
Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 17 – Franz von Baader
ERINNERN SIE SICH?
Der Philosoph Franz von Baader hielt die Nase in den Wind – vorsichtig, denn es bestand die Gefahr, daß sie ihm weggerissen wurde in diesem verödeten Landstrich, in dem die Kälte ein- und ausging und das Rauschen, welches vom Meer her schlug, an die Große und Ewige Flut erinnerte, die mit dem Stapellauf der Arche Noah einst begonnen hatte und mit dem Jüngsten Gericht noch lange nicht zu Ende war. Baader befand sich auf dem Gut seines Freundes Boris von Uexküll in der Nähe von Riga, wo er, der Not gehorchend, auf eine Einreisegenehmigung wartete, die ihn dazu berechtigte, nach Rußland weiterzureisen. Das Dokument jedoch ließ auf sich warten, und so wartete auch der Philosoph, fröstelnd, aber noch immer guten Mutes, denn er hatte es sich zur Lebensmaxime gesetzt, das Beste aus den Tagen und Nächten zu machen, die der Herrgott ihm überantwortete – hier wie dort und auch wohl anderswo.
Anderswo, Baader mußte es zugeben, wäre er jetzt gerne gewesen, im heimischen Bayern etwa, in München, wo die Sonne schien und der Spaziergang im Freien eine einschmeichelnde Angelegenheit war, beileibe kein Abenteuer der naturgroben Art oder gar eine Exkursion ohne Wiederkehr. Die Nase des Philosophen, als hervorragendes Organ besonders den Stürmen ausgesetzt, hatte sich bereits rot eingefärbt; zudem tropfte sie dezent, während ihr Besitzer, in einen langen Mantel gehüllt und mit einer derben pommerschen Kappe auf dem Kopf, seinen kleinen Gang fortsetzte, der ihn bislang kaum mehr als zweihundert Schritte vom Hauptgebäude des Uexküllschen Gutes hinweggeführt hatte.
Er sah den Himmel über sich, ein Schlachtfeld, unerhört weit, über das die vom Wind versammelten Wolken zogen; nach Norden zu, dort wo es heller wurde, stieß das Land weit ins Meer vor, ein möglicherweise verführerischer Ort, wie der Philosoph dachte, dem es schon in den Sinn gekommen war, einen einzigen langen und tollkühnen Marsch dorthin zu wagen, aber dann hatte er sich doch über seinen eigenen, zuletzt sehr ungewohnten Mut lustig gemacht: Wie sollte er jenen fernen Vereinigungspunkt erreichen, wenn es ihn hier schon so mächtig schauderte, im Bannkreis des Guts, über dem nun eine kleine Rauchfahne stand, Wärme und Behaglichkeit verheißend, denn dort, im Kamin seines Wohnhauses, ließ der Hausherr heizen, ungeachtet der Jahreszeiten, die hier ohnehin allesamt unwirtlich blieben.
Der gute Uexküll. Ein freundlicher, ein guter Mensch war er zweifelsohne, wenn auch ein wenig geizig, wie es Menschen oft sind, die zu viel der irdischen Güter beiseite geschafft haben; er litt, mit anderen Worten, keinerlei Not, konnte sich Luxus, wie er in diesen schweren Zeiten noch möglich war, leisten, aber er hielt seine Besitztümer beisammen – kleingläubig und gelegentlich an einen eingebildeten Verfolgten gemahnend, der nur noch leibhaftige Verfolger sieht. Seinen Geiz, den er, wohlwollend betrachtend, eher wie eine Schrulle betrieb, ließ er, dies mußte zu seiner unumgänglichen Ehrenrettung gesagt werden, nie und nimmer an seinen Gästen aus, die er pfleglich, ja zuvorkommend und liebenswürdig behandelte, so daß es ihnen, vom Frühstück angefangen bis hin zum späten Nachtmahl, in der Regel an nichts fehlte. Uexkülls Geiz bekamen andere, ihm ferner Stehende, zu spüren, im besonderen Bettler, die der Baron ganz und gar nicht ausstehen konnte. „Ich gebe nichts“, pflegte er zu sagen, wenn ihm ein Bettler in die Quere kam. „Ich gebe nichts, denn ich bin ein gerecht denkender Mensch!“
Auf die Frage Baaders, was das wohl für eine merkwürdige Denkungsart wäre, die ihre Gerechtigkeit eher im Geiz denn in der Freigiebigkeit sähe, hatte der Baron geantwortet: „Das verstehen Sie ganz falsch, mein Lieber. Sie mögen sich für barmherzig halten, wenn Sie einem arbeitsscheuen Bettler, der in der Regel noch unverschämt ist, etwas zustecken; ich jedoch denke, daß Sie dabei nur dumm sind, verzeihen Sie wohl, – dumm, da Sie dazu beitragen, einem offensichtlichen sozialen Übelstand, und das ist die Bettlerei nun mal, Fortdauer zu verleihen. Wären hingegen alle so hartherzig wie ich, was ich indes nur gerecht nenne, dann gäbe es schon bald keine Bettler mehr, da die Mitglieder dieses Berufsstandes wegen anhaltender Erfolglosigkeit nach einer anderen, einer wirklichen Beschäftigung Ausschau halten müßten.“
Der Philosoph lächelte; er dachte daran, wie er noch versucht hatte, den Baron mit einer wohl ausgedachten Rede über die Vorzüge christlicher Nächstenliebe in Kenntnis zu setzen – vergeblich. „Lieben Sie, wen Sie wollen“, sagte Uexküll, „lieben Sie die Alten, Armen und Schwachen, lieben Sie Kinder, die Kunst und das Schöne, lieben Sie das Göttliche und das Gute, das sollten Sie sogar, lieben Sie Ihre Frau, denn die ist wachsam – nur die Bettler müssen Sie nicht lieben, denn sie sind mühsam wandelnde Abbilder eines vom Bösen gestifteten, einträglich schlechten Gewissens!“ Baader machte kehrt, er war weit genug gegangen, fand er, um zurückkehren zu dürfen ins vorgewärmte Haus. Sein mutiger Entschluß wurde bestärkt durch den Umstand, daß mittlerweile noch kolossalere Wolken am Himmel aufgezogen waren, sackartige schwärzliche Gebilde, die sich schon bald mit sintflutartigem Regen oder gar dem allerersten Schnee des Jahres entladen würden.
Als der Philosoph auf den Haupteingang des Wohngebäudes zuging, hörte er auf einmal eine Stimme. „Gnädiger Herr, nur eine Frage!“ Ein zerlumpter Mann unschätzbaren Alters stand neben ihm; unerfindlich, woher er gekommen sein mochte. „Wie gesagt nur eine Frage, der Herr“, sagte der Mann, der wie ein Bettler aussah, dem schon bessere Tage beschieden worden waren. „Sie sind doch der bekannte Philosoph Franz von Baader, aus Bayern stammend?“ „Ja doch“, rief Baader. „Aber woher wissen Sie das?“ „Ich weiß es eben“, sagte der Mann, „und ich weiß auch, daß Sie ein bedeutendes Werk geschrieben haben mit dem eingängigen Titel ‚Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet’.“ „Sie erstaunen mich, mein Bester!“ meinte Baader.
„Vielleicht könnten Sie Ihr Erstaunen durch eine mich anerkennende milde Gabe unter Beweis stellen!?“ sagte der Mann. „Ich habe selbst nicht viel“, erwiderte der Philosoph. „Aber ein guter Freund, der Besitzer dieses Anwesens, wird sich Ihnen gegenüber möglicherweise erkenntlich zeigen. Kommen Sie.“ Baader nahm den Mann mit ins Haus, wo alsbald Uexküll auf der Bildfläche erschien. „Ein Bettler!“ rief der Hausherr voller Entsetzen. „Ich gebe nichts. Raus!“ „Sie sind sehr liebenswürdig“, sagte der Mann. „Möge es Euch ergehen wie Abraham, Isaak und Jakob!“ „Das ist ja ganz etwas Neues“, sagte Uexküll. „Ein elender Schnorrer – und höflich dazu! Er segnet mich sogar.“
„Wer spricht hier von Segen“, entgegnete der Bettler. „Ihr scheint die Bibel nicht recht zu kennen, elender Geizhals. Was ich Euch wünsche, ist, daß Ihr umherirrt wie Abraham, blind werdet wie Isaak und hinkt wie der unselige Jakob! Ich empfehle mich, meine Herren!“
Erinnern Sie sich?
Letzte Änderung: 07.05.2025 | Erstellt am: 07.05.2025
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.