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Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.
No. 14 – Cioran
ERINNERN SIE SICH?
Wenn ihm danach ist, gibt es der Herr den Seinen im Schlaf, was manchmal noch anhält, wenn der Schlaf sich rar macht und zur Schlaflosigkeit wird. Sie wissen das, und ich weiß es auch, wobei ich mit dem Schlaf eigentlich gar keine Probleme hatte. Der Schriftsteller und Essayist Émile Michel Cioran hingegen litt unter massiven Schlafstörungen und gelangte zur wiederkehrenden Einsicht, daß es mit Gott und der Welt nicht weit her sein kann. Cioran, geboren 1911 im rumänischen Hermannstadt, gestorben 1995 in Paris, verfiel auf seinen Grundgedanken als junger Mann von gerade mal einundzwanzig Jahren: „Ich habe damals Philosophie studiert. Philosophie ist sehr gefährlich für junge Leute, man ist unglaublich von sich selbst eingenommen. Dann geschah etwas in meinem Leben, ein Zusammenbruch. Ich habe den Schlaf verloren. Alle meine Nächte wurden schlaflose Nächte … Und dann habe ich mir gesagt: Du mußt ein Buch schreiben! So entstand mein erstes Buch ‚Auf den Höhen der Verzweiflung’. Ich hatte mehrere Titel im Kopf, aber ich konnte mich nicht entscheiden. Ich ging ins Café und fragte einen Kellner: Welchen von diesen drei oder vier Titeln würden Sie wählen? So war es bei meinem ersten Buch und beim nächsten auch.“
Ciorans Erstlingswerk, der Geniestreich eines übermüdeten jungen Mannes, der seine Nächte als Stadtstreicher wider Willen zubrachte, ist eine Gedächtnisschrift für das hintergründige Leid der Welt, zu dem sich ein Chronist herabläßt, der nicht mehr an den Symptomen herumkurieren möchte, sondern den literarisch geläuterten Untergang will. Ciorans Reisebericht aus den Probierstuben der Verzweiflung fällt so leidenschaftlich aus wie die Kondolenzbekundung des Bestatters beim Kundengespräch: „Alle überspannte Beflissenheit, um im Diesseits zu glänzen, aller teuflischer Zauber, um mir einen künftigen Nimbus zu erwerben“ und „der ganze Elan, den ich auf eine organische Wiedergeburt oder innerliche Morgenröte verschwendete, haben sich als schwächer erwiesen als die Bestialität dieser Welt (…). Das Leben hält hohen Temperaturen nicht stand.“
In Ciorans Erstlingswerk gleichen die ausgegebenen Durchhalteparolen einem Bekenntnis zur elitären Nachbesserung der wahnwitzigen, vielleicht auch nur versehentlich ausgetragenen Schöpfung. Die einmal geschaute Wahrheit ist schrecklich, aber nicht schrecklich genug, um nicht noch zusätzlich Zunder vertragen zu können: „Wenn ich nur könnte, würde ich die gesamte Schöpfung in Agonie versetzen, um des Lebens Wurzeln von Grund auf zu läutern. (…) Der Weltbrand, den ich entfachen wollte, würde nicht Trümmer, sondern kosmische Verklärung abwerfen.“
Die Beschwörung des kosmischen Weltbrandes als irdische Leidensfeier für nichtsahnende Gäste – ein solches Szenario durfte nicht nur als erstaunlich gelten, sondern schien auch dazu geeignet, Hohn und Spott hervorzurufen. Cioran konnte damit umgehen; er begegnete seinen Kritikern mit ruhigem, in der Sache jedoch unnachgiebigen Humor, der die eigene Person nicht schonte: „Dieses erste Buch war von einer provokativen Aufrichtigkeit. Meine Mutter war besonders beängstigt: Was wird aus Dir werden? Ich werde einen Arzt rufen. Der Arzt kam, er stellte mir Fragen, und danach hat er meiner Mutter gesagt: Ihr Sohn ist höchstwahrscheinlich Syphilitiker. (…) Damals stand die Syphilis im Ruf einer Prestigekrankheit (…). Meine Mutter hat mich gezwungen, eine Blutuntersuchung machen zu lassen. Meine Einstellung war zwiespältig, einerseits wünschte ich mir diese unverhoffte Chance, andererseits auch wieder nicht. Als ich bald darauf zu dem Arzt zurückkam, sagte er triumphierend: Ihr Blut ist rein. Sind Sie nicht froh darüber? – Eigentlich nicht, war meine Antwort.“
Ciorans Denken, angetrieben durch eine wachtraumhafte Abfolge nächtlicher Inspirationen, verblieb nicht im Bannkreis jener Höhen, die von den „Gipfeln der Verzweiflung“ markiert wurden. In der Folgezeit sah es sich zur Versachlichung angehalten, die mit einer Veränderung der realen Lebensumstände des Autors zu tun hatte: Nachdem Cioran, in einer kurzen, aber unrühmlichen Episode, die er nie verschwieg, den Faschismus lobte und zwei Jahre in Berlin lebte, ging er 1937 nach Paris, wo er sich dem Wagnis unterzog, eine Existenz als freier Schriftsteller zu führen und, was einer zusätzlichen Herausforderung gleichkam, in französischer Sprache zu schreiben. Als Philosoph sah sich Cioran nicht, eher als „mißglückten Buddhisten“, wie er einmal zu Protokoll gab. An der Philosophie störte ihn ihr ausgeprägter Ordnungssinn, ein fast beamtenhaftes Bemühen, das Chaos der erkennbaren Welt in Regelwerke zu kleiden. Cioran schrieb, um zu überleben, was grotesk anmuten durfte bei einem Schriftsteller, der mit dem Selbstmord auf vertrautem Fuße zu stehen schien – eine Vermutung allerdings, die Cioran nicht zu teilen vermochte: „Schreiben ist die einzige Behandlung, wenn man keine Arzneien nimmt. Dann muß man schreiben. Man hat mich oft als Apologeten des Selbstmords gebrandmarkt. Ich bin es eigentlich nicht“ und „muß mich hier selbst zitieren: Ohne die Idee des Selbstmordes hätte ich mich seit langem getötet. Damit wollte ich sagen: diese Idee ist eine unglaubliche Hilfe. Das Leben wird dadurch erträglich, weil man sich sagt, ich kann mich töten, wenn ich will. Mit so einer Hoffnung kann man fast alles aushalten.“
Weitere Werke erschienen, sie hatten mutmachende Titel wie Lehre vom Zerfall, Die verfehlte Schöpfung, Gevierteilt oder Vom Nachteil, geboren zu sein. Mit zunehmendem Alter indes legte sich Cioran eine Gelassenheit zu, die man auch als Gleichgültigkeit auslegen durfte, zumal alles darauf hinzuweisen schien, daß Veränderungen nur als Illusionen Bestand haben konnten. Mochten in der Theorie noch große Visionen möglich sein, so erwies sich die Praxis als Betätigungsfeld für fanatisierte Menschheitsbeglücker, deren jeweiliges Scheitern mit dem Aufstieg neuer Ideologen verbunden war. Ein Fortschritt in der Geschichte fand nicht statt. Cioran registrierte dies als Aphoristiker, der im gut ausgebauten Unterstand der Skepsis eine Art Hausrecht beanspruchen durfte. Statt der Verzweiflung bediente er sich des Zweifels, den er zu einer Erkenntnisinstanz machte, die für tragisch-spielerische Einsichten zuständig wurde, nicht jedoch für moralische Gewißheiten: „Die Geschichte läßt sich nicht verteidigen. (…) Wenn ihre Grausamkeit befriedigt ist, werden die Tyrannen leutselig. (…) Das Bestreben des Lammes, ein Wolf zu werden, ist der Anlaß für die meisten Ereignisse. Solche, die keine Fangzähne besitzen, träumen davon, welche zu haben. (…) – Die Geschichte: eine Dynamik der Geopferten.“
Mit zunehmendem Alter hat sich Cioran immer mehr vom Tagesgeschäft der Verzweiflung zurückgezogen. Dass sich für sein Weltverständnis heute mehr Belange denn je finden lassen, hätte ihn nicht beeindruckt: Die Menschheit geht den Weg, den sie gehen muß, wider besseres Wissen vielleicht, aber auch mit bemerkenswerter Sturheit. Obwohl Untergangsszenarien rege Zustimmung finden, möchte man das gute alte Prinzip Hoffnung noch nicht aufgeben, dem allerdings immer weniger Anlässe vorgelegt werden, sich bestätigt zu sehen. Cioran machte keine Anstalten, einem dahinsiechenden Optimismus wieder auf die Beine zu helfen; die Zukunftsvision, die er anzubieten hat, ist von boshafter Eindringlichkeit. Der Mensch schafft sich selbst ab, nicht weil er zu wenig, sondern weil er zu viel weiß: „Immer wieder stellt sich die Frage, wie der Mensch enden wird. Es gibt zwei Möglichkeiten: durch Kriege oder durch inneren Verschleiß. Der Mensch ist ein Abenteurer. Und ein Abenteurer kann nicht gut enden. Ich habe eine Marotte, ich glaube, dass der Mensch enden wird, wenn man auch das letzte Heilmittel gefunden haben wird. Man kann sich vorstellen, dass die Wissenschaft eines Tages alle Krankheiten besiegen kann, und daran wird der Mensch zerbrechen.“ Man sollte „die Idee annehmen, dass der Mensch verschwinden muß. Der Mensch war von Anfang an von der Obsession des Wissens beherrscht, er hat also sein Unglück gewollt.“
Der Untergang, über Jahrhunderte hinweg vorbereitet, scheint unabwendbar; die Frage bleibt nur, welche Generation das zweifelhafte Vergnügen haben wird, ihn endlich und endgültig zu erleben. Eine solche Gewißheit kann mutlos machen, sie kann aber auch zu einer stabilen Gelassenheit führen. So verliert letztlich sogar der Tod seinen Schrecken, über den sich ohnehin streiten läßt. Cioran ließ die gepflegte Düsternis seiner Lebenserwartung in Heiterkeit ausklingen, die als Fortsetzung der Verzweiflung mit anderen Mitteln gelten kann: „Wenn du einen Rat von mir willst, dann nimm diesen: Wenn Du nicht mehr lachen kannst, dann kannst Du Dich töten. Aber solange Du noch lachen kannst, warte, denn das Lachen ist ein Sieg über das Leben und über den Tod, es ist ein Zeichen dafür, dass man Herr über alles ist. – Mein Vater war Priester. Einmal, nach einem Begräbnis, hat er uns erzählt, dass, nachdem man den Sarg eines jungen Mädchens ins Grab gesenkt hatte, deren Mutter in Lachen ausbrach. Das war Wahnsinn, aber es ist nicht absolut sicher, daß es Wahnsinn war. Wenn ich es auch damals nicht ganz klar begreifen konnte, habe ich doch gespürt, daß der Tod und erst recht die Beerdigung eine unerträgliche und provokatorische Tragikomödie darstellen. Die Mutter konnte etwas so Ungeheuerliches und Undenkbares nicht ertragen. Das Leben und der Tod sind ein substanzloses Schauspiel, das das Lachen rechtfertigt. Die Schöpfung ist bloß ein Vorwand des Absoluten. Das Vedanta, das tiefste metaphysische System der Inder, behauptet mit Recht, daß Gott die Welt ‚nur aus Spiel’ geschaffen hat.“
Das Leben also ein Spiel, das in der Regel tödlich endet; wer es durchsteht, ohne von größeren Schicksalsschlägen gebeutelt zu werden, darf wohl schon von Glück reden. Ein gutes Gelingen ist damit noch nicht angezeigt, zumal das Gute, wie im Übrigen alles andere auch, bezweifelt werden darf. Cioran, der den Zweifel zur metaphysischen Kunstform erhoben hat, ist seinen Anfängen bis zum Ende treu geblieben. Den Erkenntnissen seiner schlaflosen Nächte bewahrte er ein ehrendes Andenken; sie begleiteten ihn, ein Leben lang, und sind auch heute noch, da ihr Urheber leider nicht mehr unter uns weilt, von erfreulich zweifelhaftem Nutzen: „Das Nichts lag in mir selbst, ich brauchte es nicht zu entdecken. Ein Vorgefühl davon hatte ich schon als Kind, durch die Langeweile, diesen Schlüssel zu abgründigen Entdeckungen. Auf einmal hatte ich dieses Gefühl der Leerheit, das Gefühl, an jenem Nachmittag, mit fünf Jahren, dass ich außerhalb der Zeit sei. Das habe ich seit damals immer wieder gespürt, es ist eine fast tägliche Erfahrung geworden.“
Erinnern Sie sich?
Letzte Änderung: 12.02.2025 | Erstellt am: 12.02.2025
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