Welcher Film? Ein Reisebericht

Welcher Film? Ein Reisebericht

In Gedenken an Horst Brühmann
Universitäts-Hörsaal im Jahr 1969

Dass Wissenschaftskritik in Wahrheit immer schon auch eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der eigenen Kritik bedeutete, macht Hermann Kocyba anhand von Selbstverständnisdiskussionen einer Gruppe von Adorno-Schülern nach Adornos Tod deutlich, zu denen der kürzlich verstorbene wissenschaftliche Übersetzer Horst Brühmann gehörte.

1968 war die Universität Schauplatz lautstarker studentischer Wissenschaftskritik, die angesichts der Ausklammerung der Verflechtungen von Wissenschaft, NS-Staat und Vernichtungspolitik aus dem Selbstverständnis der vermeintlich unpolitischen Wissenschaften ein verändertes Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft, Gesellschaft und Staat forderte. Sie berief sich dabei auf Autoren wie Adorno, Horkheimer und Marcuse. Heute ist studentische Kritik aktueller Wissenschaftspraxis dem Verdacht ausgesetzt, sie laufe im Kern auf eine diskussionsunwillige Cancel Culture hinaus, in der sich hinter einer Fassade aus Versatzstücken kritischer Theorie letztlich rein machtpolitische Interessenkämpfe abspielten.
 

Erinnerung an Horst Brühmann

Es war im Wintersemester 1969/70 in einem Seminar von Hermann Schweppenhäuser, einer Asylstätte für eine ganze Reihe von durch Adornos Tod verwaisten… nun, ich stocke bereits: von „Studierenden“ hätten wir damals nicht gesprochen. Eine kleine Gruppe jedenfalls, die sich intensiv beteiligte, fiel mir auf, alles Anfangssemester wie ich. Neben Horst Brühmann bestand die Gruppe aus Irmgard Schultz und Hans Kretschmar.

Horst, den ich erst in den darauffolgenden Semestern näher kennenlernte, habe ich zunächst als sehr reflektierten „Gebrauchswerttheoretiker“ erlebt. Kapitalismus, das hieß damals ja Herrschaft der Abstraktion, der abstrakten Arbeit, der abstrakten Zeit, bedeutete die Unterjochung des Triebhaft-Natürlichen, des Besonderen, des Individuellen, Einzigartigen, der Bedürfnisnatur des Menschen. Befreiung meinte das Aufsprengen des universellen Nexus von Abstraktion und Herrschaft, Glück die Befriedigung von Bedürfnissen ohne Ausbeutung, ohne Wettbewerb und Tauschlogik. Und der Name des Statthalters von Freiheit und Glück war Gebrauchswert, auch er im Kapitalismus verstümmelt und der Verwertungslogik unterworfen. Die Rehabilitation des Gebrauchswerts, seine Befreiung aus dem Sklavenhaus der Abstraktion war revolutionäre Tat. Wolfgang Pohrt und Ulrich Erckenbrecht, Wolfgang Fritz Haug und Horst Kurnitzky hatten wichtige Bausteine für die hier etwas frei stilisierte Emanzipationstheorie geliefert.

Nun wäre es jedem wahren Adorno-Schüler schwergefallen, sich mit einer Sache oder einer Theorieperspektive einfach ganz ohne jeden Vorbehalt zu identifizieren. In der Tat, wenn der Gebrauchswert Statthalter des ganz Anderen war, dann schien zwar der Ausweg aus dem Schreckensreich repressiver Abstraktionen gewiesen. Aber war dieser Ausweg als Weg nicht stets noch durch das geprägt, wovon er wegführte? Das Andere verdiente das große A nicht, das vermeintlich ganz andere erwies sich nicht als Anderes, sondern wiederum als Teil eines Ganzen, somit als ein vergeblicher Ausbruchsversuch. Oder galt es vielleicht, um nicht die fatale Komplizität von Negation und Negiertem zu reproduzieren, sich von der Idee von Negation und Vermittlung zu befreien? Der Gebrauchswert unmittelbar als gelebte Utopie der Freiheit? Falsche Unmittelbarkeit lautete der internalisierte Ordnungsruf, der uns daran erinnerte, dass der Weg der Befreiung durch die Eiswüste der Abstraktion führte und es sich dabei um eine Reise handelte, für die kein all inclusive Angebot verfügbar war.

Es waren indes wohl nicht die internen Schwierigkeiten einer auf die Polarität von repressiver Wertabstraktion und rebellischem Gebrauchswert gegründeten Theorie, die Horst und andere Gebrauchswertmarxisten im nächsten Schritt zum Versuch einer radikalen theoretischen Neukonfiguration veranlassten. Alfred Schmidt, der Anfang der 1970er Jahre seine Lehrtätigkeit am Philosophischen Seminar wieder aufnahm, hatte soeben, wie es schien, den „strukturalistischen Angriff auf die Geschichte“ erfolgreich abgewehrt und damit zugleich eine apologetisch-reaktionäre Sozialtheorie, die die Rolle von Subjektivität und menschlicher Praxis leugnete, die geschichtslos-statisch argumentierte und letztlich darauf abzielte, die Veränderbarkeit der Gesellschaft und insbesondere die Möglichkeit einer Überwindung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in Frage zu stellen: das letzte Bollwerk der Bourgeoisie gegen den Marxismus, so hatte bereits Sartre geurteilt. Wir waren dankbar, dass Alfred Schmidt uns ersparte, diesen langweiligen reaktionären Mist auch noch selbst lesen zu müssen.

Aber es gab Lücken im Abwehrsystem. In der Neuen Kritik war Anfang 1970 ein Artikel von Hans-Jürgen Krahl zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse erschienen, in dem dieser sich positiv auf die Bemerkungen von Jacques Ranciere zum Kritikbegriff bei Marx bezog. Der Text selbst („Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie“) erschien dann 1972 bei Merve auf Deutsch. Die gemeinsame Lektüre dieses Textes, der in Frankreich unter der Direktion von Althusser als Teil von „Lire le Capital“ erschienen war, im Rahmen einer selbstorganisierten Arbeitsgruppe im Fachschaftsraum des Fachbereichs Philosophie in der Dantestraße führte zu einem neuen Blick auf die letzte Barrikade der Bourgeoisie. In einer Situation, in der die Frage nach der Dialektik in der Marxschen Theorie zumeist durch zirkuläre Explikationen, in denen kritische Rückfragen zu Marxschen Theorie durch Verweis auf Hegel, und Fragen zu Hegel durch Verweis auf Marx eher stillgestellt als beantwortet wurden, operierte Ranciere mit Konzepten wie Metapher und Metonymie, die neue Zugänge jenseits derartiger zirkulärer Verweisungsbeziehungen eröffneten. Und dann purzelten die Vorbehalte. Wir begannen uns Konzepte wie das der symptomalen Lektüre, der Überdeterminierung, der theoretischen Praxis, des Anrufungseffekts usw. anzueignen. Damit wurden wir schrittweise zu einer kleinen, verschworenen epistemischen Gemeinschaft, zu der Christoph Küchler, Hans Kretschmar, später auch Alex Demirovic, Helmut Becker und Ralf Kliche gehörten. Was uns zunächst mit Alfred Schmidt wie eine Abwehr von Geschichte erschien, erwies sich als ein komplexerer Geschichtsbegriff, das Subjekt wurde, wie sich zeigte, nicht einfach eliminiert, sondern als Effekt einer spezifischen sozialen Praktik beschrieben. Irgendwann gab es kein Halten mehr: Auf den Spuren Althussers erreichte unser Leseplan dann Jacques Lacan, Claude Levi-Strauss, Roman Jakobson, schließlich Roland Barthes, Julia Kristeva und Jacques Derrida.

Wo Alfred Schmidt böswillige Verstocktheit diagnostiziert und die Boten für die Botschaft getadelt hatte, fanden wir kritische Einsichten und befreiende Perspektiven. An Lévi-Strauss faszinierte uns die Absage an den Evolutionismus im Namen des „wilden Denkens“, die Beschreibung des Kolonisierungs- und ethnologischen Entdeckungsprozesses als Zerstörungs- und Verlustbilanz. Und überhaupt, die Materialfülle, die sich in den Analysen von Levi-Strauss wie von Foucault dokumentierte, ließ alle Vorwürfe von Geschichtslosigkeit und inhaltsleeren verdinglichten Strukturbegriffen haltlos erscheinen.

Ab einem bestimmten Punkt gabelten sich die Wege wieder. Horst arbeitete Bachelard und die französische Epistemologie auf, Alex kam über Poulantzas zur Gramsci-Debatte, mein Weg führte über Althusser und Foucault in Richtung Soziologie (wo ich immer noch nicht ganz angekommen bin). Wir blieben gleichwohl in Kontakt. Was wir nicht geschafft haben, wohl auch nicht ernsthaft betrieben haben, war die akademische Verstetigung unseres studentischen Arbeits- und Diskussionszusammenhangs. Alfred Schmidt hatte uns als Doktoranden seinerzeit eher ertragen als gefördert, sein Interesse an den von uns verfolgten Themen war Mitte der 1970er Jahre bereits erloschen. Anschlussmöglichkeiten an die Diskussionen im Bereich der Wissenschaftsgeschichte, der Sozialgeschichte, der Sozialphilosophie oder politischen Theorie bestanden in Frankfurt nicht.

Bestimmte Diskussionslinien, mit denen wir uns auseinandergesetzt hatten, haben dann Schöttler und Plumpe in Bochum fortgeführt, aber wir waren zu weit weg vom damaligen Eurokommunismus-Hype, waren auch zu weit weg vom situationistischen „Schillern der Revolte“, vom geschäftigen Tunix-Treiben, von der kritischen Diskursanalyse usw. um ernsthaft einen Weggang aus Frankfurt anzuvisieren. Und als Habermas wenige Jahre später nach seiner Rückkehr aus Starnberg den philosophischen Diskurs der Moderne zum Thema machte, war bereits eine andere Generation am Start. Nicht Marxismus und Strukturalismus lautete jetzt das Rahmenthema, jetzt stand die Verteidigung kommunikativer Vernunft gegen das Anbranden von Postmoderne und Poststrukturalismus auf der Tagesordnung. Auch diesmal sollte – mit anderen Mitteln – verdeutlicht werden, dass eine Auseinandersetzung mit den einstmaligen „Strukturalisten“ philosophisch wenig ergiebig war und politisch ins Abseits führte. In diesen Zirkus sind wir nicht mehr eingestiegen.

Aber unsere frühen Anstrengungen waren doch nicht ganz ohne praktische Folgen. Wir begannen uns damals für Autoren und Debatten in Frankreich zu interessieren, ohne auch nur im Nebenfach Romanisten zu sein. Wir waren auf Übersetzungen angewiesen, die von teilweise abenteuerlicher Qualität waren. Das hat für Horst, Alex und mich bedeutet, Texte mühsam im Original lesen. Zu müssen. Der nächste Schritt bestand darin, selbst zu übersetzen. Bei Horst hat der Weg ins Wissenschaftslektorat des Suhrkamp Verlags geführt. Ich habe es immerhin zum Feierabend-Übersetzer gebracht.

Es war für mich eine wichtige Erfahrung, Texte von Autoren wie Foucault, Deleuze, Latour oder Boltanski zu übersetzen, von Autoren also, die mich theoretisch faszinierten, ohne dass ich Experte für die jeweils behandelten Gegenstände gewesen wäre. Es ist eine eigentümliche Nähe, wenn man mitzubekommt, wie ein Autor versucht, etwas auszudrücken, Anläufe unternimmt, sich verheddert, kämpft und irgendwann darauf vertrauen muss, dass das Geschriebene sich selbst trägt und ins feindliche Lesen entlassen werden kann. Der Übersetzer ist in diesen Prozess hineingezogen, glaubt vielleicht irgendwann, den Text wirklich zu verstehen, was aber wohl eher Zeichen von Erschöpfung ist. Ich bin sicher, dass Horst eine so defätistische Beschreibung abgelehnt hätte – er war Profi.

Rückblickend scheint es mir, als wären Horst und ich letztlich gar nicht so weit über Alfred Schmidt hinausgelangt, wie es uns seinerzeit schien, als wir die Vorzeichen seiner Interpretationen radikal umkehrten (damals hieß das: „vom Kopf auf die Füße stellten“). Es war in der Regel das Charisma von Autoren und ihrer Thesen, die Aura des Disruptiven, das Theoriespektakel, die uns faszinierten, also nicht primär die jeweils konkreten Themen, die einer fachlichen („normalwissenschaftlichen“) Bearbeitung harrten – obgleich Horst ja durchaus das Zeug dazu gehabt hätte, diesen Weg über seine Dissertation hinaus weiter zu verfolgen. Wir entwickelten stattdessen eine gewisse freihändige Fähigkeit, uns in Themen und Debatten auch ohne vorgängige Vertrautheit mit dem Material einzuarbeiten. Ein durch Lektüre erschlossener spektakulärer Problemzugang ermöglichte Verblüffungseffekte und faszinierende Einsichten, bedeutete aber noch keine Neuausrichtung der eigenen Arbeit – die Foucault-Lektüre war ja noch keine Auseinandersetzung mit den Beständen der Pariser Nationalbibliothek. Lesend und interpretierend machten wir uns mit der Kultur und dem Schicksal der Bororo und der Nambikwara vertraut, die vom Fortschritt der Zivilisation ausgelöscht worden waren und wenigstens in den „Traurigen Tropen“ ein Denkmal im ethnologischen Diskurs gefunden hatten.

Die Theorie machte das Material, das Material die Theorie spannend. Ich erinnere mich noch an ein gemeinsames Seminar zum Thema Filmsemiotik Mitte der 1970er Jahre in der Normandie, in Criel-sur-Mer. Anders als ich war Horst leidenschaftlicher Kinogänger, der sich auch in der Filmliteratur gut auskannte. Für mich war es eine leichtfertige Fingerübung in Sachen Semiotik, d. h. einer Anwendung zeichentheoretischer und syntaktischer Konzepte jenseits des engeren Bereichs sprachlicher Äußerungen. Christian Metz Studien zur „Semiologie des Films“ lagen inzwischen auf Deutsch vor. Ich glaube, ich war der einzige Vollbanause im Kurs, ansonsten nahm u. a. Reinhard Brundig von der „Harmonie“ in Sachsenhausen teil, Horsts Bruder Werner, Alex Demirovic und Helmut Becker sowie eine Reihe von Frauen, die allesamt mehr Ahnung von Film hatten als ich. Thema war aber nicht der Film, sondern die Filmsemiotik, und das bot mir dann doch die Gelegenheit, mich mit Erläuterungen zu Ferdinand de Saussure, Roland Barthes oder Umberto Eco intellektuell einigermaßen über Wasser zu halten, während Horst den schwierigeren Part übernahm, die Brücke zwischen Film und Semiotik zu schlagen. Davon habe ich sehr profitiert und nach einiger Zeit habe ich es geschafft, vom Film zu reden zumindest wie der Blinde von der Farbe. Mehr noch, es gab jetzt einen intellektuellen Anreiz, künftig ins Kino zu gehen.

Die Erschließung neuer Kontinente durch Lektüre, und zwar ohne dass man diese Kontinente physisch unbedingt hätte betreten müssen, das klappte mit Horst sehr gut. Wir mussten da nicht auf das Internet warten. Ein Spiel mit komplexe textuellen Verweisungszusammenhängen, aber kein hors.t(ext). Der Begriff des Hundes bellte nicht, der Gegenstand blieb Gedankenobjekt. Kein Außen, wir sind immer schon (im) Text, immer schon in syntagmatische und paradigmatische Verkettungen eingebunden. Aber ist das alles?

Wenn ich Horst gegenüber beispielsweise von persönlichen Problemen sprach, dann wusste ich eigentlich immer schon, dass ich da nicht mit dem üblichen wohlgemeinten Zuspruch zu rechnen brauchte. Ich weiß nicht, ob er glaubte, dass es mich aufheitern würde oder dass es mich Probleme in einem versöhnlicheren Licht sehen lassen würde, wenn er in solchen Fällen regelmäßig fragte: „Welcher Film?“ Alles war ja irgendwann schon mal im Film verhackstückt worden, ein geschlossenes Universum kombinatorischer Möglichkeiten. Es geht nichts wirklich verloren, und es war auch alles schon irgendwann erzählt worden. Das gewährte vielleicht keinen wirklichen Trost, vermittelte aber doch eine gewisse Art von Distanz, wappnete gegen allzu viel Selbstmitleid und gefühlige Larmoyanz: Nichts wirklich Neues unter der Sonne, nicht in diesem Kino.

Diesen Stoizismus habe ich oft bewundert und mich zugleich auch darüber geärgert. Mir fehlte die heroische Gelassenheit, wie sie Horst für mich bis zuletzt verkörpert hat und die ihn vor der Zuflucht in tröstlichen Illusionen bewahrte. Auch der Gebrauchswert erwies sich seinerzeit als eine Kategorie der Analyse des Verwertungsprozesses, nicht der Befreiung. Gewiss, es ist ein bescheidenes Glück, das die Überwindung einer Illusion gewährt. Mehr indes kann Philosophie im Ernst nicht versprechen.

Letzte Änderung: 06.04.2022  |  Erstellt am: 06.04.2022

Horst Brühmann

Horst Brühmann, geboren 1951 in Borken, studierte Philosophie, Politik- und Literaturwissenschaft in Frankfurt am Main. Er war als Lehrbeauftragter an der Universität in Frankfurt am Main, als Lektor in wissenschaftlichen Lektoraten (Suhrkamp Verlag, Klett-Cotta, Dietrich Reimer, Campus, Berlin University Press) tätig. Horst Brühmann war Mitbegründer, Gesellschafter und Lektor des Velbrück Verlags. Außerdem arbeitete er als Übersetzer für wissenschaftliche Texte. Er starb am 24. Februar 2022 in Frankfurt am Main.

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