
Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 21 – Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Die Ordnung, die er zur Feier der Welt errichtet hatte, war später dann brüchig geworden. Mit einemmal gab es Schlupflöcher, Verwinkelungen, Nischen. Hegels Gedanken durften nun, ungestraft, umherziehen, sie schweiften ab, drehten sich im Kreise, der ein anderer Kreis war, dunkles, untergründiges Terrain, nicht der Kreisgang des Denkens, an dem seine ganze Philosophie hing. Er hatte einen insgesamt unguten Verdacht: Der Geist des Weines war schuld, jener allererste enthusiasmierende Beweger, der sein Leben anschob, ein unsichtbarer, unermüdlicher Brandbeschleuniger des Wissens, nichts hielt ihm stand, aber dann war er lastend geworden, das eigene Gewicht drückte ihn herunter, brachte ihn in träge Seßhaftigkeit; der Geist, frei gestelltes, Gott gleiches Medium, wurde wieder Geist des Weines, der hartnäckige Rückstände erkennen ließ, vom Weingeist blieb nur der Weinstein. Er setzte sich ab, an den Gläsern, in ihm, verknotete den Fluß der Gedanken und des Blutes.
Konnte man sagen, unhöflich, daß er zuviel soff, so hatte es sein früherer Hausarzt Dr. Schulte-Langen, ein grober Westfale, ausgedrückt, dem er daraufhin den Laufpaß gab. Für die Wahrheit war er selbst verantwortlich, der Philosoph, nicht ein rotwangiger, plumpschädeliger Medikus, der sich allerdings an die vermuteten Tatsachen hielt. „Wenn ich Sie so anschaue“, hatte er gesagt, „wenn ich Sie so anschaue, Sie hochrühmlicher Mensch, sehe ich Bedenkliches. Ihre Augen stehen hervor, sind gallertartig und trübe. Ihre Hände zittern, auch wenn Sie sich nur an Ihrer ungepflegten Perücke kratzen. Ihr Atem geht unverhältnismäßig schwer, Sie haben Schorf an der Backe, der entweder von fortgesetzter Unreinlichkeit herrührt oder das Resultat einer schlecht verheilten Wunde ist, die Sie sich im täglichen Suff zugezogen haben. Sagen Sie nichts, es kann gegen Sie verwendet werden. Ich kenne Leute wie Sie, Herr Professor Hegel, sie verbergen sich hinter einer zweifelhaften Ruhmseligkeit, die dazu beiträgt, über offensichtliche Laster hinwegzusehen, was aber ein wachsamer Mediziner nicht durchgehen läßt. Unsereins sieht sehr viel genauer hin als ein Philosoph, der sich im Spekulativen herumtreibt. All Ihre sogenannten Beschwerden, Magendruck, Völlegefühl, saures Aufstoßen, Herzrasen, flagrante Nervosität, bis hin zu Haar- und Zahnausfall und Ihre verschiedenen, plötzlich auftretenden Absenzen, haben nur eine Ursache, das Saufen.“ „Ich saufe nicht“, hatte Hegel daraufhin kraftlos erklärt, dabei rumorte doch schon die Wut in ihm, „ich trinke ab und zu ein Glas Wein. Zu den Mahlzeiten, beispielsweise.
„Zu den Mahlzeiten?“ höhnte der Arzt. „Dann darf Ihre Existenz wohl als eine einzige, langanhaltende Mahlzeit bezeichnet werden. Sie sind, wenn ich das so sagen darf, ein Drei-Liter-Philosoph.“
„Wie bitte?“
„Ich will damit sagen, daß Sie mindestens drei Liter Wein am Tag trinken.“
„Nie und nimmer.“
Der Mann hatte recht, leider, aber er hatte kein Recht, es zu sagen. Hegel hielt nicht viel von Aposteln, am wenigsten von Gesundheitsaposteln, die ihr flüchtiges Dasein mit Regularien und Exerzitien durchzogen und sich dabei der Hoffnung hingaben, ein paar Zeittakte länger zu leben. Er gestattete sich lieber das bewährteste und verläßlichste aller Vergnügen, für das sich, auch von den Anfangsgründen her, gesundheitspolitische Motive ins Feld führen ließen. Schließlich hatten schon die Alten die Zuträglichkeit des Weines entdeckt, sie wußten, daß er die Gefäße weitete, die Laune anhob, das Denken beflügelte. Auf Mengenangaben hatten sie tunlichst verzichtet, von Schäden war keine Rede. Der Mensch gleicht, wenn er im Geist aufnahmebereit ist, einem Gefäß, das nicht überlaufen kann. Dennoch wäre weniger mehr gewesen, wußte er; er selbst durfte sich das zugestehen, nicht aber eine Maultasche von Arzt, der die Welt nur als Ärztemuster begreift.
„Ich möchte Sie bitten zu gehen“, sagte Hegel. „Und bitte gehen Sie gleich.“
„Sie setzen mich vor die Tür?“
„Es wäre schön, wenn Sie das selbst besorgen könnten.“
„Sie werden Schwierigkeiten bekommen“ sagte Schulte-Langen und packte seine Gerätschaften in eine abgewetzte Arzttasche. „Der Alkohol lagert sich im Gehirn ab, er beeinträchtigt Ihre Denkfähigkeit, mit der es allerdings, Ihrem Fach entsprechend, ohnehin nicht weit her sein kann. Vielleicht reicht Ihr Lebenswandel noch für ein fortgeschrittenes Alter, wer weiß, nicht jeder, der willentlich sündigt, wird gleich bestraft. Ich prophezeie Ihnen das siebhafte, nicht das triebhafte Gedächtnis; Sie werden eines schlechten Tages mehr Löcher in Ihren Hirnwindungen haben als Ihnen lieb ist, und jedes dieser schwarzen Löcher steht für schmerzhaftes Scheitern, für den Absturz eines Gedankens. Das werden Sie am Anfang noch wehleidig registrieren, danach werden Sie gar nichts mehr registrieren, denn Ihr Bewußtsein hat sich sang- und klanglos verabschiedet. Sie werden ein Wrack sein, Herr Professor Hegel, ein gutmütiges, versoffenes Wrack, ein Mann für die Pflege. Guten Tag.“
Da ging er, der Arzt, und ward, Gott sei Dank, nicht mehr gesehen. Hegel stand am Fenster, sah die Lichter der Nacht; ein fernes Raunen war in der Stadt, das von der Zeit sprach, die noch kommen sollte. Er liebte diese Dämmer- und Dunkelstunden, er liebte die bergende Nacht. Alles wurde ihm leicht dann, das System, das er nach besten Kräften entworfen hatte, verlor sich in den Tiefen der Seele, der er erst jetzt, im fortgeschrittenen Alter, verhaltene Aufmerksamkeit schenkte, es ging ja nicht anders; wer zu früh absteigt zur Seele, kommt darin um.
ERINNERN SIE SICH?
Letzte Änderung: 30.06.2025 | Erstellt am: 30.06.2025
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