Verschlossenes Land

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Gedanken zum gegenwärtigen Lyrikbetrieb

Der Literarische März in Darmstadt wird seit 1968 durchgeführt und gilt für die Gewinner*innen seit Anbeginn als Sprungbrett in eine professionelle Schriftstellerexistenz. Die Jury bewertet den Lyrik-Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis und die zwei Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise auf offener Bühne und wird damit selbst zum Gegenstand kritischer Betrachtung. Der Lyriker Max Czollek hat diesmal teilgenommen und bemängelt die fehlende Repräsentanz etwa (post-)migrantischer oder queerer Perspektiven auf Lyrik, die in anderen Teilen des Kulturbetriebs selbstverständlich geworden sind angesichts einer sich weiter diversifizierenden Gesellschaft.

Vor ein paar Tagen war ich beim diesjährigen Literarischen März Darmstadt, einem der renommiertesten Nachwuchspreise für deutschsprachige Lyrik, der vom 17. bis 18. März 2023 stattfand. Und um das gleich zu Beginn zu sagen: Ich habe diesen Preis nicht gewonnen, was an sich natürlich ein Riesenskandal ist. Darum soll es aber nicht gehen. Tatsächlich war ich die letzten Jahre viel im Theater und, ich gebe es zu, auch mit einigen Prosaautor*innen unterwegs, die an einer Neuausrichtung auf den Raum des Gesellschaftlichen arbeiten und deren Arbeit häufig unter postmigrantisch zusammengefasst wird, was natürlich ungenau ist. Das war der Hintergrund, vor dem ich nach Darmstadt fuhr – und es kam mir vor, als säße ich in einer Zeitkapsel. Und genau darum soll es in diesem Text gehen: wie kommt es, dass Prozesse der Diversifizierung und Aktualisierung, die das vergangene Jahrzehnt so zentral bei der Öffnung und Weiterentwicklung von Literatur und Theater waren, scheinbar spurlos am Lyrikbetrieb vorbeigegangen sind? (Achtung: Ich schreibe Lyrikbetrieb und meine damit die Strukturen der Preisvergabe und Anerkennung – und nicht beispielsweise das Thema Verlage oder die Produzent*innen selbst, die eine eigene kritische Würdigung verdienen.)

Zur Textauswahl, die Mitte März in Darmstadt zur Diskussion stand, will ich nur so viel sagen: Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass in Deutschland und Europa weder in der Gegenwart noch im vergangenen Jahrhundert etwas passiert ist, was über individuelle Krisen und Natur(zerstörung) hinausgeht (wobei ich schon hier sagen möchte, dass viele Texte mehr hergegeben hätten, hätte man sie anders diskutiert). Selbstverständlich repräsentiert das nur einen kleinen Ausschnitt der Lyrik, die in den vergangenen Jahren geschrieben wurde und die sehr wohl politischer und gegenwärtiger geworden ist (als Beispiele seien nur Lisa Jeschkes großartige Anthologie der Gedichte betrunkener Frauen, Anna Hetzers Pandoras Playbox, die Arbeiten des ukrainischen Lyrikers Serhij Zhadan oder die Übersetzung der slowenischen Autorin Anja Zag Golob dass nicht genannt). Angesichts dieser Entwicklungen war die Auswahl der Texte durch die Vorjury schon bemerkenswert. Oder anders: Was sagt das über den Literaturbetrieb aus, wenn er so eine Auswahl generiert?

Ein paar Worte zum Ablauf des Literarischen März selbst, damit man sich das vorstellen kann: Auf der Bühne saßen vier Juror*innen: die Autorin und Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig Ulrike Draesner, der Literaturkritiker und Anthologieherausgeber Peter Geist, die Kulturvermittlerin Cornelia Jentzsch und der Autor Jan Koneffke. Die vier waren gut vorbereitet und widmeten sich jedem der Texte zumindest zu Beginn mit großer Ernsthaftigkeit und Akribie. Man konnte dabei gerade in den ersten Runden viel lernen über die Interpretation von Lyrik. Ich glaube, einmal fiel sogar der Satz, dass jeder Text politisch sei. Ansonsten schaffte es die Jury aber, in knapp eineinhalb Tagen Themen wie Feminismus, Geflüchtete, Rechtsextremismus, Krieg, Machtverhältnisse oder andere Verweise auf Gegenwärtiges und Historisches nahezu vollständig zu vermeiden. Selbst wenn eine Welt außerhalb des Textes in der Textauswahl aufschien nahm die Jury zumeist keinen Bezug darauf.

Dann die Referenzräume, die für die Interpretation der Texte herangezogen wurden und die fast geschlossen einer bestimmten deutschen Kulturtradition entnommen waren. Hätte ein*e Autor*in einen Text mit einer Anspielung auf Advanced Chemistry vorgetragen, die ja gerade Teil des immateriellen deutschen Kulturerbes geworden ist, hätte man diesen Bezug in den Ausführungen der Jury schlicht nicht bemerkt. Gleiches gilt für einen Hinweis auf die widerständige Literatur von Migrant*innen in den 1970er Jahren, als deren Vertreterin ja immerhin Emine Sevgi Özdamar vergangenes Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Und selbst die feministischen Spuren, die einige der Texte insbesondere der fünf Teilnehmerinnen durchzogen, blieben unerwähnt. Auch umgekehrt wurde diese Begrenzung deutlich, als bei der Besprechung des Gewinnertextes der Komponist Richard Wagner (völlig unmotiviert) zitiert wurde. Auch das lief, wie Debatten über Kultur in Deutschland eben laufen: Neben Richard Wagner zitierte man Celan und Adorno, jüdische Autoren gegen den Vogelschiss einer völkisch gestimmten deutschen Kulturtradition von der Romantik bis zur Gegenwart. Wir schreiben das Jahr 2023 und die Jury hatte einfach keine Lust mehr auf eine Kritik der deutschen Kulturtraditionen. Das Versöhnungstheater ließ grüßen.

Wenn ich dem nachforsche, was ich an diesem Wochenende als so eng und – ich kann es nicht anders sagen – als so deutsch erlebte, dann war es diese Abwesenheit (selbst)kritischer Positionierung der Jury vor dem Text und der Traditionen, die sie bemühte. Es ist doch keine Neuigkeit, dass das Genre des Naturgedichts nach dem 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres verfügbar ist – und zwar nicht, weil die Technik die Natur zerstört hat, sondern weil Natur in der deutschen und europäischen Kulturlandschaft der Ausgangspunkt und die Spielstätte einer Gewalt gewesen ist, die allein im vergangenen Jahrhundert von der Shoah bis zu den Pogromen der 1990er Jahre reicht. Müsste ein Text, der in einer deutschen Landschaft spielt, das Wissen darum nicht zumindest andeuten? Und wenn er es nicht tut, müsste die Diskussion des Textes dann nicht zumindest anmerken, dass dieses Bewusstsein für den Kontext und die Bedingungen der Kulturlandschaft im Text fehlen? Nicht jede*r in der Jury, nicht zu jedem Zeitpunkt, aber irgendwer zu irgendeinem Zeitpunkt?

Das fand ich vielleicht am bedrückendsten an diesem Wochenende: wie leicht es den Juror*innen fiel, auf eine deutsche Kulturtradition zu verweisen, so als wäre da nichts passiert in der Vergangenheit, so als hätte diese Kultur nicht teilgehabt an der Zerstörung, deren Grundlagen nicht mit geschaffen und sie mit ermöglicht, indem sie das Deutsche als männlich, als nichtjüdisch, als völkisch usw. definierte und schon damals alles ausschloss, was diesem Bild nicht entsprach. Dieser ans Reaktionäre grenzende Umgang mit Lyrik und ihren Traditionen kulminierte denn auch völlig folgerichtig in der Begeisterung für das Besingen der „holden Kunst“ im Gewinnertext. Und so kamen die zwei Tage zu ihrem logischen Ende, indem eine Jury im Geiste deutscher Kulturtraditionen sich selbst als gut erkannte und feierte. (Entschuldige, lieber Alexander Schnickmann, es geht hier wirklich nicht um deinen Text, sondern um die Art und Weise, wie die Jury damit umging; an dich noch mal: Gratulation!).

Das alles könnte man als Kritik an einer spezifischen Zusammensetzung der Jury abheften, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich überzeugt, dass hier ein Problem sichtbar wird, das uns schon seit einer ganzen Weile begleitet. Da können Sie jetzt natürlich mit dem Kopf schütteln und sagen: Das soll uns der Autor erst mal beweisen. Bitteschön, über den in Darmstadt vergebenen Nachwuchspreis habe ich ja schon was geschrieben. Auch die Jurys des Huchel-, des Münchner, Dresdner, Basler und Meraner Lyrikpreises scheinen 2023 weitgehend ohne Diversität auszukommen, wenn man darunter Migrationsgeschichte, jüdische oder afrodeutsche Perspektiven fasst. Nun bedürfte es vor dem Hintergrund intersektionaler Positionierung sicherlich einer eingehenderen Untersuchung, was die Zusammensetzung der Jurys angeht, deren Mitglieder ich ja nicht im Detail kenne. Es gibt ja auch eine Diversität, die nicht sichtbar ist – und das vermeintlich sichtbare führt einen häufig in die falsche Richtung. Das Fehlen von Vielfalt im Lyrikbetrieb ist also eine Annahme, die ich prüfen möchte.

Beginnen wir beim Fakt sinkender Bewerber*innen-Zahlen. Dieses Jahr waren es beim Literarischen März noch knapp 250 Einreichungen, so wenige wie noch nie laut der Statistik, die der Pressemappe beilag. Man kann das als Ausdruck einer Krise der Lyrik unter jungen Menschen deuten, wie eine*r der Juror*innen das am Rande der Veranstaltung tat; man kann aber auch fragen, ob die Art, wie die Veranstaltung formal angelegt ist, und das in der Jury abgebildete thematische und gesellschaftliche Profil denjenigen, die als lyrischer Nachwuchs in den Startlöchern stehen, signalisiert, dass sie hier nicht verstanden werden (nicht ganz zu Unrecht, wie sich an dem Wochenende zeigte). Die „deutsche Kultur“ wird 2023 eben nicht (mehr) von denjenigen gemacht, die sich im Besitz der guten Kultur wähnen – das wurde sie vermutlich noch nie. Aber wenn eine Jury diese Vielfalt weder abbildet noch deren Referenzräume wahrnimmt, dann bewirbt man sich auch nicht. Man ist ja nicht gestern auf die Welt gekommen und weiß, wie Ausschluss in Räumen mit hochkulturellem Selbstverständnis funktioniert.

Eine Gegenprobe könnte die Antwort auf die Frage liefern, ob die öffentliche Diskussion mit einem José F. A. Oliver, einer Mely Kiyak oder einem Aras Ören auf dem Panel anders verlaufen wäre. Ich denke, ja. Zwar hätte das die Mehrheitsverhältnisse noch nicht verschoben, aber die Diskussion ist eine andere, wenn Menschen mitreden, für die Kunst eben etwas anderes (gewesen) ist als ein Ausdruck guten Willens. Für viele (Post-)Migrant*innen, für queere Menschen, für Juden und Jüdinnen etwa, aber auch für viele deutsche Linke oder DDR-Künstler*innen sind ästhetische Praxen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten Teil eines Versuchs gewesen, irgendwie zu überleben. Eine Strategie des Empowerments. Eine Neudefinition des Ortes, an dem sie selbst und an dem diese Gesellschaft steht. Und genau diese andere Perspektive auf Kunst, die für unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder bedeutsam war, war 2023 in Darmstadt nahezu völlig abwesend. Das bedeutet nicht, dass solche Perspektiven nicht in der Jury vorhanden gewesen wären, aber sie wurden nicht eingebracht – und das ist entscheidend.

Eine Binsenweisheit der Soziologie lautet, dass einzelne Positionen (und Texte oder Jurys) keine Struktur belegen, statistische Häufungen aber schon. Wenn sich also nach eingehender Untersuchung zeigen sollte, dass Lyrikpreise in Deutschland vor allem von deutschen Jurys vergeben werden, müssen wir fragen, welche Strukturen diese Besetzung möglich machen. Und welche Vorstellungen von Lyrik in diesen Strukturen fortgeschrieben werden – der Karneval der Kulturen ist nicht das Gleiche wie eine radikal vielfältige Gesellschaft, selbst wenn hier und da mal eine diverse Position ausgezeichnet wird. Veränderung im Sinne der radikalen Vielfalt dieser Gesellschaft würde bedeuten, dass man auch die Maßstäbe zur Bewertung von Lyrik selbst kritisch in den Blick nimmt, die sich eine (west)deutsche Öffentlichkeit in den Jahrzehnten seit 1945 zurechtgelegt hat. Mir scheint, zentral daran ist vor allem, dass man die deutsche Kultur als Ort des Guten neu erfand und damit als Ort jenseits der katastrophalen Traditionen politischen Denkens – was sich auch noch in Begriffen wie deutscher Leitkultur widerspiegelt. Kunst mag gesellschaftliche Probleme verhandeln oder auch nicht, was sie keinesfalls sein kann, ist ein Teil des Problems.
 
 
Das ist natürlich, empirisch gesprochen, Unsinn. Die deutsche Romantik hat den deutschen völkischen Nationalismus in Bild, Wort und Ton vokabularisiert (und das gilt auch und vielleicht sogar gerade für das Naturgedicht!). Aber auch in der Gegenwart zeigen Diskussionen zu Blackfacing am Theater oder der ActOut-Initiative im Film, dass Strukturen von Macht und Gewalt auch an Orten der Kulturproduktion existieren. Es ist ja auch nicht weiter verwunderlich, wenn man die Kunst nicht als etwas per se Gutes oder in sich Abgeschlossenes, sondern als ein Teil von Gesellschaft versteht. Man kann das ignorieren, indem man so tut, als gäbe es dieses gesellschaftliche Außen nicht – aber dieses Außen gibt es ja dennoch, egal wie fest man die poetologischen Augen vor ihm verschließt. Und zwar ebenso, wie man in der real existierenden deutschen Natur weiterhin auf KZs, in der deutschen Kulturtradition auf völkische Antisemiten, in der Sprache die wir sprechen auf Spuren der Gewalt trifft, die das Denken, die Menschen und auch die Kunst verwüstet hat. Ein Buchenwald ist eben kein Wald voller Buchen mehr, egal wie sehr man seine Abholzung beklagt. Ein Lampenschirm bleibt etwas anderes als eine Klobürste. Und die Kulturtradition selbst steckt knietief in der Gewalt, ist nicht selten ihre Komplizin gewesen. Es ist nicht ersichtlich, warum ein bisschen Erinnerungskultur und Selbstbildkorrektur daran etwas grundlegend geändert haben sollte.

Die deutsche Gesellschaft befindet sich seit einigen Jahren im Prozess einer fundamentalen Neuausrichtung ihres eigenen Selbstverständnisses. Ausdruck dieser Entwicklung ist ein größeres Bewusstsein für ihre radikale Vielfalt, die einhergeht mit einer kritischen Reflexion von Diskriminierungsstrukturen, die sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen – auch die Lyrik. Diese Entwicklung ist maßgeblich von deutschen Bühnen, Leinwänden und der Literatur ausgegangen und seither begleitet worden. Orte der Kulturproduktion haben in Deutschland also zentrale Impulse geliefert für eine Reimagination von Gesellschaft – aber eben auch für eine Kritik der Bedingungen, unter denen Kunst entsteht, ihrer Referenzräume, ihrer Narrative, ihrer Akteur*innen und des Publikums, vor dem sie stattfindet. Um das wahrzunehmen, braucht es neue Lektüre-Fähigkeiten, die unter Umständen den dominanzkulturellen Sozialisationsraum überschreiten – und Menschen, die sich mit anderen Referenzräumen auskennen.

Zu Beginn der Sitzung für den Literarischen März Darmstadt 2023 wurde des verstorbenen Kritikers Michael Braun gedacht. Das war bewegend, auch, weil die Lyrikkritik mit Braun einen zentralen Akteur verloren hat. Nun ist ein Tod immer auch eine Möglichkeit, zu schauen, was man erreicht hat und wie es weitergehen soll. Und vielleicht ist es an der Zeit, sich einen Ruck zu geben und diesen Betrieb wieder auf Augenhöhe mit der Gegenwart zu bringen. Denn der Lyrikbetrieb ist weit hinter das zurückgefallen, was in anderen Feldern der Literatur bereits seit Jahrzehnten passiert. (Je nach Lesart war die Verleihung des Huchel-Preises an Dinçer Güçyeter 2022 ein erstes Zeichen, dass sich da etwas bewegt, oder eben die Ausnahme, die die Regel bestätigt – das steht noch dahin). Das ist ein Problem vor allem für den Betrieb selbst, der nicht mehr Schritt halten kann mit der Lyrik, die geschrieben wird.

Die Lyrik selbst jedenfalls ist in den vergangenen Jahren politischer, kritischer, innovativer, vielfältiger, beweglicher geworden – und sie verdient Strukturen der Anerkennung, die auf diese Entwicklung reagieren, deren Akteur*innen sich neue Referenzräume erschließen, die ihre eigenen Vorstellungen von Lyrik kritisch reflektieren, die sich fragen, welche Rolle ihre eigene Positioniertheit bei der Bewertung von Texten spielt. Dieser letzte Punkt ist sicherlich der schwerste, gerade weil die Vorstellung von der guten Kultur so zentral für das Selbstverständnis der BRD nach 1945 gewesen ist. Diese gute Kultur hat vermutlich nie existiert, heute ist sie mit Sicherheit zu einer von vielen Vorstellungen geworden, warum und zu welchem Ende wir Lyrik schreiben. Es ist Zeit, dass auch der Lyrikbetrieb dieser Entwicklung mehr Anerkennung zollt. Und zwar nicht um der Lyrik selbst willen, sondern weil die Gesellschaft Lyrik braucht, weil sie die Gegenwart aufschließt, weil sie uns hilft, nicht den Verstand zu verlieren.

Letzte Änderung: 30.03.2023  |  Erstellt am: 24.03.2023

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Kommentare

Matthias Buth schreibt
Nicht wer schreibt, ist Kriterium, sondern was geschrieben worden ist. Chamisso sagt es uns. Gedichte wissen mehr als der Autor (m,w,d).
Konstantin Ames schreibt
Max Czolleks Argumentation ist nicht neu. Neu ist auch nicht, dass darauf ad hominem geantwortet wird. #wardawas (Lyrikzeitung) Dass Czollek als Nicht-Gewinner des Darmstädter Preises 2023 spricht, das sollte wirklich nicht gegen ihn gehalten werden. Es gibt allerdings wenig Veranlassung, diesem Preis irgendeine Signalwirkung fürs eigene Fortkommen zuzubilligen. Unzählige Könnerinnen haben in Darmstadt nichts erhalten. Und? Zahl und Triftigkeit der Publikationen machen den Dichter*, der Rest ist mittelfristiges Wunschdenken und zumeist paar Kumpel in den richtigen Positionen. Zur dt. Tradition zählt auch das Bedürfnis nach karrierefähigen Heroen und Heroinen. Wagner passt sogesehen richtig gut. Abklatsch dessen sind die Lyrikwettbewerbe. Der Lyrikmärz braucht Teilnehmende wie Max Czollek. Umgekehrt not so much. Wer Lyrik will, wird auch so behandelt.
Fritz Iversen schreibt
Bin und hergerissen zwischen Beipflichtem und Gelangweiltsein. Die Ironie lässt mich anfangs hoffen, es könnte ein undeutscher Text folgen ("Ich habe diesen Preis nicht gewonnen, was an sich natürlich ein Riesenskandal ist"). Aber danach lese ich doch zu viel hölzernes Deutschtum, so dass ich tatsächlich fast bicht mehr weiß, ob nicht auch das augenscheinlich Unernste womöglich in bester deutscher Tradition völlig ernst gemeint ist (sorry, das ist alles so urdeutsch gebloggt, dass ich mich nach Texten aus Paris, London oder New York sehne - so direkt, plump, wortarm, desinteressiert an Satzbau, also sagen wir mal einfach: langweilig, "it don't mean a thing if it ain't got that swing"). Aber wenn mein Unvernügen am Text mal beiseite lasse, könnte die Diagnose richtig sein: Die Preisverteiler scheinen nicht so ganz die Zeitgenossen der Gepriesenen zu sein. Wieder einmal, denn war ves nicht immer so? Möglicherweise ein universales Kulturgesetz: Je höher oder reputierlicher ein Preis, desto weniger hat er die aktuellen Arbeitshorizonte im Blick. Ob das nur schlecht ist? Das sowieso modeähnliche Kulturgewerbe sollte, wenn es nach meinem graumelierten Lesergeschmack ginge, nicht noch mehr zu Fast Fashion werden. Die gewisse Trägheit im Lobpreisen der neuesten Neuerscheinungen finde ich sogar produktiv. Die Frage, wen oder was man loben soll, also die Frage der verbindlichen Maßstäbe, ist allerdings bei den Literaturpreisen sowieso inzwischen ein andere, nämlich Existenzielle. Und da trifft dieser Beitrag dann die Mitte der Wunde. Funktionell sind Preise, zumal Lyrikpreise, Produktionskostenzuschüsse. Und wenn man sich das einmal endgültig eingesteht, dass die Literatur unterhalb der Megaseller heute von Mäzenatentum abhängig ist wie vielleicht nie zuvor, dann sollte man vor allem die "Superpreise" wie Büchner-Preis oder den vermaledeiten Nobelpreis "umfunktionieren", um das Geld eben als Produktionskostenzuschuss unter die Produzierenden zu bringen. Das hängt dann nicht von Schönheit, Größe, Qualität und Relevanz eines bereits geschaffenen Werkes ab, sondern von den Richtungspfeilen, die bei einer Autorin oder Autor für zukünftige Werke zu erkennen sind. Was für eine schöne Utopie, wenn man statt der jährlichen Jackpot-Verlosung ein paar wenige Millionen alljährlich zur Förderung der nachwachsenden Weltliteratur verteilen würde? Für lumpige 2 Mio könnte man locker 200 Stimmen stärken. Entsprechende europäische Produktionskostenzuschüsse könnte man auch fordern.

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