Erinnern Sie sich? (An Hans Christian Andersen)

Erinnern Sie sich? (An Hans Christian Andersen)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F. W. Bernstein, Postkarte 2010 | © Art Virus Ltd

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 18 – Hans Christian Andersen

ERINNERN SIE SICH?

Manchmal muß man abheben vom vertrautem Terrain, um sich neu zu entdecken und als der wiederzufinden, der man ist. In anderer Umgebung wird das Vertraute weniger vertraut, es mischt sich mit Neuem, das die Eindrücke besetzt, ohne das Althergebrachte vergessen machen zu können. Wir kennen dies auch im alltäglichen Sprachgebrauch: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen, heißt es, womit allerdings nicht gesagt ist, daß Reiseberichte interessanter sein müssen als Kolportagen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Der dänische Dichter Hans Christian Andersen, der vor allem als Märchenerzähler bekannt wurde, obwohl er weit mehr war als das, fand erst auf Reisen zurück in den Erwartungsstand seines Werkes, in das er zuvor bereits beträchtlichen Mitteilungsdrang investiert hatte. Andersen, den wir damals, bei einem Zwischenstop, kennenlernen durften, reist nicht freiwillig; er wird mit Bestimmtheit dazu angehalten. Am liebsten möchte er, der schon immer ein berühmter Dichter sein wollte, zu Hause im überschaubaren Dänemark bleiben und alles aufschreiben, was ihm so in den Sinn kommt. Da aber ist nicht mehr viel; Andersen, gerade mal 28 Jahre alt, hat sich verausgabt.

Ein väterlicher Freund, der Literaturkritiker Ingemann, gibt es ihm sogar schriftlich; Andersen soll die Fehler bei sich selbst, nicht bei anderen, suchen: „Sie peitschen die Phantasie auf und spannen das Gefühl auf die Folterbank, wenn Sie gleich einem Schlafwandler ständig auf Redaktionen und Gesellschaften und auf den Brettern des Theaters herumstreifen, wobei sie täglich gleichsam Ihren Lebensbaum herausziehen, um nachzusehen, ob er Wurzeln geschlagen hat, anstatt ihm Ruhe zu gönnen, damit er Kraft erhält zum Blühen und zum Früchtetragen … Geben Sie dem unaufhörlichen Anreiz zum Produzieren nicht nach, wodurch Sie geistig ausgemergelt werden. Pfeifen Sie auf das ganze leere gesellschaftliche Leben und nehmen Sie kein Flugblatt in die Hand! Kümmern Sie sich weniger um den Poeten und den Kranz, aber dafür um so mehr um die Poesie! Aber schlitzen Sie nicht den Singvogel auf, um alle seine goldenen Eier auf einmal herauszunehmen!“

In der Tat war Andersen der Anerkennung zuvor förmlich hinterher gerannt. Das Kind armer Eltern, 1805 in Odense geboren, meistert seine Jugend, indem es sich überaus folgsam einem Lebensglück anvertraut, das erst noch herbeizitiert werden muß, wofür das Schreiben zuständig wird, dem Andersen zunächst keinerlei Ruhe- und Besinnungspause gönnen mag. Tatsächlich beugt sich das Glück widerstrebend zu ihm herab: Andersen findet Förderer. Er geht nach Kopenhagen und wird dort in eine wenig einfühlsame schulische Ausbildung gegeben, an der er fast zerbricht. Mit 23 macht er doch noch sein Abitur und entschließt sich, auch weil es ihm nicht ausgeredet wird, ganz Dichter und Künstler zu sein. Es beginnt eine Zeit geradezu unerhörten Produzierens und Anschmeichelns an öffentliche Meinungsträger, bei der Andersen weit mehr gibt, als er zurück bekommt. Schließlich weiß er nicht weiter, er hat sich, ohne es wahrhaben zu wollen, leer geschrieben.

Seine wenigen guten Freunde raten ihm dringend zu einem Ortswechsel, er soll sich frischen Wind um die Nase wehen lassen. Man besorgt ihm ein Reisestipendium, das er nicht ausschlagen kann. Am 22. April 1833 bricht er auf, ein Reisender wider Willen. Gerade weil er keine besonderen Erwartungen hat, wird er nicht enttäuscht, im Gegenteil: Er stellt fest, daß er auf Reisen mehr über sich selbst in Erfahrung bringen kann als durch unergiebiges Grübeln im stillen Kämmerlein: „Reisen heißt leben! … Das Reiseleben ist mir die beste Schule der Bildung geworden … Gleich einem stärkenden Bad für den Geist, gleich dem Medea-Trunk, der immer wieder verjüngt, ist für mich das Reisen.“

Andersens Ziel ist Italien, das er, wie nicht wenige Künstler vor ihm, als „Land meiner Sehnsucht und meines Glücks“ bezeichnet. Damit aber wird erst einmal nur sein Wunschbild von Italien genannt, das sich an bewährten literarischen Vorbildern orientiert; in Italien selbst ist er damit noch nicht angelangt. Zuvor nämlich macht er in Frankreich, genauer: in Paris Station, das ihm, der die wahre Verruchtheit allenfalls vom Hörensagen kennt, mächtig sündhaft vorkommt. Er gibt sich empört: „Paris ist die liederlichste Stadt unter der Sonne, ich glaube, daß es hier nicht auch nur ein unschuldiges Geschöpf gibt … Öffentlich auf der Straße hat man mir am Tage in den anständigsten Straßen ‚ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren‘ angeboten …“

Dem unsittlichen Angebot kommt Andersen nicht nach; er bleibt brav. Frivolität spielt er für sich nur in Gedanken durch; leibhaftig möchte er nicht zu ihr herabgezogen werden. Das fällt ihm um so leichter, als er feststellen darf, wie die zuletzt so spröde gewordene Literatur wieder zu ihm zurückkehrt und sich wesentlich anschmiegsamer zeigt. In seinen Briefen tritt er bereits als Reiseschriftsteller auf, dem die Themen nur so zufliegen. Er entdeckt neue Möglichkeiten in sich, seine Sprache paßt sich der Vielfalt wechselnder Eindrücke an und wird in einer Weise geschmeidig und ausdrucksstark, die er selbst kaum für möglich gehalten hat. Die Steigerungen, die ihm vergönnt sind, haben mit der literarischen Arbeit an sich zu tun: Sie unterliegt, unabhängig von der Gunst äußerer Umstände, die auch das Dichterdasein beeinflussen, einem eigenen Bestimmungsgang, der einer Probezeit gleicht, die solange verlängert wird, bis es zur Festanstellung nicht mehr reicht.

Am 18. Oktober 1834 kommt Andersen in Rom an – ein Datum, das er in Erinnerung behält und später als seinen sogenannten römischen Geburtstag zu begehen pflegt. Was er inzwischen als Autor zu leisten vermag, wird in einem Brief deutlich, der von einer Fahrt nach Neapel und der Besteigung des Vesuv berichtet: „Von der Eremitenhütte ging es zu Fuß durch tiefe Asche den Berg hinauf, ich war in einer glückseligen Stimmung, sang laut … und war der erste, der ganz nach oben gelangte; der Mond stand plötzlich gerade über dem Krater, aus dem kohlschwarzer Rauch aufstieg, glühende Steine wurden in die Höhe geschleudert und fielen fast senkrecht wieder zurück; der Berg unter uns erbebte. Bei jedem Ausbruch ward der Mond von Rauch verhüllt, und dann wurde es dunkle Nacht, so daß wir stehenbleiben und uns an den großen Lavablöcken festhalten mußten; allmählich spürten wir die Hitze, die unter uns hochkam. Der neue Lavastrom quoll am Berg entlang dem Meere zu, dorthin wollten wir … Der Schwefeldampf war sehr stark, die Hitze … kaum auszuhalten …, aber der Anblick … war uns gleichsam für alle Zeiten ins Gedächtnis eingebrannt. Ringsum erblickten wir Feuerschlünde, es brauste vom Krater her, so wie wenn eine mächtige Schar von Vögeln aus einem Wald auffliegt. Den Kegel selbst konnten wir nicht besteigen, da ständig glühende Steine über uns hinwegprasselten …“

Im Spätsommer 1834 kehrt Andersen nach Kopenhagen zurück. Er hat eine Fülle von Aufzeichnungen und Notizen mitgebracht, die er ursprünglich in einem opulenten Reisebericht zusammenfassen will. Dann aber ändern sich seine Pläne: Unter der Hand entsteht ihm ein Roman, der die italienischen Erfahrungen in einer anmutigen Erzählung vom Reise- und Selbstfindungsweg eines jungen Dichters aufgehen und neu entstehen läßt. Der Improvisator heißt dieser Roman, der 1835 erscheint und zu einem bemerkenswerten Erfolg wird, was auch daran abzusehen ist, daß alsbald Übersetzungen des Buches in acht Sprachen angefertigt werden. Andersen, der ein Leben geradezu süchtig nach Lob war, ist glücklich, und er wird noch glücklicher, als sich ein weiterer Erfolg abzeichnet: Sein erstes kleines Märchenbuch erscheint, das u.a. „Die Prinzessin auf der Erbse“ und „Das Feuerzeug“ enthält. Es findet erstaunliche, vor allem langanhaltende Aufmerksamkeit, so daß Fortsetzungen ausdrücklich erwünscht sind, ja als zwingend erscheinen. Andersens Märchen, von ihm selbst zunächst nur zögerlich in Angriff genommen, dann jedoch mit bemerkenswertem Geschick und virtuoser Dreingabe unterschiedlichster Phantasie- und Ironiezutaten niedergeschrieben, werden schließlich zu seinem eigentlichen Markenzeichen, was ihm nicht immer geheuer ist.

Dennoch zeigt er sich von nun an noch dankbarer seinem Schicksal gegenüber, an dem er zuvor schon nicht zweifeln mochte. Im Frühjahr 1837 gönnt er sich einen behaglichen Rückblick: „Kein Winter ist so ruhig und glücklich verlaufen wie dieser. Der Improvisator hat mir Achtung bei den Edelsten und Besten verschafft, sogar die Menge hat mehr Ehrerbietung an den Tag gelegt; von Nahrungssorgen weiß ich Gott sei dank nichts, und ich habe mir in letzter Zeit mein Leben ordentlich angenehm machen können … So sitze ich in bunten Pantoffeln und Schlafrock mit den Beinen auf dem Sofa, der eiserne Ofen schnurrt, die Maschine singt auf dem Tisch, und das Rauchwerk tut gut. Ich denke dann an den armen Jungen in Odense, der in Holzpantinen lief, und dann wird mein Herz weich, und ich segne den gütigen Gott!“

Der arme Junge in Holzpantinen – das ist das Bild des Dichters als Kind. Es war ein Kind, das zunächst einmal nur Ärmlichkeit kennenlernte: Der Vater ist Schuhmacher mit einem Hang zur Schwermütigkeit und verworrenen religiösen Ideen, die Mutter bringt aus früheren Beziehungen zwei uneheliche Töchter mit in die Ehe und stirbt ein Jahr, bevor ihr Sohn in die literarische Erfolgsspur einbiegen kann, als Trinkerin im Armenhaus. Andersens Großvater, der als geisteskrank galt, scheint seine Anlage an den Sohn weitergegeben zu haben; so ist es nicht verwunderlich, daß auch der Enkel wiederkehrende Befürchtungen hegt, von einem unheilbaren Familienleiden infiziert zu sein. Diese Befürchtungen lassen sich nie ganz ruhigstellen und flackern immer wieder auf; als Andersen im Frühjahr 1840 seine Geburtsstadt Odense besucht, vermerkt er in seinem Tagebuch: „Ich sah einen armen, halbblöden Burschen vor meinen Fenstern; er hatte ein edel geformtes Gesicht, die Augen waren glanzvoll, aber über dem ganzen Menschen lag etwas Gestörtes, und die Jungen foppten und hetzten ihn. Ich dachte dabei an mich selber, an meine Kindheit, meinen geistesschwachen Großvater; wenn ich in Odense geblieben wäre, dort in die Lehre gekommen wäre, wenn die Kräfte der Phantasie, die mich damals erfüllten, nicht durch die Zeit und die Verhältnisse gezügelt worden wären, oder wenn ich nicht gelernt hätte, mit meiner ganzen Umgebung zu verschmelzen, wie würde ich dann wohl angesehen worden sein? Ich weiß nicht, aber beim Anblick dieses unglücklichen, gehetzten Blödlings vor meinem Fenster klopfte mein Herz heftig …“

War der absonderliche Großvater für die Gefährdung des Geistes zuständig, die dem Menschen ein Leben lang zugemutet wird, so kann Andersens Großmutter für die Kräfte der Phantasie stehen, die er immer wieder gerne erwähnt. Sie scheint eine phantasiebegabte, liebenswürdige Person gewesen zu sein; wer ihr weniger wohl wollte, konnte auch sagen, daß sie eine notorische Lügnerin mit Charme war. Für den Hausgebrauch legte sie sich eine Ahnentafel zu, die nachweisen sollte, daß sie aus nordhessischem Adelsstand stammte, den außer ihr allerdings niemand kannte, und auch sonst schmückte sie sich ihr Leben gern so aus, wie sie’s für richtig hielt; zu Schaden kam dadurch niemand. Ihr Enkelsohn blieb davon nicht unberührt; er lernte es schnell, der öden Wirklichkeit Schauer- und Glanzlichter aufzusetzen. Besonders hatten es ihm Zuchthaus und Irrenanstalt von Odense angetan, die nah beieinander lagen; in seiner gewollt gutgläubigen Autobiographie Das Märchen meines Lebens, die seine Dichterexistenz so mild und andächtig schildert, daß Vorsicht angebracht ist, heißt es: „Eine meiner ersten Erinnerungen, an sich so geringfügig, aber für mich von Bedeutung durch die Stärke, mit der die kindliche Phantasie sie gewissermaßen in die Seele eingebrannt hat, war ein Familienfest, und wo? – An einem Ort in Odense, in dem Gebäude, zu dem ich von außen mit Schrecken und Angst geblickt habe, wie der Pariser Junge, denke ich, zur Bastille hinaufgeschaut hat – das war das Zuchthaus von Odense. Meine Eltern kannten den Pförtner dort; sie wurden von ihm zu einem Familienfest eingeladen, und ich mußte mit … Das Zuchthaus von Odense war für mich gleichsam das Versteck für Diebes- und Räubergeschichten …“

Ähnliches gilt für die Irrenanstalt; sie erscheint ihm sogar noch ein wenig gruseliger, weil die Geschichten, die sich um Geisteskranke spinnen lassen, ja nie ganz entschieden sind; Normalität und Abartigkeiten, glaubt er, kommen aus dem gleichen, uneinsehbaren Grund der Seele. Andersen erinnert sich, wie er als kleiner Junge, angetrieben von schaurig schöner Neugier, aus dem Garten der Großmutter davonschleicht und, unbemerkt vom Wachpersonal, in das Innere der Anstalt vordringt: „Ein langer Gang führte zwischen den Zellen dahin; auf diesem hatte ich mich eines Tages hingehockt und lugte durch den Türspalt; drinnen saß ein nacktes Frauenzimmer auf einem Haufen Stroh, ihr Haar hing ihr über die Schultern hinab, und sie sang mit einer ganz herrlichen Stimme; plötzlich sprang sie auf, stürzte mit einem Schrei auf die Tür zu, vor der ich lag, der Wärter war fortgegangen, ich ganz allein, sie haute so heftig gegen die Tür, daß die kleine Luke über mir, durch die ihr das Essen hineingereicht wurde, aufsprang, sie sah von dort zu mir hinunter, streckte einen ihrer Arme nach mir aus; ich schrie vor Grauen und drückte mich fester an den Fußboden. Dieser Anblick und dieser Eindruck sind noch immer nicht aus meiner Seele getilgt …“

Andersens Seelenleben indes ist gefestigter, als man meinen möchte; es hat seinen Abglanz am Glanz des Glückssternes, der sein Dasein begleitet. Das Märchen seines Lebens, von Erinnerungen durchwebt, wie sie nur ein erinnerungswilliger Dichter hegen kann, ist denn auch eine große Geschichte, die sich, absichtsvoll bis zuletzt, aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt und im Guten zu enden hat: „An diesem oder jenem Tag im Herbst ging meine Mutter auf die Felder hinaus und sammelte Ähren, ich war dann mit dabei … Eines Tages kamen wir an einen Ort, wo ein Verwalter war, der als böse bekannt war; wir sahen ihn mit einer fürchterlich großen Hundepeitsche ankommen; meine Mutter und alle anderen rannten, meine nackten Füße staken in Holzpantinen, und ich verlor diese …; ich konnte nicht rasch genug wegkommen und blieb allein zurück; schon hob er die Peitsche, ich sah ihm ins Gesicht und sagte unwillkürlich: ‚Wie getraust du dich, mich zu schlagen, da Gott es sehen kann!‘ – und der strenge Mann wurde mit einem Mal ganz milde, streichelte mir die Backe, fragte, wie ich heiße, und schenkte mir Geld; als ich meiner Mutter das zeigte, sagte sie zu den anderen Leuten: ‚Er ist ein merkwürdiges Kind, mein Hans Christian! und alle Menschen sind ihm gut, und selbst der böse Mann hat ihm Geld geschenkt!‘“

Das mag arg märchenhaft klingen oder nur ein bißchen dick aufgetragen; auf jeden Fall zeigt es die Gutgläubigkeit an, mit der Andersen hinausspäht in seine Welt. Über die eigene Biographie beugt er sich wie ein liebevoller Puppenspieler, der jede Aufführung seiner Figuren erst einmal für gelungen hält, es sei denn, er würde, was harter Überzeugungsarbeit bedarf, eines Schlechteren belehrt. Auch das geschah ihm, gewiß, aber die einsetzenden Depressionen hielten nicht lange an; den Optimismus, den er sich aneignete, wurde er nie mehr los. Als ihm nach seiner ersten Auslandsreise der Weg in den Erfolg vorgezeichnet wird, durfte er sich noch überrascht geben; dabei erfüllte sich nur das in seinem Sinne Vorhersehbare. Vom Reisen mochte er denn, einmal inspiriert und belohnt, nicht mehr lassen: Unter den Schriftstellern seiner Zeit ist er am meisten unterwegs; insgesamt 29 Auslandsreisen hat er unternommen, und keine davon erschien ihm als verlorene Liebesmüh‘. Der ersten Reise indes bewahrte er besondere Anhänglichkeit; sie machte er, da sie ihm wesenhafte Klarheit bescherte, zu einer eigenen Gedenkveranstaltung: „Es war, als ob von diesem Tag an die Frühlingssonne in meinem Leben beständiger scheinen sollte; ich empfand eine größere Sicherheit, denn schaute ich zurück über die Jahre meines Lebens, so sah ich klarer, daß eine liebevolle Vorsehung über mir wachte, daß alles, wie durch höhere Gewalt, für mich zum Besten gelenkt wurde, und je fester eine solche Überzeugung wird, desto sicherer fühlt man sich.“

Andersens Lebensphilosophie setzt auf ein Gottvertrauen, in dem der Gott, an den man sich wendet, gar nicht einmal ein persönlicher Gott sein muß; es genügt zu wissen, daß er da ist und seine ruhige, alles in sich bergende Gegenwart zeigt – eine Gewißheit, die sich der Dichter wiederum gern auf Reisen bestätigen ließ. Als er 1862 auf der Rückreise aus der Portugal mit dem Passagierschiff in schwere See gerät, liegt er in seiner Kabine und hat Angst. Dann aber wagt er sich an Deck: „Ich blickte hinaus. Welche Pracht, welche Größe! Das ganze rollende Meer leuchtete wie Feuer; die großen Wellen wälzten sich mit phosphorischem Glanze heran. Es war, als glitten wir über ein Feuermeer. Diese Herrlichkeit überwältigte mich so sehr, daß die Todesangst im selben Augenblick verschwand. Die Gefahr war nicht größer, nicht kleiner, als sie immer sein könnte, aber jetzt dachte ich nicht mehr daran … Ist es für mich wohl so wichtig, noch einige Jahre zu leben? Kommt der Tod in dieser Nacht, er kommt in Größe und Herrlichkeit! Ich stand lange in der sternklaren Nacht und blickte auf das große, rollende Weltmeer hinaus, und als ich wieder in den Salon hinunter und zur Ruhe ging, war das Gemüt erquickt und fröhlich in der Hingabe an Gott.“

Das dazugehörige Glaubensbekenntnis schließlich findet sich in einem von Andersens schönsten Märchen, der Glocke. Königssohn und armer Konfirmand, eben noch auf getrennten Wegen marschierend, treffen sich vor dem einen erhabenen Anblick: „(…) Die Sonne stand wie ein großer, schimmernder Altar dort draußen, wo Meer und Himmel sich begegnen, alles verschmolz in glühenden Farben, der Wald sang und das Meer sang und sein Herz sang mit; die ganze Natur war eine große, heilige Kirche, darin Bäume und segelnde Wolken die Pfeiler waren, Blumen und Gras die gewobene Sammetdecke und der Himmel selbst die große Kuppel; dort oben erloschen die roten Farben, als die Sonne versank, aber Millionen von Sternen wurden angezündet, Millionen von diamantenen Lampen leuchteten nun, und der Königssohn breitete seine Arme dem Himmel entgegen … – und im selben Augenblick … kam mit den kurzen Ärmeln und in Holzpantinen der arme Konfirmand …; und sie liefen aufeinander zu und hielten sich bei den Händen in der großen Kirche der Natur und der Poesie, und über ihnen ertönte die unsichtbare, heilige Glocke …“
Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 14.05.2025  |  Erstellt am: 07.05.2025

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