Dorothee Sölle war überzeugt davon, dass ein Christenmensch nur im Widerspruch mit der Gesellschaft leben könne. Dieser Widerspruch, den sie lebte, trug sie in ihre feministische Theologie, die sie betrieb, bevor dieser Begriff überhaupt existierte. In einem Impulsvortrag bei einer Gedenkveranstaltung für Dorothee Sölle in der Evangelischen Akademie Frankfurt zeichnete die Theologin Carlotta Israel ein Bild der vor 20 Jahren Verstorbenen.
Biografie
1929 wurde Dorothee Nipperdey in Köln geboren. Ihre Kindheit und Jugend während der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs verlebte sie in ihrer bildungsbürgerlich-liberalen Familie in innerer Ablehnung der NS-Ideologie. Inspiriert von ihrer Religionslehrerin Marie Veit interessierte sie sich immer mehr für Theologie. Sie studierte zunächst klassische Philologie, Philosophie und Germanistik in Köln und Freiburg im Breisgau und dann in Göttingen Theologie und Literaturwissenschaft. 1954 wurde sie mit einer Arbeit zu den „Nachtwachen von Bonaventura“ zur Doktorin der Philosophie promoviert. Im gleichen Jahr heiratete sie ihren ersten Ehemann Dietrich Sölle. Dann arbeitete sie als Lehrerin.
1965 veröffentlichte sie ihr erstes theologisches Buch mit dem Titel „Stellvertretung“, unternahm darin die Suche nach einer zeitgenössischen Christologie. Das Buch diente ihr – so schrieb sie es in ihrer Autobiografie – als „Selbstklärung“ auch während der Zeit der Trennung von ihrem ersten Mann. Der Untertitel von „Stellvertretung“ lautet: „Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“. Die Tod-Gottes-Theologie prägte sie zentral mit. Rückblickend erkannte sie, dass sie darin eigentlich auch schon feministische Theologie betrieben hatte, weil sie nicht an einen Gott als „Supermacht“ glauben wollte und konnte.
1968, als Studienrätin im Hochschuldienst, die Germanistik unterrichtete, und Mutter dreier Kinder, traf sie sich mit evangelischen und katholischen Christ*innen. Gemeinsam wurde diskutiert. Im Angesicht des Vietnamkriegs wurde das politische Gebet entwickelt, das auf dem Katholikentag in Essen auf 23 Uhr verschoben wurde und seitdem den Namen „politisches Nachtgebet“ trägt. In diesem Kreis lernte sie auch Fulbert Steffensky kennen, den sie 1969 heiratete.
Schon als die Wiederbewaffnung Mitte der 1950er Jahre diskutiert wurde, verbanden sich Anliegen von Christ*innen und Sozialist*innen. Für Sölle handelte es sich hierbei nicht um Gegensätze. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 verlagerte sich der christlich-sozialistische Dialog nach Lateinamerika.
Dorothee Sölle wurde immer bekannter. Die Prüfer ließen sie in ihrem ersten Habilitationsvortrag an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln durchfallen. Es wurde gemunkelt, dass sie dies nicht nur im Zusammenhang mit ihrem politischen Engagement taten, sondern auch mit der Geburt ihres vierten Kindes. In Deutschland blieb ihr eine ordentliche Professur verwehrt. Zwischen 1975 und 1987 war sie Professorin für Systematische Theologie am Union Theological Seminary in New York. Hier wuchs ihre feministische Theologie. 1994 erhielt sie aber eine Professur an der Universität Hamburg, nachdem sie zuvor in Kassel und Basel als Gastprofessorin tätig gewesen war.
Dorothee Sölle war umtriebig und viel unterwegs. Sie diskutierte, rang um Gerechtigkeit und Worte. Vor zwanzig Jahren starb sie auf einer Vortragsreise. Ihr letzter Vortrag trug den Titel „Über das Glück“.
Politische Theologin
Das Politische Nachtgebet steht repräsentativ dafür, wie unmittelbar verbunden Glaube und Politik für Sölle waren. Dass Religion und Politik gar nicht trennbar sind, erkannte sie auch bei ihrer Bibellektüre und deren Auslegung. Eines der am meisten verwendeten Zitate Sölles lautet: „Jeder theologische Satz müsse zugleich auch ein politischer sein.“ Eine apolitische Theologie war für sie leer.
Dorothee Sölle war schon in jungen Jahren von der Frage geprägt, wie das Bildungsbürger*innentum, in dessen Kontext sie aufgewachsen war, den Holocaust hatte geschehen lassen können. Den Zerstörungsdrang von Menschen erkannte sie auch in der Waffenindustrie, die mit Atombomben maximale Zerstörungsmöglichkeiten entwickelte. Den Zerstörungswillen erlebte sie hautnah, als sie 1972 Vietnam besuchte. Sie bezeichnete den Drang zur weltzerstörerischen menschlichen Selbstüberhebung als „Todestendenz patriarchaler Weltgestaltung“.
In den USA entdeckte sie mehr Offenheit für politische Fragen und politisches Engagement aus religiösen Motiven als das in Deutschland der Fall war. Das Civil Rights Movement beeindruckte sie. Sie sah Verbindungen unter den verschiedenen Bewegungen der counter culture, die sich gemeinsam gegen den Materialismus erhoben. Auch ihr Feminismus war nicht darauf angelegt, sich separatistisch als cis Frauen zusammenzuschließen, sondern alle mit einzubeziehen.
Für sie war eine nur männlich geprägte Gottesvorstellung eine zu starke Verengung. Wie klein wäre Gott, wenn nur männlich? Dorothee Sölle bemühte sich darum, das Gottesbild zu pluralisieren, in dem sie verschiedene Pronomen verwendete. Sie dekonstruierte, dass die Vorstellung von Gott als altem weißen Mann sexistisch und rassistisch geprägt ist. Indem sie diese verschiedenen Kategorien und ihre gegenseitige Intensivierung erkannt hat, ist sie für heutige intersektionale Perspektiven in der feministischen „Enkelinnen-Generation“ anschlussfähig.
Dorothee Sölle wandte sich auch gegen kapitalistische Ausbeutung und das dahinterstehende Menschenbild. Die Reduktion des Menschen auf das Materielle und eine vermeintlich selbstverschuldete Armut im gegenständlichen und geistlichen Sinne, kritisierte sie. Auch dagegen an entwickelte sie ihre demokratische, also allen offenstehende Mystik. Im kritischen Anschluss an Gedanken ihres Lehrers Rudolf Bultmann ging sie von seinem Entmythologisierungsgedanken weiter: Nicht nur universitär, sondern lebensnah konkret müsse hinterfragt werden, um so auch Machtstrukturen in Texten, im Glauben und in der Welt aufzudecken. Dennoch bedürfe es der Hoffnung, die im Mythos vermittelt ist. Eine Dekonstruktion ohne Möglichkeit einer Wiederaneignung von Hoffnung geht fehl.
Der Begriff „Hoffnung“ verbindet Sölle mit einigen anderen Philosophie- und Theologietreibenden des 20. Jahrhunderts wie Ernst Bloch oder Jürgen Moltmann. Schon in dem Begriff „Hoffnung“, aber ganz besonders in Sölles Mystikverständnis ist Widerstand, Ablehnung der bestehenden Verhältnisse, logisch schon mit eingeschlossen. Das eine bedingt das andere. In der Mystik liegt Freiheit, weil sich Menschen in der Mystik als ganz und eins mit Gott erfahren. Dabei ist Mystik nicht Weltflucht. Mystik wird durch das Nichtübereinstimmen mit dem Vorhandenen zu Widerspruch und Widerstand. Der Widerstand wurde auch bei ihr ganz greifbar. Sie demonstrierte für die Schöpfung und gegen Aufrüstung. Aufgrund ihrer Blockaden in Mutlangen und Fischbach wurde sie zweifach verurteilt.
Poetin
In ihrer Habilitation hat sich Dorothee Sölle mit dem Verhältnis von Literatur und Theologie beschäftigt. Sie bezeichnete sich selbst als „theologische Schriftstellerin“. Eine Wissenschaftssprache mit festen Termini, die nur entsprechend zu platzieren wären, lehnte sie ab. Ihr Ziel eines verständlich Theologietreibens schlug sich auch in ihrer Sprache nieder. Ihre Prosa-Texte zeigen, wie sie sich nicht dem wissenschaftlichen Duktus unterwarf. Dorothee Sölle verfolgte ihren eigenen Stil, der dem in der deutschen Wissenschaftssprache erkennbaren Hang zur Verkomplizierung statt Veranschaulichung entgegenwirkte. Sie war in ihren Worten wirklich um Verständnis und Dialog bemüht. Und eigentlich, so Sölle, ist Theologie näher an „Praxis, Poesie und Kunst“. Das zeige auch ein Blick in die Geschichte. Außerdem sollten sich ihrer Meinung nach Theologie und Gebet einander nicht widersprechen, sondern sind unmittelbar miteinander verknüpft.
In „Mystik und Widerstand“ beschrieb Dorothee Sölle die Probleme aller Mystiker*innen: die Begrenztheit der Sprache. Im Ringen um Worte wird auch mit denjenigen gerungen, die Sprache beherrschen und darin Macht ausüben. Ihr demokratisierendes Mystikverständnis gilt gleichermaßen für die Poesie. Damit macht Sölle Mut, andere und eigene Textgestalten zu finden und auch hier ausgetretene Pfade zu verlassen. Eigene Worte finden, sprachfähig werden ist in ihrem Sinne auch selbst mächtig zu werden. Geprägt war sie von Bertolt Brecht, befreundet mit Erich Fried und Heinrich Böll, um nur einzelne Namen zu nennen. Seit 1970 war sie im Mitglied im PEN. Poesie und Politik, aber auch Poesie und Theologie sind für Sölle aufeinander bezogen. Und so sind auch Gebete Gedichte und Gott anklagende Gegenwartsanalyse poetisch. Darin liegt die Kraft und die Möglichkeit tiefer und höher zu gehen als es nichtgedichtete Texte könnten.
Und so drängen sowohl die Prosa als auch die poetischen Texte auf Veränderung. Veränderung der Welt, Veränderung in der Perspektive auf Gott, Veränderung in der Wahrnehmung und der Situation anderer Menschen und die Veränderung von Autor*innen selbst. Sie drängen zu Gerechtigkeit für alle, zu Frieden für diese Welt und zur Bewahrung der Schöpfung vor der Zerstörungsmacht der Menschen. Klassische Grenzziehungen zwischen Theologie und Poesie – auch bei Sölle zusammengefasst in Theopoesie – oder Unterscheidungen zwischen Politik und Theologie passen nicht oder wurden von Dorothee Sölle aufgebrochen. Sich an Dorothee Sölle zu erinnern heißt auch, sich an einen Menschen mit diesen verschiedenen Entgrenzungen zu erinnern. Werk und Autorin sind verbunden; ihr politischer Glaube und ihre christliche Politik sind nur dann auffindbar, wenn Textgattungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Durch die Gedichte verstehe ich mehr von den Prosa-Texten und andersherum. Sölles Selbstverständnis als theologische Schriftstellerin ernst zu nehmen heißt auch, sich mit der Fülle ihrer Texte zu befassen.
Für mich als Mutter einer anderthalbjährigen Tochter ist das Kapitel „Vom Schmerz der Geburt“ aus ihrer Autobiografie quasi Gedicht, obwohl es in Prosa verfasst ist. Dieses Thema so hervorzuheben und einer eigenen Frauenfamiliengeschichte zu gedenken, rührt mich an und verbindet. Bei allem selbst mächtig werden durch Worte, benennt Sölle auch Ohnmachtserfahrungen. Auch Macht und Ohnmacht sind nicht voneinander zu trennen. Vulnerabilität Ausdruck verleihen zu wollen und zu können, ist eine eigene Kunst. Folgende Fragen von ihr aus dem genannten Kapitel weiten den theologischen Blick. Sie könnten Gebet oder Gedicht sein. Ich zitiere aus „Gegenwind“, den Erinnerungen von Dorothee Sölle: „Wie wird unser Schmerz zum Schmerz Gottes? Wie gewinnen wir Anteil am messianischen Schmerz der Befreiung, am Stöhnen der in Wehen liegenden Schöpfung? Wie leiden wir so, daß unser Leiden Schmerz der Geburt wird?“
Kämpferin
Im Rahmen der Gedenkveranstaltung an der Universität Hamburg zum ersten Todestag von Dorothee Sölle verfasste Fulbert Steffensky ein „Nachwort zu einem Leben“ und benannte darin Widersprüche in ihr und Widersprüche, die andere an ihr meinten wahrzunehmen. Ich lese die letzten Zeilen:
„Dorothee Sölle hat gekämpft, gearbeitet, diskutiert, demonstriert, sich eingemischt, den Mund nicht gehalten. Und doch hat sie nicht gelebt, um zu kämpfen und zu arbeiten. Sie war zu Hause im Spiel; in dem also, was sich nicht durch seine Zwecke rechtfertigt. Sie hat Klavier gespielt bis zum letzten Tag. Sie hat im Kirchenchor gesungen bis zur letzten Woche. Sie hat mit ihren Enkeln gespielt. Sie hat Gedichte gelesen und geschrieben. Sie hat gebetet und die Gottesdienste besucht. Zu Hause war sie in jenen nutzlosen Köstlichkeiten. Ihre Gelassenheit in allem Zorn hatte einen Grund, den sie in ihrem letzten Vortrag so formulierte: „Wir beginnen den Weg zum Glück nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene.“ Das ist die köstliche Formulierung dessen, was wir Gnade nennen.“
Siehe auch:
Reden zum Gedenken an Dorothe Sölle
Letzte Änderung: 27.03.2023 | Erstellt am: 27.03.2023
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