Über die Problematik der Naturkinder

Über die Problematik der Naturkinder

RückBlick von Thomas Mann

Die Söhne der Natur, die Kinder der Idee, Menschliches, Göttliches, Teuflisches. Wir haben heute gute Gründe, solchen Begriffen aus dem Weg zu gehen. Thomas Mann aber, der seine Überlegungen mit steilen Thesen beginnt, um sie im Weiteren, fasziniert vom erhabenen Unmenschlichen, zu unterlaufen, hatte keine Bedenken, damit zu argumentieren. Tolstoi und Goethe sind die historischen Figuren, die ihn fesselten.

Man findet bei genauerem Zusehen, daß den Söhnen der Natur, den Plastikern, den Objektiven eine Problematik eignet, die den Kindern der Idee durchaus fremd ist, die ihr Leben, bei allem Liebesglanz, der darauf ruht, eigentümlich dunkel färbt und ihnen jenes adelige „Wohlsein in ihrer Haut“ offenbar beträchtlich verkümmert. Man gewinnt den Eindruck, daß es ein vollständiger Irrtum ist, zu meinen, Problematik sei die Sache des Geistes, während das Reich der Natur ein Reich der Harmonie und der Klarheit sei. Das Umgekehrte scheint richtig zu sein. Wenn, was wir „Glück“ nennen, in der Harmonie, der Klarheit, der Einigkeit mit sich selbst, dem Zielbewußtsein, einer positiven, gläubigen und entschiedenen Sinnesrichtung, kurz: dem Frieden der Seele besteht, so ist offenbar den Söhnen des Geistes das Glück viel leichter erreichbar als den Naturkindern, die im Gegenteil, obgleich „Einfalt“ ihr Teil sein sollte, das Glück und den Frieden der Einfachheit, der Eindeutigkeit niemals zu gewinnen scheinen, sondern in deren Wesen die Natur selbst ein Element der Fragwürdigkeit, des Widerspruchs, der Verneinung, des umfassenden Zweifels mischt, das durchaus kein Element des Glückes ist, denn es ist kein Element der Güte. Der Geist ist gut. Die Natur ist es durchaus nicht. Sie ist böse, würde man sagen, wenn moralische Kategorien in Hinsicht auf sie überhaupt statthaft wären. Sie ist also weder gut noch böse, sie entzieht sich dem scheidenden Urteil, wie sie selbst es ablehnt, zu scheiden und zu urteilen; sie ist indifferent, objektiv gesprochen, und wie diese Indifferenz in ihren Kindern geistig-subjekthaft erscheint, wird sie zu einer Problematik, die mit Qual und Bösartigkeit mehr zu tun hat als mit Glück und Güte, und die durchaus nicht gekommen scheint, Frieden zu bringen, wie der menschenwürdig-menschenfreundliche Geist, sondern Zweifel und Verwirrung.

Man sieht: ich spreche hier nicht von dem vergleichsweise harmlosen Widerstreit der faustischen „zwei Seelen“, dem Kampf zwischen den Trieben einer starken animalischen Veranlagung und der Sehnsucht nach den „Gefilden hoher Ahnen“ – diesem Kampf, dieser Problematik, von der Goethe aus so tiefer Erfahrung spricht, und die nicht nur Tolstois Jugend so schwer und reuezerrissen gestaltete, sondern sein ganzes Leben bis ins hohe Alter begleitete. Was ist meine, ist etwas zunächst viel leichter und heiterer Anmutendes: eine Situation etwa wie die Goethes zwischen Lavater und Basedow, in der Goethe sich als das „Weltkind in der Mitten“ bezeichnet. Das klingt leicht, heiter und selbstgefällig, und war auch wohl so gemeint. Und doch liegt in dem Worte „Weltkind“ und der Existenz, die ihm entspricht, eine Dunkelheit, Schwierigkeit und Problematik, gegen welche die „prophetische“ Daseinsform nichts weiter als Licht, Einfalt und Gradsinn bedeutet. „Goethes Neigung zum Negieren“, schreibt der Kanzler von Müller bei irgendeiner Gelegenheit, „und seine ungläubige Neutralität traten wieder einmal auffallend vor“. „Dieses Etwas“, schreibt Gorki über Tolstoi, „was er vermutlich nie einem Menschen sagen wird, was sich nur andeutungsweise in seine Unterhaltung schlich, und wovon sich Andeutungen auch in seinem Tagebuch finden, scheint mir eine Art ‚Verneinung aller Bejahungen’, der tiefste und entsetzlichste Nihilismus, der aus der Erdschicht einer schrankenlosen und hoffnungslosen Verzweiflung entsprungen ist, aus einer Einsamkeit, die wohl Keiner außer ihm mit so furchtbarer Klarheit erfahren hat.“ Keiner? Nicht Tolstoi war es, der die so unermeßlich viel Lyrik enthaltende Figur des Mephistopheles schuf – wenn auch freilich das Element des Mephistophelischen seinem Leben niemals, auf keiner Stufe, gefehlt hat. Die unaufhörliche, qualvolle Mühe, Das zu gestalten, was er seine Lebensauffassung nennt, zur Wahrheit und Klarheit, zum inneren Frieden zu gelangen, äußert sich in seiner Jugend teils in einer finstern Gereiztheit und Grobheit, die zu Szenen mit den Freunden, zu Duell-Affären führt, die er verzweifelt ernst nimmt, und bei denen es ihm wirklich um Töten und Sterben zu tun ist – teils aber in einem boshaften Negativismus, einem allgemein feindseligen Widerspruchsgeist, der, wie ausdrücklich versichert wird, ganz mephistophelisch anmutete, wenn er auch gewiß nicht nihilistisch, sondern moralisch gemeint war und nur dem gelten sollte, was nicht „das Wahre“ war, aber das war eben – Alles. Man gewahrte bei dem jungen Tolstoi „von Anfang an eine Art unbewußter Feindseligkeit gegen alle im Reich des Denkens angenommenen Gesetze. Gleichviel, welche Meinung ausgesprochen wurde, und je größer die Autorität des Sprechers war, umsomehr bestand er darauf, einen gegnerischen Standpunkt zu betonen und schroff zu erwidern. Wenn man ihm zusah, wie er dem Sprechenden lauschte, ihn prüfend betrachtete, wie sarkastisch er die Lippen verzog, hätte man annehmen müssen, daß er nicht so sehr daran dachte, eine Frage zu beantworten, als daran, eine Meinung auszusprechen, die den Frager überraschen und verwirren müßte.“ Das ist Nihilismus, ist Bosheit. Aber es ist nicht eigentlich kalte Bosheit, sondern gequälte Mißgunst gegen Jeden, der Klarheit und Wahrheit zu besitzen glaubt, es ist der Unglaube an Klarheit und Wahrheit. Diese Mißgunst und dieser Unglaube richteten sich vor allem gegen den klar-humanen Turgenjew, mit dem er sich nie vertrug. „Tolstoi“, sagte Turgenjew, „entwickelte früh einen Charakterzug, der, da er seiner düstern Lebensauffassung zu Grunde liegt, ihm selbst ganz besonders viel Leid verursacht. Er vermochte nie, an die Aufrichtigkeit der Menschen zu glauben. Jede Empfindung erschien ihm verlogen, und er hatte die Gewohnheit, dank seinem außergewöhnlich durchdringenden Blick, den Menschen, den er für falsch hielt, mit den Augen zu durchbohren.“ Und Turgenjew fügte, als er dies sagte, das Geständnis hinzu, er habe nie im Leben etwas kennen gelernt, was ihn mehr zu entmutigen vermocht hätte, als die Wirkung dieses durchdringenden Blickes, der – in Verbindung mit zwei oder drei giftigen Bemerkungen – Jeden, der keine besonders große Selbstbeherrschung hatte, bis zur Grenze des Wahnsinns habe bringen können. Nun war Turgenjews Selbstbeherrschung groß. Auf der Höhe seiner literarischen Erfolge, ruhig und heiter, setzte er der Problematik des jüngern Kollegen die Gelassenheit eines mit sich selbst im Einverständnis lebenden Menschen entgegen. Aber diese Sicherheit war es eben, was Tolstoi reizte; er schien es darauf abgesehen zu haben, diesen ruhigen, gütigen Menschen, der mit der vollen Ueberzeugung, das Rechte zu tun, wirkte, außer Rand und Band zu bringen. Und grade die Ueberzeugung, „das Rechte“ zu kennen und es zu tun, war ihm bei Andern unerträglich, da er selbst durchaus nicht wußte, was „das Rechte“ sei. „Nach seiner Ansicht“, sagt Garschin, „waren die Menschen, die man für gut hält, nur Heuchler, die mit ihrer Güte paradierten und sich den Anschein gaben, überzeugt zu sein, daß ihre Arbeit einem guten Zwecke diene.“ Auch Turgenjew erkannte diese sonderbare, düstere und boshafte Disposition Tolstois, und, entschlossen, bei dem, was er als „recht“ erkannt, auszuharren und nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, mied er Tolstoi, ging von Petersburg, wo dieser damals lebte, nach Moskau und dann auf seinen Landsitz. Aber –: Tolstoi verfolgte ihn. Er folgte ihm Schritt für Schritt, „wie ein verliebtes Frauenzimmer“, um Turgenjews eigene Worte zu gebrauchen.

Das Alles ist sehr merkwürdig und stark. Es zeigt vor allem, wie vollständig der alte Tolstoi, von dem Gorki erzählt, in dem jungen vorgebildet war. Hat er je das „Rechte“, das Eigentliche, das Wahre, das nicht zu Negierende gefunden? Er fand dergleichen für die Andern, fand sie damit ab. Aber er selbst ist der Negation und Neutralität des Elementarwesens bestimmt niemals entkommen. „Rousseau log und glaubte seine Lügen“, sagte er. Glaubte auch er seine Lügen? Aber er log gar nicht. Er war elementar, nihilistisch, boshaft und unergründlich. „Möchten Sie es sehr gern wissen?“ fragte er. „Sehr.“ „Dann werde ichs Ihnen nicht sagen.“ Und er lächelt und spielt mit dem Daumen. Dies Lächeln, dies „listige kleine Lächeln“ wiederholt sich in Gorkis Schilderungen beständig. Es hat nicht nur etwas Außermoralisches, sondern auch etwas Außergeistiges, Außermenschliches, es ist das Geheimnis des Naturhaften, des Elementaren, das nicht menschenfreundlich ist, sondern an der Verwirrung seine Lust hat. Nach Gorki liebte der Alte es, heimtückische Fragen zu stellen. „Wie denken Sie über sich?“ „Lieben Sie Ihre Frau?“ „Wie gefällt Ihnen die meine?“ „Haben Sie mich gern, Alexei Maximowitsch“ „Das ist Arglist“, ruft Gorki. „Die ganze Zeit experimentirt er, prüft er etwas, als ob er in den Kampf ginge. Es ist interessant, aber nicht nach meinem Geschmack. Er ist der Teufel, und ich bin noch ein Wickelkind, und er sollte mich in Ruhe lassen.“

Eines Tages sieht Gorki den alten Tolstoi allein am Meere sitzen – die Szene ist der Höhepunkt seiner Erinnerungen. „Er saß, den Kopf auf die Hände gelegt, der Wind blies ihm die Silberhaare seines Bartes durch die Finger; er sah in die Ferne auf das Meer hinaus, und die kleinen grünlichen Wellen rollten sich gehorsam zu seine(n) Füßen und streichelten sie, als wollten sie dem alten Magier etwas von sich erzählen … Er erschien mir wie ein uralter, lebendig gewordener Stein, der Anfang und Ausgang aller Dinge weiß und bedenkt, wann und wie das Ende der Steine, der Gräser der Erde, der Wasser des Meeres, des ganzen Weltalls vom Sandkorn bis zur Sonne sein wird. Und das Meer ist ein Teil seiner Seele, und Alles um ihn kommt von ihm, aus ihm. In der sinnenden Regungslosigkeit des alten Mannes empfand ich etwas Schicksalvolles, Magisches. Ich kann es nicht in Worten ausdrücken, was ich in jenem Augenblick mehr fühlte als dachte, in meinem Herzen war Jubel und Furcht, und dann schmolz Alles in einem einzigen seligen Gefühl: „Ich bin nicht verwaist auf Erden, solange dieser Mann auf ihr lebt.“ Und Gorki schleicht sich „auf den Zehenspitzen“ fort, damit der Sand nicht unter seinen Füßen knirsche und die Gedanken des Alten störe.

Die mystische Ehrfurcht, die Gorki hier schildert, ist nicht diejenige, die uns beim Anblick der Helden der Idee ergreift. Weder Dostojewski noch Schiller haben diese Art von Scheu und Schaudern eingeflößt, so heilig sie wirken mochten, das ist sicher. Aber auch die Ehrfurcht, die Goethe erregte, kann dieser nicht ähnlich gewesen sein, obgleich sie ihr verwandt war. Diese Tolstoische Größe und Einsamkeit ist urheidnisch-wilder Art, vor aller Gesittung gelegen. Es fehlt ihr das humanistische Element, das menschliche. Dieser wissende, allverbundene, sinnende Urgreis, der am Rande des ewigen Meeres sitzend Anfang und Ende aller Dinge bedenkt, ruft eine halbdunkle, vormenschlich-unheimliche Gefühlswelt wach, eine Welt des Raunens und der Runen – was er sinnt, sagen dir nächtlich die Nornen. Er glich, sagt der erschütterte Betrachter, einem uralten, lebendig gewordenen Stein – aber eben nicht nur einem Steine also, keinem Werk der Kultur, nicht dem herausgearbeiteten Gottbilde, nicht dem Menschen, wie Goethe. Die humanistische Göttlichkeit Goethes wird hier deutlich zu etwas anderm als die urheidnisch-ungebildete Göttlichkeit Tolstois, von dem Gorki sagte: „Er ist der Teufel“. Und doch bleibt in der Tiefe die Gemeinschaft bestehen, und doch ist auch in Goethe das Elementare, das Dunkle, Neutrale, das Boshaft-Verwirrende, das Negierend-Teuflische.

Es gibt ein herrisches und dabei heimlich gequältes Wort von ihm, das einen tiefern Blick in sein Inneres tun läßt als manches Wort der Weisheit, der Klarheit und Ordnung, das er sprach. „Wenn ich die Meinung eines Andern anhören soll“, sagte er (sie also auch nur anhören soll, nicht etwa sie annehmen), „so muß sie positiv ausgesprochen werden; Problematisches hab ich in mir selbst genug.“ Das ist ein Geständnis, in Form einer hochfahrenden Forderung. Es hat olympisch-imperatorischen Akzent, und dabei ist ein Zittern der Ungeduld in der Stimme, die es spricht, des gepeinigten Ueberdrusses am Problematischen, der nach außen hin gereizt auf dem Positiven besteht … „Aus dem einen Auge blickt ihm ein Engel“, schreibt Jemand, der auf Reisen seine Bekanntschaft machte, „ aus dem andern ein Teufel, und seine Rede ist eine tiefe Ironie über alle menschlichen Dinge“. Ueber alle? Das ist groß, aber es ist nicht liebreich, und er selbst ist doch schließlich auch ein Mensch. „Ueberhaupt“, meldet Einer, der ihn oft sah, „war er heute in jener bitter-humoristischen Stimmung und sophistischen Widerspruchsart, die man so oft an ihm wahrnimmt“. Da haben wir abermals die Negation, die Bosheit, den Widerspruchsgeist, die Médisance, von der der junge, sanfte Sulpiz Boisserée in seinem Tagebuch ein Lied zu singen weiß. „Um elf Uhr bin ich wieder bei Goethe. Das Lästern geht wieder an.“ Es geht her über Politisches, Aesthetisches, Gesellschaftliches, Religiöses, Deutschland, Frankreich, Philhellenismus, Parteiwesen und so fort, in einem Stil, daß sich der arme Boisserée „mit allen diesen moquanten Reden zuletzt wie auf dem Blocksberge vorkommt“. „Auf dem Blocksberge“ – das ist stark gesagt. Es ist entweder zu stark im Zusammenhang mit dem Worte moquant; oder aber dieses ist viel zu schwach, und das ist das Wahrscheinlichere. Auf jeden Fall zeigt die Aufzeichnung, die aus dem Jahre 1826 stammt, wie noch der hohe Greis fromm geartete Menschen verwirren konnte. Ein Beobachter, der nicht dumm gewesen sein kann, schrieb über ihn ein Wort, das geheimen Schrecken erregt, irgendwie erstarren läßt: „Er ist tolerant, ohne milde zu sein!“ Man überlege doch, was das heißt! Toleranz, Duldsamkeit ist unsrer menschlichen Erfahrung nach stets mit Milde, mit Menschen- und Weltfreundlichkeit verbunden; unsres Wissens ist sie ein Produkt der Liebe. Aber Toleranz ohne Milde, harte Toleranz – was ist das? Das ist ja außermenschliche, eisige Neutralität, entweder etwas Göttliches oder etwas Teuflisches …

Aus: „Die Weltbühne“ vom 6. Oktober 1921

Letzte Änderung: 19.12.2021  |  Erstellt am: 18.12.2021

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Kommentare

ANH schreibt
Klasse Text! Danke, ich kannte ihn noch nicht.

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