Erinnern Sie sich? (An Annette von Droste-Hülshoff)

Erinnern Sie sich? (An Annette von Droste-Hülshoff)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F.W. Bernstein, Rheintöchter | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 4 – Annette von Droste-Hülshoff

ERINNERN SIE SICH?

Sie war sehr klein und sehr zierlich, sie konnte sehr traurig und sehr witzig sein, das Fräulein von Droste-Hülshoff, das im weitverzweigten Familienkreis, einem westfälischen Adelsclan, in dem Klatsch und Tratsch blühten, auch schon mal „Nette“ oder „Nettchen“ genannt wurde. Dass Annette nett war, hätte fast jeder der Freunde und Anverwandten unterschrieben; sie war sogar so nett, daß sich daraus eine Art Tarnung, eine produktive Unscheinbarkeit ergab, die das Leben erleichterte. Und doch hatte die unscheinbare Annette, die sich bei Gelegenheit zu einem Ehrgeiz aufschwingen konnte, den ihr kaum einer zutraute, einen handfesten Wunschtraum; im Sommer 1843 schreibt sie an ihre Freundin Elise Rüdiger: „Wenn ich sehe, wie so alles durcheinander krabbelt, um berühmt zu werden, dann kömmt mich ein leiser Kitzel an, meine Finger auch zu bewegen. Geduld! Geduld! Aber wenn ich dann wieder sehe, wie kaum einer den Kopf über dem Wasser hat, daß schon ein anderer hinter ihm einen Zoll höher aufduckt und ihn niederdrückt …, kurz, die Zelebritäten einander auffressen und neu generieren wie Blattläuse, dann scheint mir’s besser, die Beine auf dem Sofa zu strecken und mit halbgeschlossenen Augen von Ewigkeiten zu träumen … Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möchte ich gelesen werden, und vielleicht gelingt’s mir, da es im Grunde so leicht ist wie Kolumbus’ Kunststück mit dem Ei und nur das entschlossene Opfer der Gegenwart verlangt.“

Der Wunsch ging in Erfüllung; die Droste wurde nach hundert Jahren gelesen, und womöglich gönnt man ihr, sollten die dichterischen Qualitätsmerkmale zwischenzeitlich nicht ganz in Vergessenheit geraten, sogar noch eine Zugabe von weiteren hundert Jahren, in denen die Leser diesem Adelsfräulein, das zartbesaitet wirkte und doch so fein derb sein konnte, die Treue halten. – Annette von Droste-Hülshoff wächst im Münsterland auf; ihr Geburtshaus Schloss Hülshoff ist eine jener Wasserburgen, die heute zur Folklore des Landes gehören und das Landschaftsbild prägen. Das Münsterland ist eine träumerische Region, hier kann man schwermütig werden und zugleich heiter sein; die Ferne ist nah, der Blick findet wohltuende Grenzen. Die Droste, so wird sie später der Einfachheit halber genannt, hat ihre Heimat oft und gern gewürdigt, vorzugsweise mit Witz; in einem leider unvollendet gebliebenen Prosastück mit dem schönen Titel Bei uns zulande auf dem Lande wird das Münsterland so beschrieben: „Seltsames schlummerndes Land! so sachte Elemente! so leiser, seufzender Strichwind! so träumende Gewässer! so kleine friedliche Donnerwetterchen ohne Widerhall! und so stille, blonde Leutchen, die niemals fluchen, selten singen oder pfeifen, aber denen der Mund immer zu einem behaglichen Lächeln steht, wenn sie unter der Arbeit nach jeder fünften Minute die Wolken studieren und aus ihrem kurzen Stummelchen gen Himmel schmöken, mit dem sie sich im besten Einverständnisse fühlen.“ Erst mit 23 gerät sie an die Liebe; es sind gleich zwei Verehrer, die sich um sie bemühen. Um das Verfahren, das ihr recht zäh vorkommt, abzukürzen, will sie die Sache selbst in die Hand nehmen und sich dem Mann erklären, den sie für den passenden Kandidaten hält; das jedoch wird in den dämmrigen Adelskreisen, in denen sie sich bewegt, als verfrühte Emanzipation ausgelegt; man zieht über sie her und bedenkt sie mit bösartigen Gerüchten. Annette ist enttäuscht und verschreckt; vor der Liebe, überhaupt vor den Gefühlen zieht sie sich zurück. 1838 erscheint ihr erster Gedichtband, wird ein Misserfolg, erhält jedoch zwei jubelnde Besprechungen, die die Autorin indes richtig einzuordnen weiß: „Beide waren brillant genug, wollen aber doch die Tür nicht zutun, da die eine von einem Frauenzimmer, die andere von einem Bekannten ist.“ Als Annette bereits für ein ältliches Fräulein gehalten wird, verliebt sie sich noch einmal; sie macht das dezent, und doch ist ihr wieder kein Glück beschieden: Levin Schücking heißt der junge Mann, für den sie sich interessiert und den sie schon länger kennt; er ist charmant, sieht nicht schlecht aus, er schätzt die Literatur, ja er wird sogar selber zum Schriftsteller, aber es gibt bei all dem ein kleines Problem: Schücking ist siebzehn Jahre jünger als die Droste, sie könnte seine Mutter sein. In mütterliche Gefühle, die sie ironisch zu kommentieren versteht, verkleidet sie denn auch ihre Liebe, die sie wie einen Privatschatz hütet; Kommentare sind unerwünscht. 1841 beendet die Dichterin ihr bis heute bekanntestes Werk, die Novelle Die Judenbuche (Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen); sie zieht zu ihrer Schwester Jenny, die einen kauzigen Gelehrten namens Joseph von Laßberg geheiratet hat und auf der Meersburg am Bodensee lebt. Dort ist ihr eine schöne Zeit vergönnt, die noch schöner wird, als Schücking nachkommt, dem die Droste, mit List, eine Bibliothekarsstelle bei Laßberg verschafft, obwohl der eigentlich gar keinen Bibliothekar braucht. Von der Liebe, die nach wie vor geheimgehalten wird und einer unverfänglichen Außendarstellung bedarf, lässt sie sich inspirieren; jetzt schreibt sie ihre besten, auch ihre wehmütigsten Gedichte, in denen die Heiterkeit wie ein zufällig verabreichtes Geschenk ist, das jederzeit zurückgefordert werden kann. Ihr Glück, weiß sie, kann nicht auf Dauer sein; es ist ein Glück auf Zeit, und die Zeit vergeht immer schneller. Schücking verehrt sie mehr, als dass er sie liebt – und sie selbst kommt in die Jahre, in denen der Mensch, auch weil er alt wird, die endgültige Bescheidenheit einübt. In dem Gedicht Die Schenke am See, das einem malerisch gelegenen Ausflugslokal gewidmet ist, in dem das Paar auf seinen Spaziergängen gerne einkehrte, lässt die Dichterin anklingen, wie unterschiedlich man auch das Unscheinbare sehen kann, je nachdem, ob man noch jung ist oder sich schon, altersnah, zur Resignation anhält: „Sieh drunten auf dem See im Abendrot/ Die Taucherente hin und wieder schlüpfend;/ Nun sinkt sie nieder wie des Netzes Lot,/ Nun wieder aufwärts mit den Wellen hüpfend;/ Seltsames Spiel, recht wie ein Lebenslauf!/ Wir beide schaun gespannten Blickes nieder;/ Du flüsterst lächelnd: immer kömmt sie auf! -/ Und ich, ich denke: immer sinkt sie wieder!“ – Schücking bleibt nur ein knappes halbes Jahr auf der Meersburg, dann zieht er weg und wird Hauslehrer bei einem Fürsten Wrede in Franken. Wenig später heiratet er; die Droste gratuliert und empfängt das Ehepaar Schücking auf der Meersburg. Sie macht gute Miene zum bösen Spiel; dass sie verletzt ist, mag sie sich nicht eingestehen. 1846 findet sie einen Anlass, mit Schücking zu brechen, er hat ihr Vertrauen missbraucht, meint sie, und Indiskretionen begangen. Ihre Liebe ist nur noch schmerzliche Erinnerung; die Droste erkrankt und wird sich nicht mehr erholen. Die Gedanken heben jetzt gerne ab ins Endgültige und Überirdische; jede Bewegung indes kostet Kraft. Von dem Zeitenumbruch, der Revolution, die sich draußen im Land vorbereitet, bekommt das Adelsfräulein von Droste-Hülshoff nicht mehr viel mit; Politik als Tagesgeschäft und Verbesserungsbetrieb hat ihr ohnehin nichts bedeutet. Am 20. Juli 1847, da hat Annette noch elf Monate zu leben, schreibt sie aus ihrem Turmzimmer auf der Meersburg, das sie, des Lichtwiderscheins wegen, der manchmal vom See her aufblitzt, ihre „Spiegelei“ nennt, an die alte Freundin Elise Rüdiger: „Jetzt ist es fast ein Jahr, dass ich meine Spiegelei nicht anders verlasse, als um bis zur grünen Bank auf dem Hofe zu schleichen. Mein Gehen ist so gut wie gar nichts mehr. Schreiben bringt mich nach wenigen Zeilen einer Ohnmacht nahe. Lesen darf ich nur mit größter Vorsicht … Ich bin jede Stunde bereit und meinem Schöpfer sehr dankbar, dass er mir durch das beständige Gefühl der Gefahr eine vollkommene Befreundung mit dem Tode gegeben hat.“

Annette von Droste-Hülshoff ist eine Dichterin, die sich mehr noch als in ihren Werken in ihrem Leben verborgen gehalten hat. Das macht beide, die Dichterin und die Werke, wunderbar rätselhaft und verleiht ihnen einen persönlichen Schimmer, der noch immer über den Landschaften liegt, in denen sie sich zu Hause wähnte. Wer aufmerksam umherzieht, im Münsterland etwa oder am Bodensee, kann davon etwas mitbekommen. Zu entdecken ist noch die Briefschreiberin Droste-Hülshoff; in ihren Briefen nämlich war sie am besten. Am 4. Mai 1842 schrieb sie an Schücking, der sie verlassen hatte: „Hör, Kind! Ich gehe jeden Tag den Weg nach Haltenau, setze mich auf die erste Treppe, wo ich Dich zu erwarten pflegte, und sehe, ohne Lorgnette, nach dem Wege bei Vogels Garten hinüber. Kommt dann jemand, was jeden Tag ein paar Mal passiert, so kann ich mir, bei meiner Blindheit, lange einbilden, Du wärst es, und Du glaubst nicht, wie viel mir das ist … Gott, was können ein paar Monate alles mitnehmen. Ich habe wohl recht, an jedem Neujahrstage zu schaudern. Man findet zwar in jedem Jahr wohl etwas Gutes und Ungeahndetes … Aber, weiß Gott, man verliert auch, was einen ganz niederdrücken würde, wenn man es … vorauswüsste … Aber man kann doch ungeheuer viel ertragen, wenn es allmählich kommt, und man arbeitet sich durchs Leben …, ungefähr wie durch einen Winter, wenn’s mit dem Sommer ab und alle ist.“

Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 19.08.2024  |  Erstellt am: 17.06.2024

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Kommentare

Christina Lipps schreibt
Vielen Dank für diese zartfühlenden, schönen Zeilen! Der darin spürbare achtsame und freundliche Blick auf das Adelsfräulein ist ihrer würdig und macht das Lesen zu einem Vergnügen. Nochmal Dank!

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