Die besondere Art der Wahrnehmung bringt den erzählerischen Ton einer Schriftstellerin und eines Schriftstellers hervor, der das lesende Publikum packt – oder nicht. Brigitte Kronauer hat sich diesen Stil erarbeitet und wandelbar gehalten. Otto A. Böhmer zeichnet die literarische Arbeit der Autorin nach, die jetzt im Alter von 78 Jahren gestorben ist.
Dass die Geschichte der Schriftstellerin Brigitte Kronauer zu einer Erfolgsstory wurde, schien lange Zeit nicht ausgemacht: Zu mühsam waren die Anfänge, was weniger an der Autorin, sondern an der Schläfrigkeit der Lektoren lag, die mit ihren Texten nichts anfangen konnten. Brigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren und, aus Gründen der Kostendeckung, bis 1971 als Lehrerin amtierend, ließ sich jedoch nie wirklich entmutigen; sie schrieb, weil sie schreiben musste – eine Art Besessenheit, nützlich für sie und, letztendlich, hocherfreulich für uns andere. Die Anfänge für ihr Schreiben, erinnert sich die Autorin, wurden früh gelegt, wobei Mutter Kronauer eine nicht ganz unerhebliche Rolle zukam: „Ich glaube, ich kann mit einiger Objektivität sagen, dass für mich von Anfang an Geschichten sehr wichtig gewesen sind, und das ist unauslöschlich mit meiner Mutter verbunden, die wohl der erste Mensch gewesen ist, der mir immer wieder Geschichten erzählt hat. Und mir ist aufgefallen, dass niemand so gut erzählen konnte wie sie, weil sie in der Lage war, eine Dramaturgie herzustellen, den Sachen einen bestimmten Dreh zu geben, eine Pointe, einen knalligen Schluss. Rückblickend scheint mir da eine wesentliche Wurzel dafür zu liegen, was mich bei meinem Schreiben, eigentlich bis heute, interessiert, nämlich, kurz gesagt: der Umgang mit der Realität, der Umgang mit dem, was wir erleben und was wir uns im Kopf daraus machen, wie wir uns die Wirklichkeit interpretieren.“ 1974 erscheint in einem Göttinger Kleinverlag ein erster schmaler Prosaband von Brigitte Kronauer: Der unvermeidliche Gang der Dinge. Dieser Titel, so könnte man im nachhinein meinen, hatte bereits etwas Zukunftsweisendes, denn alles weitere, was für die Autorin Brigitte Kronauer vorgesehen war, schien sich von da an geradezu unwiderstehlich auf den Weg zu machen. Den Durchbruch schafft Kronauer mit dem Roman Frau Mühlenbeck im Gehäus, der 1980 erscheint. Er macht die zuvor noch schläfrigen Kritiker hellwach. In der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es: „Sie sucht in der deutschen Gegenwartsliteratur ihresgleichen. Ihre Sprache ist geschmeidig, ohne glatt zu sein, sie ist gedankenreich, aber nicht gedankenschwer – sie lässt einen nicht mehr los.“ Tatsächlich lässt Brigitte Kronauer ihre Kritiker nun nicht mehr los, oder besser gesagt: Sie lassen sie nicht mehr los.
Wahrgenommene Natur
Die Literaturkritik, einmal enthusiasmiert, schießt sich mit Lobeshymnen auf die Autorin ein, und es sind sogar noch Steigerungen möglich – was sich bei ihrem zweiten Roman Rita Münster (1983) zeigt. Die Zuneigung, die Brigitte Kronauer widerfährt, hat ein breites Spektrum, sie reicht von literarisch verbrämten Liebeserklärungen bis hin zum Tonfall nachbebender Ergriffenheit, der auch komisch klingen kann. Fritz J. Raddatz etwa präsentiert sich nach der Lektüre von Rita Münster als Lesekater, dem der Fang seines Lebens gelungen ist. In der „Zeit“ schreibt er: „Manchmal kann dieser Beruf glücklich machen: Wenn nach Jahren, die der Kritiker einen Autor beobachtet hat, plötzlich ein Buch erscheint, das vollkommen gelungen ist; so richtig im Ton, so behutsam-perfekt in der Sprache, so ‘neu’ (doch, das gibt es!) in der narrativen Struktur. Es ist jenes Glücksgefühl, das einen behaglich macht, wärmt und verführt zu immer neuem Lesen. Seit Wochen schleppe ich, ein großer satter, schnurrender Kater, meine Beute umher – vom Kamin ins Bett, vom Schreibtisch auf den Teppich, von langen Lesepausen zu gerade gierigem Noch-einmal-Lesen. Die Beute heißt Brigitte Kronauer: ‘Rita Münster’.“ In der Tat ist Rita Münster ein ungewöhnlich gutes Buch – vielleicht sogar das beste der Schriftstellerin Brigitte Kronauer, die ihren Lesern vorführt, dass man die Dinge, im besonderen die Natur, tatsächlich mit ganz anderen Augen sehen kann: „An diesem Tag war der Fluss vollkommen und allgemein … Tauwetter setzte ein. Das Wasser, wieder ganz flüssig, wurde in sich weiter spaltende Wellen zerteilt, Beweglichkeit und Blitzen, der Himmel riesenhaft, bis zum Äußersten gerenkt und gereckt. Ich stand unentschieden zwischen den Jahreszeiten. Ich sehnte mich weder vor noch zurück, ich hielt mich an dieser Stelle auf, wünschte weder ein Andauern des Winters, noch fühlte ich eine Neugier auf Anzeichen eines vorschnellen Frühlings. Sobald man die Tür zum Garten öffnete, tropfte und gluckste es überall. Die Luft war würzig, lebendig, weich. Und doch tauchte das Licht hoch. Wo die Finsternis hingesickert war, konnte man nicht sehen. Eine Aufteilung zeigte sich an den Gebüschen, auf den senkrechten Heckenflächen, alles Schwarze vertiefend, das Helle aber zum Schnee und dem sich weitenden, luftig werdenden Schnee schlagend. Der Glanz trat noch nicht als harte, geschlossene Wölbung auf, sondern zerstäubt in winzige, schwach schimmernde Teilchen, die sich nicht zu einer festen Menge niederlassen wollten. Die Äste hatten aber wohl letzten Endes ihre schwarze Dunstigkeit verloren. Man konnte sie nicht mehr als Kontrast zum weißen Himmel vereinnahmen.“ Der Glanz, den Rita Münster in die Welt brachte, ist bis heute geblieben, ja, er wurde zur gern benutzten Metapher, wenn es darum ging, das Leseerlebnis Kronauer näher zu beschreiben. 1986 erscheint ihr Roman Berittener Bogenschütze, der von der Selbsterfahrung des Matthias Roth erzählt, eines eher behäbigen Privatdozenten, dem während einer Reise in den hellsten Süden Europas eine Offenbarung zuteil wird, die sein Leben zwar nicht von Grund auf verändert, aber doch in andere Erkenntnisbahnen lenkt. Die Literaturkritiker, noch immer begeisterungsbereit, legen nach; im „Spiegel“ ist zu lesen: „Brigitte Kronauer hat ein großartiges Buch geschrieben: über die Sichtbarkeit der Dinge und den Zugang zu einer ins Licht versetzten Wahrnehmungswelt, die es neu und noch einmal zu entdecken gilt.“
Die Bedürfnisse der Literaturkritiker
1990 erscheint ein weiterer großer Roman der Schriftstellerin Brigitte Kronauer. Er hat den Titel Die Frau in den Kissen, und tatsächlich befindet sich die Ich-Erzählerin dieses Buches die meiste Zeit in den Kissen, sie liegt nämlich im Bett, das, wie es heißt, „von allen heimlichen Vergnügungsstätten“ die „beste und einfachste Lösung bietet“. Im Bett ist man geschützt, vor sich selbst, vor der Welt, und zugleich eröffnen sich im Bett Traum- und Gedankenausblicke ungeahnten Ausmaßes.
So ist denn Die Frau in den Kissen, wenngleich es auch sehr persönliche Assoziationen erweckt und an die Leser weitergibt, ein perspektivisch reichhaltiges Werk, dem die Kritiker, obwohl noch immer lobeswillig, nicht mehr so ganz zu verfolgen vermögen. Die Phalanx der Anerkennung bröckelt; erste Nörgeleien sind zu vernehmen. Der Literaturkritiker Peter von Matt legt in der „FAZ“ eine Rezension vor, deren Überschrift „Luxuriöse Bettsucht“ bereits Ungemach ahnen lässt: „Der Roman hat seinem zentralen Thema gegenüber keine Position … Jetzt erschöpft sich das Ganze in einem undeutlichen Existentialismus, der allerdings von Zeit zu Zeit poetischen Schwung gewinnt. Brigitte Kronauer, wenn sie zu voller Form aufläuft, kann schreiben wie wenige neben ihr. Das Unglück ist nur, daß sie alle Widerstände im voraus beseitigt, an denen ihre Kunst gefordert würde.“
Brigitte Kronauer erfreut sich von nun an nicht mehr ungeteilter Zustimmung der Literaturkritik – womit sie auszukommen weiß. Es ist wohl so, besonders unter Literaturschaffenden, die sich gern solidarisch geben, in Wahrheit aber arg futterneidisch sind, daß Lob nicht auf Dauer und schon gar nicht in der großen Vorratspackung verabreicht werden darf. Man muß, zumindest ab und zu mal, dagegen sein, muß, gerade dort, wo sich vorbehaltlose Heiterkeit zu verbreiten droht, welche, gemessen am Realzustand auf Erden, bedenklich anmutet, auf das allgemein Schlechte in der Welt verweisen, auf den teils abgewirtschafteten, teil überstrapazierten Sozialbereich, auf die Verrohung der Medien, der Sitten, der Menschen und Männer – also auf die üblichen Verdächtigen. Erstaunlicherweise taucht nun ein Vorwurf auf, der sich als wiederverwendbar erweist, wenn man bereit ist, Brigitte Kronauers Bücher nicht mehr so gut zu finden: Mangelnde Welthaltigkeit wird ihren Romanen vorgehalten, und, dazu passend, daß die Autorin einer „privaten Wahrnehmungsästhetik“ folge, die auf Leser-Bedürfnisse – womit der gestandene Literaturkritiker in der Regel seine eigenen Bedürfnisse meint – keine Rücksichten mehr nehme. Mit diesem Vorwurf, der eigentlich auf jedes Buch passt, das Missvergnügen auslöst, ist Brigitte Kronauer – wie mit vielem anderen auch – gelassen umgegangen. Sie bemerkt dazu: „Als ich das hörte, war ich wirklich baff, denn das hatte ich nicht erwartet. Ich nehme an, dieser Vorwurf hat sich darauf bezogen, daß bei mir die Dinge in der Schwebe bleiben. Ich halte mehr von Nuancierung und Ambivalenz als von Ideologie. Es ist für mich unerträglich, holzschnittartig, beispielweise feministisch, kapitalistisch, kommunistisch oder meinetwegen psychologisch oder psychoanalytisch, also nach einem Raster, die Welt zu sortieren …“
Arktischer Mittag
Weitere Bücher erscheinen, darunter der Roman Das Taschentuch (1994) und der Essayband Die Einöde und ihr Prophet (1996). Inzwischen hat Brigitte Kronauer nicht nur die Zuwendungen der Literaturkritik erfahren, sondern ist auch, durchaus folgerichtig, mit fast allen wichtigen Literaturpreisen bedacht worden. So erhielt sie u.a. den Fontane-Preis der Stadt Berlin, den Heinrich-Böll-Preis, den Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, den Joseph-Breitbach-Preis und, bisheriger Höhepunkt ihres Wirkens, den Büchner-Preis (2005), zu dem die Feuilletonisten, die nichts mehr einzuwenden hatten, einhellig gratulierten. Auch nach dieser ultimativen Auszeichnung lehnte sich die Autorin nicht zurück, sondern schrieb weiter; es erschienen u.a. die Romane Verlangen nach Musik und Gebirge (2004), Errötende Mörder (2007) und das höchst vergnügliche Werk Zwei schwarze Jäger (2009), in dem die Büchner-Preisträgerin unter Beweis stellte, daß sie, wenn ihr der Sinn danach steht, auch eine große Humoristin sein kann.
Brigitte Kronauers bisher erfolgreichstes Buch war ihr Roman Teufelsbrück (2000), der sich prächtig verkaufte. Teufelsbrück ist eine Liebes- und Kriminalgeschichte, die sich vom Hamburger Alten Land ins Schweizer Hochgebirge verlagert. Dort wächst die Kronauersche Prosa einmal mehr zu jener Leuchtkraft auf, die man an ihr schätzt: „Wie weit ich mich voranwagte! Eifer und Selbstbewusstsein passten gut zum festlichen Licht … Bis ich vor der Wahl stand, zurückzustapfen oder den Weg links hügelan zu folgen, geradewegs in den Himmel hoch, in den dinglosen Horizont, der sich schräg über mir befand, so rundlich und gut vorbereitet der Pfad, daß ich Vertrauen faßte zu dem Schneeleib, dem glänzenden und glatten, ohne Makel bis auf die eine Spur, die für mich so breit gezogen war und auf eine vollkommen weiße Ebene führte, auf die Lichtquelle, die Weißglut zu, die hinter einer weiteren Erhebung verborgen war, aber alles sirrend überschwemmte. Ich erinnere mich, ich sagte zu mir selbst laut: ‘Arktischer Mittag, arktische Schneidbrenner-Mittagshelligkeit’, und ich lachte dabei vor mich hin. Die Tränen wegen der geblendeten Augen werden schnell kalt.“
Brigitte Kronauer, wir dürfen das so ungeschützt sagen, steht einzigartig da in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Was sie machte, macht kein anderer; sie erzählte, unaufgeregt und ergiebig, sie horchte Sprache aus bis in letzte Winkel, ließ Momente aufschimmern, gab ihnen Halt; ja, sie betrieb sogar ihre eigene Schule des Sehens, in dem der zweite, der durchdringende Blick gelehrt wird, der das Wesentliche sucht hinter jeglicher Erscheinung.
Nun ist Brigitte Kronauer im Alter von 78 Jahren gestorben.
Letzte Änderung: 15.08.2021
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