Mit-Verwobenes

Mit-Verwobenes

Ein Nachruf auf Jean-Luc Nancy
Jean-Luc Nancy | © Coco Hackel

„Meistern, was sich nicht meistern lässt: Das ... macht den Einsatz und das kundigste Spiel des Philosophen aus.“, bemerkte der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, der am 23. August 2021 starb, in der „Mit-Teilung der Stimmen“. Die leidenschaftliche Anstrengung, das Bemühen um das Vergebliche zieht sich durch seine Schrift. Ingo Ebener schrieb ihm liebevolle Abschiedsworte.

Jean-Luc Nancy ist tot. Dieser Satz verbreitete sich am gestrigen Dienstag zusammen mit dem Wunsch, es sei nichts Richtiges an ihm. Noch waren keine Meldungen, keine offiziellen Bestätigungen erschienen, doch was in mir weiter heranwuchs und immer mehr an Platz gewann, war eine Sprachlosigkeit. Zu ihr – zur Sprachlosigkeit – kamen die Meldungen und die Gewissheit, dass Jean-Luc Nancy tot ist.

(…)
Und Zahlen waren
mitverwoben in das
Unzählbare. Eins und Tausend und was
davor und dahinter
größer war als es selbst, kleiner, aus-
gereift und
rück- und fort-
verwandelt in
keimendes Niemals.
(…)

Ich habe diese Verse aus Paul Celans Gedicht „Die Silbe Schmerz“ herausgegriffen, weil sie davon sprechen, was keine Sprache hat. So häufig ist der Schmerz ein Verstummen und so selten wird er verstanden, von uns wie von Anderen. Wird er einmal verstanden, dann stellt sich die Frage, wie er zum Ausdruck gebracht werden kann, denn das Verstummen ist ein Versagen der Sprache, die keine Antwort zu geben weiß auf die Frage, die der Schmerz aufgeworfen hat. Wer den Verlust begreift, begreift sich als Verlierer, doch wer ihn nicht begreift, der ist in keiner besseren Situation. Wie häufig greift man nach Zählbarem, wenn man auf das Leben blickt und was gewinnt man wirklich im Verlust aus den Zahlen?

81 Jahre alt war Jean-Luc Nancy als er starb, er unterrichte rund 5 Jahrzehnte an verschiedenen Hochschulen, er war der Verfasser einer fast unzählbaren Anzahl an Büchern und Schriften. So bedeutend das alles ist, so wenig besagt dies doch am Ende, so wenig berührt es all das darin Mitverwobene. Andere Zahlen erzählen eine andere Geschichte, denn seit 1991 war Jean-Luc Nancy nach einer Transplantation gezwungen, mit dem Herz eines anderen zu leben. Sein altes Herz hatte ihn im Stich gelassen, es war ihm fremd geworden. Welch komplizierte Bewegung: Ein Körper im Inneren des eigenen Körpers wurde fremd und musste durch einen Fremdkörper ersetzt werden, der zum Inneren des Eigenen werden musste.

„Où sont ici la justesse et la justice? Qui les mesure, qui les prononce? Tout me viendra d’ailleurs et du dehors en cette affaire – tout comme mon coeur, mon corps, me sont venus d’ailleurs, sont un ailleurs moi.“ / „Wo soll man hier das Rechte und das Gerechte ausmachen? Wer bemißt es, wer teilt es mit, wer verkündet, was recht und gerecht ist? In dieser ganzen Angelegenheit wird mir alles von einem anderen und von einem äußeren Ort aus zustoßen, so wie ich auch mein Herz, meinen Körper von woanders erhalten habe und sie ein Woanders „in“ mir sind.“
(Übersetzung: Alexander Garcia Düttmann)

Nicht immer ist die Frage nach Recht und Gerechtigkeit also zielführend; was einem zustößt und was mit einem geschieht, liegt nicht immer in den eigenen Händen. Man wird in ein Leben hineingeboren und entwickelt Körper und Geist, mal größer, mal kleiner, mal langsamer, mal schneller, immer gemeinsam, aber nicht immer in derselben Geschwindigkeit und Richtung.

„Isoler la mort de la vie, ne pas prendre l’une intimement tressée dans l’autre, chacune faisant intrusion au coeur de l’autre, voilà ce qu’il ne faut jamais faire.“ / „Den Tod vom Leben abtrennen, Leben und Tod nicht als eng verwoben ansehen, als etwas, das mitten in das Herz des anderen eindringt – genau das darf man nie tun.“
(Übersetzung: Alexander Garcia Düttmann)

Was Jean-Luc Nancy am eigenen Leib begreifen lernen musste, war die Ungreifbarkeit dieser nicht voneinander zu trennenden Verbindung von Leben und Tod.

30 Jahre lang trug Jean-Luc Nancy den Tod mit sich, in sich herum. Er wusste gut, sogar sehr gut umzugehen mit dieser Mit-teilung dessen, was nicht mitteilbar ist. Fast könnte man sagen, er hätte aus den Verdrehungen und Mutationen von Schmerz und Herz, von Eigenem und Fremden, von Leben und Tod Kraft geschöpft, Kraft und immer neue Worte des Trostes. Was Nancy zu einem der wichtigsten Denker machte, lag gewiss nicht bloß in seiner erstaunlichen Gelehrtheit, sondern darin, den Anderen nicht bloß nachzudenken, sondern ihnen mit Interesse und Zutrauen begegnen zu können. Dass sich Nancy dafür nie zu wichtig war, zeigen die von ihm meisterlich geschriebenen kleinen Texte zu Werken von Künstlern aller Genres, aber auch Gespräche und Interviews, die er allen gewährte, selbst dann, wenn diese gar nicht mit einer Zusage gerechnet hatten…

So liebevoll, so klug, verständnisvoll und trostbringend Jean-Luc Nancy war, so entschieden war er in der Ausformulierung seiner Positionen und Ansichten. Dabei ging es ihm nicht darum, Recht zu haben – denn nicht immer führen Recht und Gerechtigkeit zum Kern einer Sache –, es ging ihm darum, sich als Teil einer Gemeinschaft mit-zuteilen, an etwas zu rühren, etwas infrage zu stellen, etwas zu verschieben, etwas in Bewegung zu setzen, etwas zum Keimen zu bringen.

So viel man auch zurückgeht in der Vergangenheit, so viel man sich auch verliert in dem einzigartigen Werk, in diesen tausend Schriften, so sehr drängt sich das „fort-“ auf, das in Celans Gedicht einen Sprung erlebt, fortwandelt – von einer Zeile in die nächste; „verwandelt in / keimendes Niemals.“ Nun ist Jean-Luc Nancy fort, fortverwandelt, wie auch seine großen Freunde vor ihm: Jacques Derrida, Philippe Lacoue-Labarthe und zuletzt Werner Hamacher.

Ich bin sprachlos und doch weiß ich, dass es falsch wäre, im Zustand der Sprachlosigkeit zu verharren, denn vielleicht lassen sich irgendwann und irgendwo Worte finden, die mit dem Stummen in der Sprache mitverwoben sind. Ich erinnere mich, wie freudig mir Hamacher von seinem Text „D’avec: Mutations, Mutismes“ berichtete, den er anlässlich des 75. Geburtstages von Jean-Luc Nancy verfasst und vorgetragen hatte. In ihm finde ich den Hinweis auf ein nachgelassenes Gedicht Celans, das die französische und die deutsche Sprache miteinander verwebt. Es trägt den Titel „MUTA“ und spricht – aus einem musikalisch-sprachlichen Miteinander heraus – von einem Bogen „ins Vielleicht einer Sprache gespannt“ und einer Saite, „qui / répondrait.“

Mögen viele Antworten erklingen. Adieu – lieber JLN.

Siehe auch:
Philosophie der Mit-ologie. Über die Mythologie einer Silbe
Gespräch mit Jean-Luc Nancy

Letzte Änderung: 27.12.2021  |  Erstellt am: 22.08.2021

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