Erinnern Sie sich? (An Fontane)

Erinnern Sie sich? (An Fontane)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F. W. Bernstein, Postkarte 2010 | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 20 – Theodor Fonante

Als dem damals bereits 56jährigen Schriftsteller Theodor Fontane im Januar 1876 der Posten eines Ersten Sekretärs der Berliner Akademie der Künste angetragen wurde, schien dies eine glückliche Fügung zu bedeuten. Im Herbst zuvor war der letzte Band von Fontanes Buch über den Krieg von 1870/71 herausgekommen, der, anders als sein 1871 erschienener Erlebnisbericht Kriegsgefangen, zu einem buchhändlerischen Mißerfolg wurde. Fontane, mittlerweile auch als Theaterkritiker für die renommierte Vossische Zeitung tätig, fehlten die festen Einnahmen, auf die besonders seine sicherheitsbedürftige Frau Emilie mit einer gewissen Penetranz drängte. In dieser Situation kam das Angebot, als Akademiesekretär unterzukommen, wie gerufen; die Stelle war gut dotiert und mit der Anwartschaft auf den Titel eines Geheimrates verbunden. Fontane sagte zu, obwohl er Bedenken hatte, für eine Tätigkeit als Kulturbeamter geeignet zu sein. Seine Frau jedoch war es zufrieden; endlich durfte sie darauf hoffen, daß die dürftigen Jahre, mit denen sie sich nie recht abfinden mochte, zu Ende gingen. Diese Hoffnung trog allerdings, denn Fontane, den man am 6. März 1876 in sein neues Amt eingeführt hatte, fand seine Befürchtungen bestätigt: Mit den Aufgaben, die auf ihn warteten, konnte er nicht viel anfangen; zudem mußte er auf zwei bewährte Beamte verzichten, die aus Krankheitsgründen für längere Zeit ausfielen.

Fontane, dem die Ordnungsmechanismen einer Behörde gänzlich fremd waren, sah sich schon bald vom Schlendrian eingeholt, der zum mittleren Chaos zu werden drohte. Ein Besucher, der den damaligen Ersten Sekretär der Akademie in seinen Amtsräumen aufsuchte, erinnerte sich:

»Ich fand ihn eines Tages ratlos vor einem mächtigen Stoß von Aktenbündeln in einer Situation, die einer gewissen Komik nicht entbehrte. Er stand, einen roten Fez auf dem Haupte, sinnend vor einem langen Tisch, auf dessen Holzplatte er mit weißer Kreide eine größere Anzahl Kreise und Nummern gezeichnet hatte, in die er Aktenstücke bald hinein- bald wieder hinauslegte, anscheinend, um sie nach irgendeinem System zu ordnen…«

Nicht nur die fehlende Ordnung war es, die Fontane in seinem neuen Tätigkeitsfeld störte, sondern auch eine grundsätzliche Orientierungslosigkeit, der er sich ausgesetzt sah; seine Arbeit erschien ihm ebenso geheimnisträchtig wie unnütz, er kam sich wie »ein Verwaltungsmensch« vor, der nicht recht wußte, »was er eigentlich verwalten sollte«.

Atmosphärische Störungen in der Akademie sorgten für zusätzliches Mißvergnügen: Fontanes Vorgesetzter, der Präsident und Geheime Baurat Hitzig, ein Mann, der bei passender Gelegenheit gern unpassende Worte machte, geriet mit seinem Sekretär, der von Empfindsamkeiten nicht frei war, einige Male aneinander. Der Dichter als Beamter, der sich in gemessenem Tempo auf seinen Lebensabend zubewegte: diese Idylle ließ sich nicht halten, weil Fontane nicht bereit war, auf seine Selbstachtung zu verzichten. Nach nicht einmal zweimonatiger Tätigkeit als Sekretär reichte er, unter Protest seiner Frau, die Demission ein, der ohne viel Aufhebens stattgegeben wurde. Für das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein und einen neuen Anfang wagen zu können, mußte Fontane, der den häuslichen Frieden schätzte, weil dieser ihm die erforderliche Arbeitsruhe verbürgte, einen längerwährenden Ehekrach in Kauf nehmen.

An seine Vertraute Mathilde von Rohr schrieb er:

»Ja, es ist so, man kann nicht gegen seine innerste Natur, und in jedes Menschen Herz gibt es ein Etwas, das sich, wo es mal Abneigung empfindet, weder beschwichtigen noch überwinden läßt. Ich hatte mich zu entscheiden, ob ich, um der äußeren Sicherheit willen, ein stumpfes, licht- und freudeloses Leben führen oder, die alte Unsicherheit bevorzugend, mir wenigstens die Möglichkeit heiterer Stunden zurückerobern wollte. Ich wählte das letztere, während meine Frau das erstere von mir forderte. Ich würde diese Forderung unendlich lieblos nennen müssen, wenn ich nicht annähme, sie hätte sich in ihrem Gemüt mit dem berühmten Alltagssatze beruhigt: der Mensch gewöhnt sich an alles. Dieser Satz ist falsch. Ich bin so unsentimental wie möglich, aber es ist ganz gewißlich wahr, daß zahllosen Menschen, alten und jungen, das Herz vor Gram, Sehnsucht und Kränkung bricht. Jeder Tag führt den Beweis, daß sich der Mensch nicht(!) an alles gewöhnt. Auch ich würde es nicht gekonnt haben … In allen Lebensstellungen, in denen ich bisher war, auch in denen, die mich nur halb befriedigten, hatte ich immer das Gefühl, innerhalb meines kleinen Kreises etwas zu sein und zu bedeuten. Von Jugend auf bin ich daran gewöhnt, als etwas nicht ganz Alltägliches angesehen zu werden. Dieses süßen Gefühls sollte ich plötzlich entbehren, auch mit gutem Grund entbehren, da alle meine Begabung nicht zu brauchen und alles, was gebraucht wurde, wiederum nicht im Bereiche meiner Begabung war. Ich konnte das Peinliche, das mir daraus erwuchs, nicht auf die Dauer hinnehmen. Wer das, Eitelkeit oder Hochmut nennen will, der tu es. Ich beneide solchen Jammerprinzen nicht um seine Demut …«

Fontanes Entscheidung für die freie Schriftstellerexistenz war, wie er zugab, auch von Eitelkeit bestimmt; nur zu gern hatte er sich daran gewöhnt, daß man einen Dichter in der Regel für interessanter hielt als „den gewöhnlichen Sterblichen“ und entsprechend respektvoll behandelte. Zurückversetzt in die Freiheit nahm die Arbeit an seinem Roman Vor dem Sturm wieder auf, dessen Konzept ihn über mehr als fünfzehn Jahre begleitet hatte. Nun wurde der Roman zur Freude seines Alltags:

»Bei Tage sitz’ ich an meinem Schreibtisch, fleißig bei der Arbeit, am Abend bin ich im Theater, oder lese oder mache einen 2stündigen Dauerlauf am Rande des Tiergartens. Ich bin aus allem Verkehr heraus und werde in diesem ganzen Winter weder eine Gesellschaft besuchen noch Freunde einladen… Ja, der Roman! Er ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung. In der Beschäftigung mit ihm vergesse ich, was mich drückt. Aber wenn er überhaupt noch zur Welt kommt, so werde ich, im Rückblick auf die Zeit, in der er entstand, sagen dürfen: ein Schmerzenskind. Er trägt aber keine Züge davon; er ist an vielen Stellen heiter und nirgends von der Misere angekränkelt. Dies letztere kann ich mit voller Bestimmtheit behaupten … Ich empfinde im Arbeiten daran, daß ich nur Schriftsteller bin und nur in diesem schönen Beruf – mag der aufgeblasene Bildungs-Pöbel darüber lachen – mein Glück finden konnte…«

Fontane dankte ab, um neu anfangen zu können. Eine höhere Fügung schien mit im Spiel zu sein, die nicht nur darauf aus war, einen Dichter, der zum Beamten nicht taugte, der Literatur zurückzugeben, sondern auch zur Besinnung auf seine eigentlichen Möglichkeiten anzuhalten. Fontane war gewillt, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen; an Ideen und respektierlichen Vorhaben fehlte es ihm nicht – nun kam es darauf an, sie in die literarische Tat umzusetzen. Um konzentriert arbeiten zu können, benötigte er, wenn die Finanzen schon nicht stimmten, den ungeteilten Rückhalt der Familie; Zwistigkeiten, über längere Zeit ausgetragen, beeinträchtigten seinen Seelenfrieden, den er, was das Schreiben anging, mit einem funktionierenden Betriebsklima gleichsetzte. So sah er sich gezwungen, Emilies Groll verstärkt zu Leibe zu rücken. Er machte seiner Frau Avancen, gab Verständnis vor für ihren Unmut und versuchte zugleich, seine eigene Situation so unprätentiös wie möglich darzustellen. Ein solcher, mit diskretem Charme zu Werke gehender Einsatz an der Heimatfront konnte auf Dauer nicht ohne Erfolg bleiben: Emilie gab sich wieder zugänglicher, und schließlich deutete einiges darauf hin, daß Fontanes Wagnis, ein freier Schriftsteller zu sein, künftig auch von Haus aus, und sei es nur in den Bahnen geregelter familiärer Umgangsformen, mitgetragen wurde.

Am 30. November schrieb er Mathilde von Rohr:

»In meinem Haus sieht es etwas besser aus; die Stimmung meiner Frau klärt sich auf, das Gewölk verzieht sich; ich habe so eine Vorahnung, daß, wenn nicht neue Schläge kommen, das Schlimmste überstanden ist. Sie trinkt, seit Anfang dieser Woche, Karlsbader, wovon ich mir, da der Trübsinn zu großem Teil eine Folge von Leberaffektionen ist, viel verspreche. Aber sie scheint sich endlich auch in ihrem Urteil anders zu dieser unglückseligen ›Secretair‹-Frage stellen zu wollen. Sie hört jetzt von den verschiedensten Seiten her, daß es, mit alleiniger Ausnahme des Gehalts, nicht bloß eine untergeordnete, unerquickliche Stellung sei, sondern daß man sich auch nicht im geringsten beflissen gezeigt hat, mir diese Unerquicklichkeiten minder fühlbar zu machen. Dies konnte ich aber verlangen! Einem jungen Assessor, der sich eben verheiraten möchte, oder einem armen Teufel mit vielen Kindern und wenig Brot kann man schließlich alles Mögliche zumuten; ich war aber weder das eine noch das andre, sondern ein Mann, der aus einer freien, ihn vollkommen glücklich machenden Tätigkeit heraustrat, um nunmehr durch Übernahme eines leichten, ehrenhaften und gut dotierten Amtes bequemer und im Hinblick auf die Zukunft sorgloser leben zu können. Danach ist man mir aber nie begegnet. Ohne daß man unartig oder beleidigend gegen mich gewesen wäre, was ich mir einfach verbeten haben würde, hat man mich doch nie wie einen etablierten deutschen Schriftsteller, sondern immer wie einen ›matten Pilger‹ behandelt, der froh sein könne, schließlich untergekrochen zu sein…«

Sein Scheitern als Akademie-Sekretär, obwohl wortreich erläutert, empfand Fontane als persönliche Niederlage, die er nicht verdient hatte. Die Zweifel, die ihm nach Abschluß dieser Affäre blieben, galten nicht seinem beruflichen Seitensprung, sondern seiner Position als Autor: vielleicht war er ja gar kein so bekannter Autor, wie er dachte, und man hatte den Sekretär nur so behandelt, wie es der Schriftsteller verdiente. Fontane versuchte, den Zweifeln durch trotzige Eingaben an seine innere Berufung zu begegnen:

»Immer die unsinnige Vorstellung, daß das Mitwirtschaften in der großen, langweiligen und, soweit ich sie kennengelernt habe, total konfusen Maschinerie, die sich Staat nennt, eine ungeheure Ehre sei. Das ›Frühlingslied‹ von Uhland oder eine Strophe von Paul Gerhard ist mehr wert als 3000 Ministerial-Reskripte. Nur die ungeheure Eitelkeit der Menschen, der kindische Hang nach Glanz und falscher Ehre, das brennende Verlangen, den alten Wrangel einladen zu dürfen oder eine Frau zu haben, die Brüsseler Spitzen an der Nachtjacke trägt, nur die ganze Summe dieser Miserabilitäten verschließt die modernen Herzen gegen die einfachsten Wahrheiten und macht sie gleichgültig gegen das, was allein ein echtes Glück verleiht: Friede und Freiheit. Je älter ich werde, je mehr empfinde ich den Wert dieser beiden; alles andere ist nichts; jedenfalls bin ich froh, meinen Kopf noch rechtzeitig aus dieser Schlinge herausgezogen zu haben. Ich habe nun einen Strich darunter gemacht. Eh mich nicht die bittere Not dazu treibt, laß ich mich, in kindischer Nachgiebigkeit und meiner eigensten Natur zum Trotz, auf solche Torheiten nicht weiter ein. Ich habe diese Kränkungen satt…«

Fontanes Bekenntnis zur Selbständigkeit des Schriftstellers bleibt zwiespältig. Er unterwirft sich dem Glück freien Schaffens und führt zugleich Klagen über die finanziellen Belastungen des Alltags, die sich auf die Laune legen. Was ihm fehlt, ist ein Erfolg, der seine Entscheidung für die freie Schriftstellerexistenz eindrucksvoll rechtfertigt. 1878 erscheint sein erster Roman Vor dem Sturm. Fontane ist inzwischen fast sechzig Jahre alt, ein in die Jahre gekommener Debütant, der nun jedoch in einem Tempo sein dichterisches Können vorführt, daß sogar seine Frau, die ihn lieber als Beamten oder Apotheker gesehen hätte, schließlich bewundernd resigniert. An die 20 Romane und Erzählungen schreibt Fontane noch, darunter Meisterwerke wie Effi Briest (1895) und Der Stechlin (1897). Er erweist sich als unauffälliger Virtuose realistischer Beschreibungskunst; scheinbar, unangestrengt, ja gemächlich entfaltet er sein Erzählen, das die Menschen, Zeitumstände und politischen Verhältnisse für sich selbst sprechen läßt.

»Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«,

notiert er und fügt hinzu:

»Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht gelten lasse; treff’ ich aber wirklich mal auf Großes, bin ich ganz kurz. Das Große spricht für sich selbst.«

Wenn die Zuversicht, zu der sich Fontane anhielt, nicht recht greifen wollte, fand er Trost bei einem großen Weltverächter, dem Philosophen Schopenhauer, dessen Pessimismus, von dem zugleich eine merkwürdige Behaglichkeit ausging, ihm zusagte. Das Weltbild des Frankfurter Denkers war Fontane durch den kauzigen Privatier und ehemaligen Ziegelei-Unternehmer Carl Ferdinand Wiesike nahegebracht worden, der im Havelland residierte, eine homöopathische Privatpraxis betrieb und an der Verbreitung der Schopenhauerschen Philosophie im Stile eines generösen Generalagenten mitwirkte. Wiesike, der gern Gäste um sich versammelte, die er mit erlesenen Weinen zu bewirten pflegte, hatte Fontane im Jahre 1874 kennengelernt und einige Male auf sein Anwesen an der Havel eingeladen, wo das Gedenken an den Philosophen zumeist recht munter ausgetragen wurde:

»Die Gänge wechselten, die Rheinweine lösten sich untereinander ab, und der silbernen Weinkühler auf dem Tische wurden immer mehr. Trinkspruch reihte sich an Trinkspruch. ›Der Sieg der Wahrheit, der Sieg der guten Sache‹ wurde proklamiert, alles unter der Fahne ›Similia similibus‹, und nachdem schließlich der Kaffee von allen Seiten her als das Hauptgift der Menschheit festgestellt worden war, schritt man dazu, ihn einzunehmen…«

Schopenhauers Weltsicht paßte zu Fontanes Stimmungslage, die den schönen Schein als Wunschziel setzte, dem täglichen Treiben aber mit verhaltenem Groll gegenüberstand. Der Frankfurter Philosoph Schopenhauer hatte der Welt bewiesen, daß aus ihr nichts Gutes kommen konnte; dieser Meinung schloß sich der Berliner Dichter Fontane nur zu gern an. Wenn er sich umschaute, sah er Anmaßung, Inkompetenz und Mittelmäßigkeit, die sich überall breitmachten. Den Mühen der Differenzierung, die schon Schopenhauer bei seinen Gesellschaftsanalysen gescheut hatte, mochte sich auch Fontane nicht weiter unterziehen; für ihn, der seine Arbeit weit unter Wert gewürdigt sah, bestand die Öffentlichkeit aus einem nur beschränkt handlungsfähigen Ensemble von Karrieristen und unsensiblen Staatsdienern. Später, als es deutliche Anzeichen dafür gab, daß man ihm die Anerkennung nicht länger versagen mochte, nahm er Abstand von der einen oder anderen schroffen Beurteilung; die Front der Ignoranten schien abzubröckeln, und sogar in jenem Berufsstand, den Schriftsteller für den am wenigsten lernfähigen halten, bei den Kritikern, waren auf einmal »Männer mit Sachverstand« auszumachen, wie Fontane erfreut konstatierte. An Schopenhauers Philosophie hielt er dennoch fest.

Als Freund Wiesike 1880 starb, schrieb Fontane in seinem Nachruf:

»Seinen Schopenhauer hatte er wohl zwanzigmal gelesen, bis zum Auswendigwissen ganzer Kapitel, und war in jeder Faser seines Wesens von ihm durchdrungen. Und daß der Pessimismus nicht ruiniert, sondern unter Umständen auch eine fördernde, humanitäre Seite hat, dessen konnte man an dem alten Wiesike gewahr werden. Er hatte das Mitleid – nach Schopenhauer der Menschheit bestes Teil -, und es sind ihrer viele, die die Segnungen dieses Mitleids erfahren haben. Es mögen jetzt sieben Jahre her sein, daß ich den alten Herrn auf seiner anmutigen Besitzung kennenlernte. Seitdem sah ich ihn öfter, meist wenn ich abgearbeitet und elend war, und nie bin ich von ihm fortgegangen, ohne mich an seiner Havel, an seinem Wein und, um das Beste nicht zu vergessen, an ihm selber erholt zu haben. Er verstand zu beleben, zu trösten, ohne daß je ein Trosteswort über seine Lippen gekommen wäre… Ich kann seiner nicht ohne Dank und Rührung gedenken und zähle die mit ihm verplauderten Stunden zu den glücklichsten und bestangelegten meines Lebens…«

Dank Schopenhauer glaubte Fontane zu wissen, warum es so ungerecht zuging im Leben. Die philosophische Begründung dafür, eine eher lähmende Botschaft, war vielseitig verwendbar, ohne daß sie dazu getaugt hätte, private Probleme zu lösen. Im besonderen den Mitleids-Gedanken, Schopenhauers universell gewendetes Umgangsprinzip für ein halbwegs geordnetes und entschärftes Dasein, wußte Fontane für sich zu nutzen; er bedauerte die allgemeine Schlechtigkeit, und er hatte Mitleid, vorzugsweise mit sich selbst. Die selbstverordnete Zufriedenheit, die sich daraus ergab, erschien mit der Zeit immer gefestigter:

»Je besser man seine Pappenheimer kennenlernt, je mehr man sieht, wie dumm alles liegt, oft sogar innerhalb des Metiers, sicher aber, wenn es über das Metier hinausgeht, – je mehr man sich mit dieser Erkenntnis durchdringt, je heiterer wird man. Aller Ärger fällt fort, und man resigniert sich dahin: ›Nach Lage der Sache geht es einem eigentlich noch sehr gut‹ … «

Als Schriftsteller mußte Fontane in die Freiheit entlassen werden, um sein Glück zu erzwingen. Der Lauf der Dinge, das wußte der versierte Schopenhauerianer, steht im Grunde fest, obwohl oder gerade weil es immer wieder Zumutungen und Überraschungen gibt, die das Gleichmaß des Geschehens unterlaufen:

»Was unser Leben bestimmt, sind eben ›Zufälligkeiten‹, Ereignisse, deren Gesetz wird nicht klar erkennen. Aber wir ahnen dies Gesetz und fühlen in dem sich anscheinend zufällig Vorziehenden den Zusammenhang mit unserem Tun und Lassen heraus. Nicht immer, aber oft. Unser Gutes und unser Böses sind auch hier mittätig, und es besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen unserer Schuld und dem, was wir ›unglücklichen Zufall‹ nennen … Zum Glück balanciert der Himmel alles, und die Blinden sehen mit ihren Fingerspitzen. Die Dinge beobachten, gilt mir beinah mehr, als sie besitzen, und so hat man schließlich seinen Glücks- und Freudeertrag wie anscheinend Bevorzugtere… «

Fontanes letzter Roman Der Stechlin ist ein Abgesang auf eine Zeit, die sich selbst überlebt hat, es aber nicht wahrhaben will. »Das alte Preußen mit König und Armee«, läßt er seinen Helden Dubslav von Stechlin sagen,
bq. »ist trotz all seiner … altmodischen Geschichten immer noch besser als das von neuestem Datum.«

Die »neue Gesellschaft« hingegen, „und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt, ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muß sie zugrunde gehen.« Als der alte Stechlin stirbt, hält sein Freund Pastor Lorenzen eine Grabrede, die, auszugsweise, wohl auch auf den Autor Theodor Fontane gemünzt sein könnte:

»Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah; aber für die, die sein wahres Leben kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer. Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz.«

ERINNERN SIE SICH?

Letzte Änderung: 02.06.2025  |  Erstellt am: 23.05.2025

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