Erinnern Sie sich? (An Andreas Hesse)

Erinnern Sie sich? (An Andreas Hesse)

Eine literarisch-philosophische Reihe
F.W. Bernstein, o.T. | © Art Virus Ltd.

Im Zeitalter der Beschleunigung vergeht die Zeit scheinbar exponentiell schneller als je zuvor. Angesichts der Fülle flüchtiger vorwärtsgerichteter Augenblicke in unserer modernen Gesellschaft setzt Autor und Philosoph Otto A. Böhmer mit Leichtigkeit und Humor eine satirische Zäsur und schafft komische Ein- und Rückblicke in unsere komplexe, philosophische Welt.

No. 6 – Andreas Hesse

ERINNERN SIE SICH?

An Andreas Hesse zum Beispiel, Andreas Hesse, der ein entfernter Nachkömmling des nicht nur in Calw wohlbekannten Hermann Hesse ist? Andreas Hesse, den man heute, leider, leider, muß man sagen, in einer privaten, für fortschrittliche Behandlungsmethoden und ein noch fortschrittlicheres Preisniveau bekannten psychiatrischen Privatanstalt in der Nähe von Bad Teinach verwahrt hält, hat, und das ist fast schon wieder in Vergessenheit geraten, eine literarische Karriere hinter sich, die einem aufplatzenden und gleich wieder verlöschenden Glühstern glich. Mit einem einzigen Buch, dem etwa viertausend Seiten starken, fünfbändigen Epos Die Sichtbarkeit der Dinge machte er kurzfristig Furore. Die Fachwelt staunte und wunderte sich: »Daß man heute noch so erzählen kann, so weitwinklig und gewunden, so sprachmächtig und resistent, so bärenstark und besessen«, schrieb beispielsweise der Großkritiker Peter G. Rabbatz, und er fügte hinzu: „So rauschend und so vereinnahmend ist die Prosa dieses aus der Zeit gefallenen Mannes, dass man, mit schmerzflügeligem Kopf, das Gefühl zurückbehält, man habe in diesem dahinströmenden Sprachstrom schon einmal gestanden, in versunkenen schönen Tagen vielleicht, als man noch jünger war und immer scharf dran an einer Zukunft, die keine Vergangenheit braucht“. Was er damit meinte, wußte Rabbatz, der auch in fortgeschrittenem Alter noch ein Umtriebiger ist, wohl selbst nicht so genau, aber darauf kommt es bei einem Kritiker ohnehin nicht an; sein Gewerbe verlangt die ummantelte Bekundung, die Rätselspiel, Hymne und Totenschein in einem sein will. Andreas Hesse, durfte man daraus folgern, schrieb nicht gerade zeittypisch. In seiner verzweigten Familie, die übrigens großzügig für seinen Psychiatrieaufenthalt aufkommt, hat es denn auch, wie freimütig eingestanden wird, noch niemand fertiggebracht, auch nur eine einzige Seite im Werk dieses großen und verkannten Unzeitgemäßen zu lesen, das z.B. die folgende Passage enthält: „Nur ein Augenblick, ein Augenblick der Vergangenheit? Weit mehr als das; die Heimkehr in unser Zimmer, während ich verspüre, wie ein Lächeln des Glücks meine Züge überflutete, bei dem Gedanken an das große, von Eigenwärme aufgeheizte Bett, das brennende Kaminfeuer, die Wärmflasche, die Federkissen und Wolldecken, die ihre Hitze an das Lager abgegeben haben, in das wir uns gleiten lassen, in dem wir uns einmauern, uns verschanzen, bis zum Gesicht verstecken, als könnten Feinde kommen und draußen anklopfen, wobei wir heiter bei uns denken, dass sie uns nicht fassen werden, da sie nicht wissen, wo wir sind, so gut haben wir uns verkrochen, und den Lärm des von außen her anstürmenden Windes verlachen, der durch alle Kaminessen hindurch zu allen Stockwerken unseres Schlosses aufsteigt, alle Etagen durchstöbert und an allen Türgriffen rüttelt; wir aber, wenn wir seine Kälte zu uns dringen fühlen, ziehen die Decken fester um uns herum, gleiten ein wenig tiefer darunter, fassen unsere Wärmflasche mit den Füßen und schieben sie etwas höher hinauf, damit, wenn wir sie wieder nach unten rücken, das Bett an dieser Stelle glühend heiß bleibt, verbergen uns so, daß nur das Gesicht herausschaut, knäueln uns zusammen, drehen uns um, schließen uns nach allen Seiten ab und sagen uns: Das Leben ist doch eine schöne Sache.“ – Zugegeben: Spannend war Andreas Hesses opulenter Roman nicht, nicht wirklich spannend, und daß das Leben, innerhalb und außerhalb eines wirklich guten, mummeligen Bettes eine schöne Sache ist, auch darüber ließ sich streiten, zumal wenig später die Stunde der Wahrheit schlug, die dadurch eingeläutet wurde, daß ein Kritiker, kein großer, sondern ein eher kleiner, einer von den kratzsüchtigen Beißern, die ein Kunstwerk lieber prophylaktisch einreißen, als es andächtig zu umkreisen, herausfand, dass Hesses Prosa aus einem einzigen, breit angelegten Plagiat bestand: Er hatte sich bei Marcel Proust bedient, im Jean Santeuil, aber auch, noch dreister, in der Suche nach der verlorenen Zeit, und als das feststand, wir sehen es noch vor uns, saß Andreas Hesse, der Autor, der keiner war, von Lichtquellen bestrahlt auf erhöhtem Podium, ein fernes abgewandtes Lächeln im Gesicht, er bewegte die Lippen, sagte nichts, wie er überhaupt nie irgend etwas gesagt hat, zu seinem Werk, seinem Leben, er wußte, warum; der Mann ist ein Grenzgänger, behaust eine ganz andere Welt, in der es wohl leiser, herabgestimmter zugeht als in unserer Welt, die sich nicht auf die eine Gewinn- und Verlustrechnung reduzieren lässt, an der wir sie, zweckmäßigerweise, zu bemessen haben. – Eine kleine Pointe hatte Andreas Hesses Geschichte übrigens noch, denn es stellte sich heraus, daß der Mann in seinem ganzen Leben kein einziges Buch gelesen hatte, keines von Proust, keines von Pasternak, Priestley, Pessoa, Penzoldt, Podewils, Puig, Peckenbauer, Poe oder Papst Paul, ja er konnte gar nicht lesen, und alles, was er hatte, war immer nur in seinem Kopf gewesen.
Erinnern Sie sich?

Letzte Änderung: 23.09.2024  |  Erstellt am: 17.06.2024

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Kommentare

Alban Nikolai Herbst schreibt
Welch ein in seiner poetischen Zärtlichkeit s c h ö n e r Text! (Ruf ich aus Gründen eines persönlichen Nachgrolls nicht wirklich gerne aus, is' aber so.) ANH

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