
Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
Nr. 24 - Epikur
Auch wenn man der Philosophie heute nicht mehr so viel zutraut
wie früher, hat sie doch immer noch den Ruf, sich vorwiegend mit Problemen zu beschäftigen, die in den anderen Wissensgebieten kein Interesse mehr finden oder bereits als gelöst gelten. Philosophen pflegen demnach einen vergleichsweise unnützen Zeitvertreib – eine Meinung, die man teilen mag, wobei allerdings der Hinweis gestattet sein sollte, daß philosophische Fragen wie etwa diejenigen nach Gott, Seele, Welt, nach Realität und Idealität, nach Subjekt und Objekt altehrwürdige und damit wiederkehrende Fragen sind: Sie erweisen sich als unabweislich – man kann sie ausklammern, aber nicht leugnen. So scheint sich, letztendlich, gar nicht so viel verändert zu haben: Die Philosophie ist bescheidener geworden, aber es gibt sie noch, und sie muß für die Nische, die sie noch immer besetzt hält, etwas mehr an Abgaben entrichten als in ihren Glanzzeiten, in denen man es noch gut mit den Philosophen meinte.
In der Antike beispielsweise wurde ein Philosoph fast automatisch
mit der Weisheit in Verbindung gebracht, auch wenn er selbst vielleicht gar nicht so sonderlich helle war. Man nahm der Philosophie ab, daß sie dem Leben, dem irdischen und überirdischen, auf den Grund gehen wollte, daß sie nach der Gerechtigkeit fragte und nach dem Guten und Schönen fahndete. Allerdings hatte auch die Philosophie bereits ihre beginnende Geschichte: In Griechenland, wo sie ihre erste und eigentliche Blüte erlebte, setzte nach dem Ableben des berühmten Platon ein kaum merklicher Auflösungsprozeß ein, der parallel lief zu gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen, auf welche die Philosophie mit einem dezenten Rückzug ins private Dasein reagierte. Eine solche Bescheidung trug nicht unbedingt zur Aufrechterhaltung des früheren, durchaus gediegenen Rufes bei; man begann damit, in den Philosophen Zeitgenossen zu sehen, die bei dem Bemühen, der Weisheit ihre Stimme zu leihen, auch einen gewissen Hang zum Abseitigen entwickelten.
Als der Philosoph Epikur, der im Jahre 341. v. Chr. auf der Insel Samos geboren wurde, zur Philosophie kam, herrschte eine solche Zeit der zurückgenommenen Einflußnahme. Es gab nicht gerade wenige Philosophen, und es kursierte eine Vielzahl von Lehren und Meinungen, die allesamt mit dazu beitrugen, daß die Orientierung der Menschen nicht sicherer, sondern eher schwieriger geworden war. Ein Philosoph galt weniger als früher; zwar richtete er noch immer sein Nachdenken auf die bekannten Fragen, aber mit den Antworten, die er gab, vermochte er nicht mehr so recht zu überzeugen. Die philosophischen Lehrer konzentrierten sich hauptsächlich auf ihre Schüler, die eine gewisse Treue an den Tag legten, aber auch manche Stunde damit verbrachten, sich am jeweiligen weltanschaulichen Gegner zu reiben. Der große Durchbruch zu einer allgemeinverbindlichen Wahrheit war kaum noch zu erwarten; so mutete es nur folgerichtig an, daß eine stillschweigende Aufteilung des Wissens in verschiedene Wissensgebiete vonstatten ging – ein Vorgang, dessen Resultate uns heute längst zur Gewohnheit geworden sind. Erziehung und allgemeiner Unterricht bezogen Distanz zur Philosophie, die, ohne es zu wollen, in die Rolle einer reizvollen Eigenbrötlerin hineinwuchs. Epikurs Vater, ein Lehrer, sah sich unmittelbar in diese Situation hineinversetzt: Er nahm den Sohn, der als zweites von vier Kindern geboren wurde, mit zur Schule, um ihn so früh wie möglich in einen Unterricht zu integrieren, der solide Bildung vermitteln sollte. Für die Kunst, Fragen zu beantworten, die keiner gestellt hatte, waren, nach wie vor, die Philosophen zuständig, von denen es auch auf Samos einige gab – allen voran der Platoniker Pamphilos, von dem später behauptet wurde, es sei ihm gelungen, Epikur bereits als elfjährigen Knaben in die Grundzüge des philosophischen Denkens einzuweihen.
Es ist heute nicht mehr festzustellen, was in der antiken Philosophiegeschichtsschreibung, die der dichterischen Phantasie
ohnehin breiten Raum einräumte, als Wahrheit gelten darf und was zur Legendenbildung gehört. Auf jeden Fall kann die Geschichte von der philosophischen Unterweisung, die Epikur bei dem erwähnten Pamphilos angeblich nur allzu bereitwillig über sich ergehen ließ, tunlichst bezweifelt werden. Wahr hingegen scheint der Bericht des Sextus Empiricus zu sein, der Epikur, dem Lehrersohn, eine früh entwickelte Lernverdrossenheit zuspricht: Danach habe es der Knabe noch nicht einmal eine Stunde in der Schule ausgehalten, was an einem Vorfall lag, den der Chronist wie folgt beschreibt: „‚Am Anfang entstand das Chaos‘, sprach der Lehrer zu den Schülern. ‚Und woraus entstand es?‘ fragte Epikur. ‚Das können wir nicht wissen‘, erwiderte der Lehrer, ‚dies ist eine Frage, mit der sich die Philosophen beschäftigen.‘ ‚Und wozu soll ich dann hier meine Zeit verschwenden?‘ entgegnete Epikur. ‚Dann kann ich doch lieber gleich zu den Philosophen gehen.‘“ Für diese kleine Erzählung spricht, daß sie auch bei anderen Philosophiehistorikern Erwähnung findet. Epikur scheint danach im jugendlichen Alter von vierzehn Jahren nachhaltig mit der Philosophie in Berührung gekommen zu sein. Sie musste ihm wie eine Wissenschaft vorkommen, die gerade deshalb hochinteressant wirkte, weil ihr Mut zum grundlegenden Zweifel und zur kühnen Unentschiedenheit für nicht vereinbar mit dem anerkannten Unterrichtsstoff gehalten wurde. Dabei beschäftigte sich die Philosophie, wie Epikur sie sah, doch gerade mit dem, was als das eigentlich Bedenkenswerte im Leben gelten konnte. Es durfte daher nicht verwundern, daß der junge Mann, der mit achtzehn Jahren nach Athen gerufen wurde, um dort seinen Wehrdienst abzuleisten, der Philosophie, die ihm als eine Art erste große Liebe diente, geradezu unbeirrt die Treue hielt, was ihm um so leichter fiel, als er nicht gerade an mangelndem Selbstbewußtsein litt, so daß ihm auch einige Wissenslücken, die sich aus seiner Schulabsenz ergaben, keine größeren Sorgen bereiteten.
Epikurs Stolz hatte etwas Unbeirrbares an sich. Obwohl eher als Autodidakt denn als fleißiger Student zum Philosophen gereift, trat er, so wird berichtet, schon in jungen Jahren wie ein Altmeister auf, der sich auch von verdienten und anerkannten Vertretern seines Fachs kaum beeindrucken ließ. In Athen bekam er Gelegenheit, Xenokrates, den amtierenden Chef der Platonischen Akademie, und Aristoteles zu hören, wobei es nicht ganz sicher ist, ob er diese Gelegenheiten auch nutzte. Auf jeden Fall äußerte er sich unfreundlich über beide Herren – wie ihm überhaupt die anderen Philosophen, mit Ausnahme vielleicht Demokrits, über den er gelegentlich ein karges Lob fallenließ, herzlich egal waren; sie erschienen ihm als Wichtigtuer, die über Dinge redeten, von denen sie erwiesenermaßen nicht viel verstanden.
Nachdem er seinen Militärdienst abgeleistet hatte, siedelte sich Epikur zunächst im kleinasiatischen Kolophon an, da ihm die Rückkehr nach Samos, das vorübergehend nicht mehr zum Einflußgebiet Athens gehörte, verwehrt war. Trotz seiner frühen Hinwendung zur Philosophie gelang es Epikur erst relativ spät, ein eigenes philosophisches System auszubilden. Im Alter von 32 Jahren, so wird berichtet, gründete er in Mytilene auf Lesbos eine Schule, die sich ausschließlich mit Pflege und Verbreitung seiner Philosophie befaßte. Die Schüler, die er um sich scharte, waren ihm innig ergeben, was für die Führungsqualitäten sprach, die ihm nachgesagt wurden. Man rühmte seine freundlichen, ja liebenswürdigen Umgangsformen und die geradezu väterliche Einflußnahme, die er an den Tag legte, wenn es um das Wohlbefinden seiner Zöglinge ging. Nur seine Berufskollegen, im besonderen die Intellektuellen unter den Philosophen, bedachte Epikur noch immer gern mit Spott und Häme; einfache Leute hingegen behandelte er höflich und mit freundlichem Respekt – ein Verhalten, das gängigen Gepflogenheiten zuwiderlief. Daß die Schüler, die den Kontakt zu Epikur suchten, immer mehr wurden, hatte allerdings auch mit der frappierenden Sicherheit seines Auftretens zu tun. Man merkte, daß sich hier ein Denker in der ihm gemäßen Öffentlichkeit bewegte, der absolut überzeugt war von dem, was er lehrte und verkündete.
Epikur strahlte die Gelassenheit eines philosophischen Selfmademans
aus; Zweifel erlaubte er sich nur, wenn er andere, ihm fremd bleibende Gedankengänge zu bewerten hatte. Eine solche Selbstsicherheit mußte Eindruck schinden – gerade in Zeiten, die an Unsicherheiten reich waren und mit festen Gewissheiten nicht mehr im gleichen Maße wie früher dienen konnten. Hinzu kam die Faszination des Freundschaftskults, der im Umkreis des Philosophen betrieben wurde. Die Anhänger Epikurs, die sich um ihn, den Meister, scharten, waren Freunde fürs Leben, was nach dem Verständnis seiner Ethik weit mehr bedeutete als den Nachweis einer wichtigen Tugend, über die man nach Bedarf verfügen durfte. Freundschaft stand höher im Kurs als die Liebe, von der das Schul-Oberhaupt ohnehin nicht sehr viel hielt: Liebe, im besonderen ihre physische Variante, bedeutete Verwirrtheit und körperliche Überanstrengung, die zu einem Ungleichgewicht im leiblich-seelischen Gesamthaushalt führte; letztendlich blieb der Liebe, wie Epikur sie sah, nur der Rang einer vergänglichen Gefühlsaufwallung, während wahre Freundschaft sich erhaben zeigte über die ihr zugemuteten Krisen und Beeinträchtigungen.
Die Epikureer wuchsen im Lauf der Zeit zu einer immer größer werdenden Familie zusammen, die Sicherheit, Vertrauen und eine dazu passende Weltanschauung bot, an die man sich bedenkenlos halten konnte. Im Jahre 306 übersiedelte Epikur mitsamt seiner Anhängerschaft nach Athen. Ziel des Umzugs war eine noch größere Verbreitung der epikureischen Lehre, um die sich mittlerweile schon die ersten Legenden rankten. Der Philosoph selbst, obwohl er Maßhalten und Bescheidenheit predigte, war ehrgeizig genug, den Vergleich mit anderen philosophischen Schulen zu suchen, von denen es in Athen etliche gab. Er erwarb für sich und die Seinen ein lauschiges Gartengrundstück, auf dem die Schule ihr angemessenes Domizil fand. Der Garten galt schon bald als Markenzeichen der von Epikur verbreiteten Philosophie, die man gern mit der Pflege privater Zurückgezogenheit im idyllisch abgeschotteten Zirkel in Verbindung brachte – ein Verständnis, das noch als vergleichsweise wohlwollend gelten durfte, da es bereits andere Stimmen gab, die sich deutlich gehässiger äußerten.
In vorgeblich vornehmeren Kreisen zog man gegen die volkstümlichen Tendenzen der epikureischen Schule zu Felde: Der Zugang zum Garten des Meisters stand im Prinzip allen offen, auch Sklaven und Hetären, an deren gelegentlicher Anwesenheit man sich besonders stieß. So wurde Epikur flugs ein Verhältnis mit gleich fünf Liebesdamen angedichtet, mit denen er, so das Gerücht, sein Lager gleichzeitig zu teilen pflege. Die Epikureer, so hieß es weiter, frönten nicht nur der Sinneslust, sondern auch ungehemmten Schlemmereien; ihre ethisch-moralischen Aktivitäten beschränkten sich darauf, gegen das anhaltende Völlegefühl anzugehen, das sie aufgrund ihres einseitig auf Liebes- und Gaumengenuß spezialisierten Lebenswandels regelmäßig beschleiche. Es entstanden, in stetiger Abfolge, all jene Entstellungen und Mißverständnisse, die bis auf den heutigen Tag das Meinungsbild vom Epikureertum prägen. Die Kampagne, der sich der Philosoph ausgesetzt sah, gipfelte in fünfzig schlüpfrigen, mit Epikurs Namen signierten Briefen, die ein Mann namens Diotimos, ein Stoiker, in Umlauf brachte. Wer diese Schriftstücke las, mußte der Meinung sein, daß der Briefschreiber wohl tatsächlich nichts anderes im Sinn hatte als seine luxuriös gewandete Behaglichkeit, für die er unentwegt und dreist Sorge zu tragen wußte. Epikur selbst hielt, einmal mehr, die negative Grundeinschätzung für bestätigt, mit der er die allermeisten seiner Philosophenkollegen bedacht hatte; sie brachten, wie er glaubte und an seine Schüler weitergab, nicht nur keine vernünftige Philosophie zustande, sondern scheuten auch vor geistigem Rufmord nicht zurück.
Die negative Stimmungsmache, die seiner Lehre und Schule galt, entzündete sich jedoch auch an dem Erfolg, den Epikur weiterhin verbuchen konnte: Obwohl oder vielleicht gerade weil sein Freundeskreis bewußt im Privaten wirtschaftete, strömten ihm neue Mitglieder und Interessenten zu. Was sie anzog, war neben der familiären Atmosphäre, die an der Schule herrschte, eine bemerkenswerte Folgerichtigkeit, die Epikurs Denken auszeichnete: Seine Philosophie, so schien es, hatte mehr mit unaufdringlicher Weltweisheit zu tun als mit mühsamen Gedankenkonstruktionen, denen die Blässe der Theorie bis zur letzten Schlußfolgerung anhaftete. Was Epikur über Leben und Tod, über Lust und Unlust, über Schmerz und Genuß und die darauf aufbauende Kunst einer sinnvollen Lebensführung sagte, machte Eindruck, weil es überzeugend war und auch schlichtere Gemüter anzusprechen vermochte: „Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was aufgelöst ist, ist ohne Empfindung; was aber ohne Empfindung ist, das hat keine Bedeutung für uns. – Grenze der Größe der Lust ist die Beseitigung alles dessen, was Schmerz erregt. Wo auch immer das Lusterregende auftritt, da findet sich, solange es verweilt, nichts was Schmerz erregt oder Leid oder beides zusammen. – Ein lustvolles Leben ist nicht möglich ohne ein einsichtsvolles, lobwürdiges und gerechtes Leben.– Keine Lust an sich ist ein Übel; aber das, was uns zu gewissen Lüsten verhilft, führt mannigfache Störungen der Lüste mit sich. – Wenn das, was die Schlemmer zu ihren Genüssen hintreibt, imstande wäre, die Beängstigungen des Geistes und das Zagen vor den himmlischen Erscheinungen sowie von Tod und Schmerzen zu bannen und außerdem auch die richtige Lehre einzuprägen über das begrenzende Maß der Begierden, so hätten wir keinen Grund, sie zu tadeln, da diese Genüsse allseitig nur eine Fülle von Lustempfindungen zeigen und nirgends eine Spur von Schmerz oder Seelenleid, in dem doch das Übel besteht. – Es ist nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Lebensfragen zu befreien, wenn man nicht Bescheid weiß über die Natur des Weltalls, sondern sich in Mutmaßungen mythischen Charakters bewegt. Mithin ist es nicht möglich, ohne Naturerkenntnis zu unverfälschten Lustempfindungen zu gelangen.“
Die Skala der Lustempfindungen, die Epikur aufstellte, war nach oben keineswegs offen, sondern in sich begrenzt. Lust galt ihm als unaufgeregtes und grundsolides Wohlbefinden, das Konstanz sucht. Dabei trat der Philosoph wie ein erfahrener Genußvirtuose auf, der anscheinend schon alles durchgemacht hatte und insofern wissen mußte, wovon er sprach. Ein solcher Gestus machte Eindruck – gerade bei den jüngeren Schülern, von denen anzunehmen war, daß sie vieles, was in den Bereich schierer Lebensfreude fiel, erst noch vor sich hatten. Auf Sympathie stieß auch Epikurs Bekenntnis zur einfachen Wahrnehmung, die den Weg über die Sinne nehmen, denen der Philosoph sein grundsätzliches Vertrauen aussprach: Sie geben nur die Bilder der Wahrheit wieder, wie sie beim Menschen eintreffen; von allen Versuchen, die Wahrnehmungen durch zusätzliche Vernünfteleien zu verfälschen, sollte er sich daher freihalten: „Jede Wahrnehmung gilt rein für sich und hängt nicht ab von Verstand und Gedächtnis; denn sie wird weder durch sich selbst bewegt noch kann sie, von etwas anderem bewegt, irgend etwas hinzusetzen oder wegnehmen. Auch gibt es nichts, was sie widerlegen könnte; denn es kann weder eine gleichartige Wahrnehmung eine gleichartige widerlegen, denn die eine hat ja denselben Wert wie die andere, noch die ungleichartige die ungleichartige, denn der Gegenstand ihrer Beurteilung ist ja ein verschiedener; ebensowenig der Verstand, denn der Verstand hängt durchweg von den Sinneswahrnehmungen ab; überhaupt kann keine die andere widerlegen, denn unsere Aufmerksamkeit ist auf alle in gleicher Weise gerichtet. Und der tatsächliche Bestand des unmittelbaren Wahrnehmungsgefühls bürgt auch für die Wahrheit der Wahrnehmungen. Daher muß man auch von dem Sichtbaren ausgehen, um sich das Unsichtbare zu deuten. Hat doch unsere ganze Gedankenwelt ihren Ursprung in den Wahrnehmungen, deren mannigfache Umstände, Analogie- und Ähnlichkeitsverhältnisse sowie Zusammensetzung für sie bestimmend sind, wobei allerdings die Überlegung als mitwirkend auftritt.“
Epikurs Überzeugungskraft resultierte zudem aus dem Umstand, daß er seine Philosophie mit einer Art naturwissenschaftlichen Absicherung versah, die der Kundschaft suggerierte, es könne sich letztlich nur um ein einheitliches Schöpfungsprinzip handeln, dem makro- und mikrokosmische Strukturen ihre Formgebung und ihr gesetzmäßiges Ineinanderwirken verdanken. Die treibenden Kräfte dabei sind die Atome, denen Epikur einen ähnlichen Rang zusprach wie Demokrit, über dessen physikalische Theorien er im übrigen nur unwesentlich hinausging. Was Epikur den Atomen indes konzedierte, war ein Recht auf Abweichung, das Demokrit nicht vorgesehen hatte, da er die kleinsten seiner Weltbausteine im geraden Fall belassen wollte. So konnte Epikur immerhin feststellen, daß gerade aufgrund der Eigenwilligkeit atomaren Gebarens die Unendlichkeit direkt über den Köpfen der Menschen beginnt: Nicht eine einzige Welt ist es, auf die sich der Mensch einzustellen hat, sondern es sind deren unendlich viele: „Das All ist unendlich, denn alles Begrenzte hat ein Äußerstes. Das Äußerste aber setzt immer etwas anderes neben ihm voraus, mit dem es verglichen wird (neben dem All aber gibt es nichts, was mit ihm verglichen werden könnte). Es hat also kein Äußerstes und demnach auch kein Ende. Hat es aber kein Ende, so muß es eben unendlich und nicht begrenzt sein. Und zwar muß diese Unbegrenztheit des Alls sich sowohl auf die Menge der Körper beziehen wie auf die Größe des leeren Raumes. (…) Es gibt unzählige Welten, teils ähnlich der unseren, teils unähnlich. Denn die Atome, zahllos, wie sie … sind, bewegen sich auch in die unangemessenste Ferne. Sind doch derartige Atome, aus denen eine Welt entstehen oder durch die eine Welt geschaffen werden könnte, weder für eine Welt aufgebraucht noch für eine begrenzte Zahl von Welten möglich, mögen sie nun der unseren gleichen oder von ihr verschieden sein. Nichts also steht der Annahme einer unendlichen Weltenzahl im Wege.“
Die Räume zwischen den Welten belebte Epikur mit den Göttern, die er an sich für seine Philosophie gar nicht benötigte und deswegen auch mit höflichem Desinteresse behandelte. Immerhin bequemte er sich zu der Aussage, daß die Götter nicht nach dem Bilde geformt sein könnten, das sich die gewöhnliche Volksmeinung von ihnen mache: Epikur mochte mit keinem menschenähnlichen Himmelspersonal umgehen, das sich von seinen irdischen Verwandten nur durch den etwas anderen Wohnsitz und eine fingierte Unsterblichkeit unterschied. Dann sollten die Götter, wenn es sie denn überhaupt geben mußte, lieber unbekannt und unentdeckt bleiben; in den Zwischenwelten lebten sie ihr Leben, uninteressiert am Treiben auf Erden, aber vermutlich ähnlich zufrieden wie die Epikureer in ihrem Garten: „Es gibt Götter, eine Tatsache, deren Erkenntnis einleuchtend ist; doch sind sie nicht von der Art, wie die große Menge sie sich vorstellt; denn diese bleibt sich nicht konsequent in ihrer Vorstellungsweise von ihnen. Gottlos aber ist nicht der, welcher mit den Göttern des gemeinen Volkes aufräumt, sondern der, welcher den Göttern die Vorstellungen des gemeinen Volkes andichtet. Denn was die gemeine Menge von den Göttern sagt, beruht nicht auf echten Begriffen, sondern auf wahrheitswidrigen Mutmaßungen.“
Den Seinen legte Epikur, unermüdlich und getragen vom Gewicht der eigenen Überzeugung, eine Zufriedenheit nahe, für die bereit blieb, wer sie einmal im wesentlichen verinnerlicht hatte; als Lebensziel wächst diese Zufriedenheit schließlich über sich hinaus und wird zur Seelenruhe – ein Zustand vollkommener innerer Ausgeglichenheit, in dem alles, vor allem aber Lust und Schmerz als wesentliche Befindlichkeitsfaktoren,
so dezidiert ineinandergreifen, daß sie sich wechselseitig schon fast wieder neutralisieren. In einem Brief an seinen Schüler Menoikeus hat Epikur – so als wollte er damit den wenigen noch lernfähigen unter seinen Kritikern eine letzte oder vorletzte Gelegenheit zum Umdenken geben – noch einmal zusammengefaßt, was das eigentliche Konzentrat der Lehre ist, für die man ihn bereits ausführlich gerühmt und gescholten hatte: „Wenn wir also die Lust als das Endziel hinstellen, so meinen wir damit nicht die Lüste der Schlemmer und solche, die in nichts als dem Genusse selbst bestehen, wie manche Unkundige und manche Gegner oder auch absichtlich Missverstehende meinen, sondern das Freisein von körperlichem Schmerz und von Störung der Seelenruhe. Denn nicht Trinkgelage mit daran sich anschließenden tollen Umzügen machen das lustvolle Leben aus, auch nicht der Umgang mit schönen Knaben
und Weibern, auch nicht der Genuß von Fischen und sonstigen Herrlichkeiten, die eine prunkvolle Tafel bietet, sondern eine nüchterne Verständigkeit, die sorgfältig den Gründen für Wählen und Meiden in jedem Falle nachgeht und mit allen Wahnvorstellungen bricht, die den Hauptgrund zur Störung der Seelenruhe abgeben. – Für alles dies ist Anfang und wichtigstes Gut die vernünftige Einsicht; daher steht die Einsicht an Wert auch noch über der Philosophie. Aus ihr entspringen alle Tugenden. Sie lehrt, daß ein lustvolles Leben nicht möglich ist ohne ein einsichtsvolles und sittliches und gerechtes Leben, und ein einsichtsvolles, sittliches und gerechtes Leben nicht ohne ein lustvolles. Denn die Tugenden sind mit dem lustvollen Leben auf das engste verwachsen, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar … Dies und dem Verwandtes laß dir Tag und Nacht durch den Kopf gehen und ziehe auch seinesgleichen zu diesen Überlegungen hinzu, dann wirst du weder wachend noch schlafend dich beunruhigt fühlen, wirst vielmehr wie ein Gott unter Menschen leben. Denn keinem sterblichen Wesen gleicht der Mensch, der inmitten unsterblicher Güter lebt.“
Mit dem Gedanken, daß auch dem lebenslangen Umgang mit der Philosophie eine anfängliche, in sich höhergestellte Einsicht vorangehen müsse, fand Epikur zu seinem Schlüsselerlebnis zurück, das, als Konsequenz einer unbefriedigenden Antwort auf eine gutgemeinte Frage, ihn zu der Einsicht brachte, daß seine Wißbegier wohl nur dort gestillt werden könne, wo man noch nach den Gründen, auch nach den Hintergründen sucht: bei den Philosophen nämlich, die einer weithin verstreuten Spur folgen, von der niemand weiß, wer sie denn überhaupt gelegt haben könnte. Über dreißig Jahre stand Epikur seiner Schule vor, der er in Athen, das unter schnellebigen politischen Verhältnissen litt, den Bestand sicherte. Das Arrangement mit den Mächtigen gehörte nicht unbedingt zum Programm der Epikureer, es war aber auch nicht ausdrücklich verboten. Die offizielle Politik, die immerhin eine gewisse Notwendigkeit für sich beanspruchen konnte, wurde von Epikur mit Mißachtung gestraft; es lohnt nicht, sich mit ihr abzugeben, weil die Erfolge, die sie bestenfalls erzielen kann, keinem Vergleich standhalten mit dem einen menschenmöglichen Glückszustand, der Seelenruhe. Von eben diesem lenkt die Politik ab, desgleichen von dem anderen Ideal, das Epikurs Philosophie auszumalen versteht: der großen Freundschaft. Ein Schüler des Meisters, Philodemos von Gadara, der im 1. Jahrhundert v. Chr. in der Nähe von Neapel lehrte, verkündete dazu: „Was zerstört die Freundschaft auf der Erde am meisten? Das Handwerk der Politik. Beobachtet den Neid der Politiker auf diejenigen, die versuchen, sich hervorzutun, die Rivalität, die zwangsläufig unter den Konkurrenten entsteht, den Kampf um die Eroberung der Macht und die entschiedene Organisation von Kriegen, die nicht nur das Individuum, sondern ganze Völker zerrütten.“
Epikur starb im Jahre 270 an einem Nierenleiden, das ihm ungeheure Schmerzen bereitete. Trotzdem oder gerade deswegen inszenierte er seinen Tod standesgemäß: Er ließ sich, wie der Chronist berichtet, seine bronzene Badewanne mit lauwarmem Wasser füllen, legte sich hinein und verlangte nach einem letzten Becher mit unverfälschtem Wein. Nachdem er ihn geleert hatte, ermahnte er die um ihn versammelten Schüler zur Treue der Philosophie gegenüber und zur Pflege ihrer gemeinsamen Freundschaft. Danach schloß er die Augen; fürwahr ein stilvoller Abgang, den er kurz zuvor noch mit einem Brief an seinen Schüler Idomeneus eingeläutet hatte: „Es ist der gepriesene Festtag und zugleich der letzte Tag meines Lebens, an dem ich diese Zeilen an euch schreibe. Harnzwang und Dysenterie haben sich bei mir eingestellt mit Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß überschreiten. Als Gegengewicht gegen alles dies dient die freudige Erhebung der Seele bei der Erinnerung an die zwischen uns gepflogenen Gespräche …“
ERINNERN SIE SICH?
Letzte Änderung: 15.08.2025 | Erstellt am: 09.07.2025
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