich von Kleist hat, weit vor unserer Zeit, eine Existenz geführt, aus der sich, mit ironischen Abstrichen, prägende Muster unserer heutigen Lebensführung ableiten lassen. Er probte den Selbstentwurf und das Wagnis, er versuchte sich in Anpassung und Pflichterfüllung, er suchte Hilfe von der großen Philosophie und war kühn genug, das Leben als dramatisches Ereignis nachspielen zu lassen, das, wenn denn Glück mit dabei ist, sogar Erfüllung kennt und ein erstaunliches Gelingen. Das alles, in diffuserem Licht allerdings und umschwirrt von unendlich vielen Ablenkungen, die eine neue Freiheit suggerieren und doch nur neue Zwänge schaffen, widerfährt auch uns Heutigen, die wir, schwächlicher als Kleist, aber auch weniger verzweifelt, uns dazu anhalten, Beharrungsvermögen zu zeigen und gelegentlich sogar unser Bestes zu geben, was aber, weniger denn je, reicht, um unsere Träume wahr werden zu lassen.
Das Leben ist undankbar: Es straft ab und belobigt nach undurchsichtigen Kriterien. Daran kann man, wie Kleist, verzweifeln, man kann sich daraus aber auch, wie es z.B. Schopenhauer gelang, eine philosophisch wetterfeste Heiterkeit herleiten, die einem hilft, das Leben nicht nur zu ertragen, sondern es gelegentlich sogar lebenswert zu finden. Kleist gab sich auf Erden Mühe, dazuzugehören, aber das undankbare Leben wollte ihn nicht mit dabei haben. Dagegen gibt es kein Einspruchsrecht, das erfolgversprechend wäre. Wir haben gelernt, das hinzunehmen; Kleist wählte eine andere Lösung. Er verstand sich darauf, sein unglückliches Bewußtsein, das gar nicht immer so unglücklich war, über den Eigenbedarf hinaus zu kultivieren. Die damit verbundene Tragik, von der in der Kleist nachgereichten Literatur meist im Tonfall verständnisvoller Betroffenheit berichtet wird, ist jedoch womöglich gar nicht so tragisch, wie es (bis heute) den Anschein hat. Man muß Leben und Werk des Dichters Kleist nicht notwendigerweise vom Ende her aufrollen: Nicht jeder, dem ein unglückliches Bewußtsein zugeteilt wurde, geht damit die Verpflichtung ein, Suizid am Wannsee begehen – es geht auch anders. Man sollte es in der Kunst, sich das Leben schwer zu machen, lieber nicht zur Meisterschaft bringen, denn dann wird es eng. Das unglückliche Bewußtsein, das auch heute noch in so vielen empfangsbereiten Köpfen lauert, verlangt nach Zuwendung; man muß ihr allerdings nicht immer entsprechen.
Erinnern Sie sich?
Letzte Änderung: 17.01.2025 | Erstellt am: 10.01.2025
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