Meine Bücher sind die Summe meiner Zweifel

Meine Bücher sind die Summe meiner Zweifel

Preisrede
Kurt Drawert | © Foto: Ute Döring

Was Literatur kann, lässt sich, da sie die jeweiligen Erfahrungen ihrer Zeit aufnimmt, nur immer wieder neu erfahren. Was sie aber können soll, ist zumeist eine Zumutung und gehört zu den Problemen des Schreibens, zumal des autobiografischen Schreibens. Der Schriftsteller Kurt Drawert, der im Dezember 2021 den Walter-Kempowski-Preis für biografische Literatur erhielt, reflektiert seine Arbeit in einer Zeit des radikalen Wandels.

Rede zur Verleihung des Walter-Kempowski-Preises für biografische Literatur

I
„Wenn ich den Kontakt zur Station verliere“, sagte ein Astronaut dieser Tage, der sich gerade auf einer Expedition im Weltall befindet, „dann bin ich Weltraumschrott.“ Sofort versetzte ich mich in seine Lage und stellte mir vor, wie es ist, wenn der Kontakt plötzlich abbricht und einer verlassen und allein im Unendlichen des Universums verschwindet. Wenn wir dieses Bild weiterdenken, kommen wir darauf, dass gleichermaßen ständig irgendetwas verschwindet: die Dinge hier, Gewissheiten dort, und im Internet alles. Eine zweite Frage war mir aber auch gleich präsent: Was geschieht, wenn der Mann verlorengeht, mit der Station, auf der sich jeder der gleichen Verlorenheit gewiss sein muss, weil da draußen nirgends noch etwas ist? Jeder Versuch, unserer Welt zu entkommen, die zu verspielen wir auf gutem Wege sind, ist, im Fokus der Technik betrachtet, sicher recht aufregend, ontologisch aber vollkommen zwecklos. Wir sind Verurteilte unserer Freiheit, auf diesem Planeten zu sein – im gleichen Singular wie der Mann irgendwo dort draußen. Die Frage nach einem Ort mit festem Boden und Grund – eine Art archimedischer Punkt, von dem aus die Welt betrachtet und verstanden werden kann –, ist vielleicht noch nie so leer und ohne Antwort geblieben wie heute. Allenfalls die Relation der Masse bietet noch etwas Orientierung, das Gewicht und die Zahl, von der fast alles bestimmt wird. Aber sobald wir die Perspektive verändern, zerfällt auch diese Gewissheit. Nun gibt es schon bei Hegel die grandiose Dialektik der Umkehrung. Die Geschichte ist kurz: Der Besitzer eines neuen Schiffes sticht mit seinem Kapitän in See. Die Machtverhältnisse sind klar geregelt – der eine sagt, wo es langgeht, der andere führt es aus. Dann zieht ein Sturm auf und das Schiff, in Seenot geraten, droht zu versinken. Jetzt nützt dem Eigentümer, selbst ohne Kenntnis von Technik und Navigation, sein Eigentum nichts mehr, da er nicht mehr imstande ist, es zu erhalten. Der Kapitän übernimmt und wird zum Herrn des Herrn. Macht, will uns Hegel damit sagen, ist kein fester, unveränderbarer Zustand, sondern ein bewegter Diskurs, in dem die Positionen vertauscht werden können, wenn sich die Bedingungen ändern. In dieser Abhängigkeit voneinander stehen der Astronaut und seine Station ebenso. Aber auch, wenn die beiden Bilder sich ähneln, gleichen sie sich nicht. Hegel beschreibt eine Machtverschiebung innerhalb eines Systems, das stabil ist – die Naturgesetze, das Apriori der Ökonomie –; unser Mann im All indessen hat nichts zur Verfügung, wenn er plötzlich nicht mehr zur Station funken und sich Beistand holen kann. Für ihn verschiebt sich nicht lediglich die Architektur der Macht, sondern Macht setzt buchstäblich aus, er ist entbunden von ihr und damit nicht nur ohne physische, sondern auch ohne soziale Schwerkraft; er bewegt sich im Nichts. Und die Station, die ihn verloren hat? Gleicht sie nicht dem Besitzer des Schiffes, der sich ängstlich in die Ecke hockt und betet, dass sein Diener, von dem jetzt alles abhängt, das Schiff durch diese Krise führt? Ich könnte fortfahren, zum Beispiel damit, dass wir durch die digitalen Medien heimgesucht werden von einer Flut an Informationen, die zu verifizieren und in ein System der praktischen Verwendbarkeit einzubinden fast schon unmöglich geworden ist. Dass Tatsachenwahrheit durch eine kleine Retusche am PC so verändert werden kann, dass an ihrer Stelle eine Fälschung erscheint. Dass wir der Welt, so aufgeklärt, wie sie seit Fichte, Herder und Kant uns übergeben wurde, plötzlich erblindet gegenüberstehen; blind, wie die Gegenwart naturgemäß ist, nur mit der Ergänzung, sich im Dauerzustand festzuschreiben, in der es auch keine Zukunft mehr gibt. Und da habe ich von der Pandemie, die reales Ereignis und Metapher gleichermaßen bedeutet, noch gar nicht gesprochen; von den Turbulenzen des Klimas; von der Flucht der Menschen in Not; und von einem notorischen Mangel an Sprache, dafür eine Sprache zu finden. Das große Wort von der Transformation macht allenthalben die Runde, und wer ihm mit Skepsis begegnet, wird auf die Irritationen verwiesen, mit denen überempfindliche Künstler und Intellektuelle das beginnende Industriezeitalter erlebt und beschrieben haben. Allein die Angst vor der Eisenbahn, deren Geschwindigkeit zu Gehirnschwund oder Apoplexie führen sollte, füllt ganze Folianten. – Nein, der Paradigmenwechsel, von dem wir heute sprechen, ist von grundlegend anderer Zuspitzung und Radikalität; er betrifft nicht nur ein paar neue Muttern und Schrauben, sondern den Kern unserer zivilen Existenz.

II
Sehr verehrte Damen und Herren, ich fürchte, ich habe Ihnen jetzt viel zugemutet und entschuldige mich – dafür, dass ich keine frohe Botschaft in meinem Schreibgepäck habe und die schöne Stunde unseres Zusammenseins, für die ich von Herzen Dank sagen möchte, so sehr mit Zweifel belaste. Aber es gibt für einen Schriftsteller, dessen Werk von Relevanz und Dringlichkeit ist, zwei elementare Grundeigenschaften, die auch Walter Kempowski, der Namensgeber des Preises, bezeugt: Er kann nicht verdrängen, erstens, und er kann nicht nicht darüber sprechen, was er nicht verdrängt halten konnte. Ein wenig ähnelt er dem Kind bei Hans Christian Andersen, wenn es „der Kaiser ist nackt“ sagt und die soziale Ordnung des Schweigens durchbricht. Und so also befinde ich mich, über diesen Umweg vom Kosmos zurück auf die Erde und von der Erde ins Innere ihrer Verletzlichkeit, auch schon im Zentrum meiner poetologischen Zweifel: Wie kann Literatur vor dem Hintergrund einer sich dermaßen verändernden Weltwirklichkeit, die Stoff und Präsenz eingetauscht hat gegen virtuelle Realitäten, beschaffen sein, um auch nur ahnbar werden zu lassen, was sich da gerade in und mit uns vollzieht? Mein letztes Buch, in assoziativen Erzählschleifen verfasst, in zeitlichen Sprüngen und harten semantischen Schnitten, war ein Versuch, für diese Inkohärenz der Welt ein ästhetisches Konzept zu finden, das glaubhaft sein kann und vor allem wahrhaftig. Ob es gelungen ist, entscheidet niemals der Autor, weil Bedeutung immer auf dem Feld des anderen liegt. Dennoch befürchte ich, die Kompetenzen der Sprache – auch unter den besonderen Bedingungen eines literarischen Sprechens –, reichen nicht aus, sich noch weiterhin so mitzuteilen, dass. Der Satz bricht hier ab. Alle Sätze brechen. Plötzlich. Ab. Und wenn sie einen Punkt bekommen, haben sie – so fühlt es der Autor – gelogen. Dass ist nicht Hofmannsthal oder Rilke auf der Schwelle ins 20. Jahrhundert, sondern es ist, um im Bilde zu bleiben, der Astronaut, der auch ein Schriftsteller sein kann und zu seiner Basis, den Lesern, Kontakt halten will. Nun ist mir diese Skepsis, von einer Sprache umgeben zu sein, die nicht zu einem anderen redet, sondern ihn sich unterwirft, durchaus bekannt; in „Spiegelland“, dem Vorgängerbuch zu „Dresden. Die zweite Zeit“, habe ich viel darüber nachgedacht. In Gedichten – „Ich bin, was ich in meiner Sprache bin,/ was ich in meinen Worten bin,/ die ich mir über mich mache“, wie ich es schon mit An-fang zwanzig verfasste –, sowieso und immer wieder. Mein ganzes Werk ist durchdrungen von dieser Skepsis, die selbst noch meine Stimme angreift und mir die Worte im Mund plötzlich falsch werden lässt. Aber diese Verlusterfahrung im Wort, das immer auch das Begehren eines anderen äußert, war mir der Zugang zur Literatur. Denn wenn es überhaupt ein Sprechen gibt, das wahr sein kann, dann kann es nur außerhalb der Ordnung eines Sprechens der Macht existieren; und Macht ist sich selbst immer im Weg, bis sie sich auslöscht. Die DDR, wie auch Kempowski sie erfuhr, war ein totalitäres System, das ich mir keinen Tag zurückwünschen möchte; aber der Zustand der Welt, wie sie ist, gibt auch wenig Anlass, vor lauter Glück durch die Decke zu springen. Und da berühre ich einen nächsten heiklen Punkt: Wie politisch und sich ihrer Wirkung bewusst oder Wirkung zumindest intendierend sollten Kunst und Literatur sein, heute, wo wir im wahrsten Sinne des Wortes keine Zeit mehr haben? In der DDR habe ich diese Frage verworfen, weil ihr ein Funktionsbegriff immanent ist, der sie vereinnahmt und zum Komplizen einer Ideologie werden lässt. Ganz abgesehen davon, dass sie immer von einem Unbewussten mitbestimmt wird, über das sie sowieso keine Verfügungsmacht hat. Hier und heute aber ist die Kunst frei und hat eben auch diese Freiheit, ein Begehren nach Veränderung der Verhältnisse zu sein. „Wenn Literatur nicht alles ist“, sagte Sartre einmal, „ist sie ihrer Mühe nicht wert; das will ich mit Engagement sagen“. So alt, wie der Satz klingt, ist er gar nicht, zumal sowieso nichts politischer ist als die Sprache. Was aber – und ich komme in die Gegenwart zurück –, wenn Sprache ihre Konsistenz verliert und im leeren Rauschen der Netzwelt verschwindet? Wenn jeder Empfänger zu einem Sender geworden ist, der seinerseits fortwährend sendet, aber nichts mehr empfängt? Wozu, für wen und warum dann weiterschreiben? Eine Antwort darauf fällt mir nicht immer gleich ein. Die grandiosen Honorare sind es jedenfalls nicht.

III
Nun wird es allerhöchste Zeit, über Walter Kempowski zu sprechen, in dessen Namen ich heute vor Ihnen stehe. Aber eines muss ich gleich auch gestehen: sein Werk ist in einer Weise exorbitant, dass ich ihm immer etwas ehrfurchtsvoll ausgewichen bin. Allein das Echolot ist ein Gebirge von Text, vor dem ich mich fühlte wie der Wanderer bei Caspar David Friedrich hoch auf dem Felsen mit verlorenem Blick ins Unendliche hinein. Die Romane der Deutschen Chronik: Ich würde gern auf eine Insel verbannt dafür werden, um sie zu lesen. So fange ich mit „Alles umsonst“ vom Ende her an und bin sofort hineingezogen in eine Geschichte von Flucht und Vertreibung, wie sie aktueller nicht sein kann. Doch es gibt noch etwas, das mich mit allen seinen Büchern verbindet: das Wagnis, im individuellen Schicksal die Spur der Epoche zu finden und im singulären Subjekt das Maß der objektiven Welt. Es sind nicht die großen Sujets, die dafür bürgen, ein Zeugnis der Geschichte zu sein – es ist das Aufleuchten des Wesentlichen im Unwesentlichen ihrer Substanz, das unaufhörliche Ineinanderfließen von äußerer und innerer Realität, das einem Möbiusband gleich nie zu einem Ende findet. Die Symptome der Zeit haben ihre Bestimmung im konkreten Leben der Menschen – das gezeigt zu haben ist die enorme Leistung Kempowskis. Es war lange umstritten, ob die Methode des Archivierens und Collagierens zu einem eigenen Stil führen kann, zur Literatur, oder nur eine gewaltige Materialsammlung ist. Heute, wo gigantische Datenströme durchs Internet jagen und die Signifikanten sich gegenseitig aus der Sichtachse schießen, noch ehe sie Bedeutung erlangen, würde diese Frage sicher niemand mehr stellen; und auch das hatte er schon antizipiert, als er 1997 „Bloomsday“ herausgab, eine Transkription aller TV-Mitschnitte eines einzigen Tages. McLuhans „the medium is the message“ hätte als Motto gut dazu gepasst. Allein in der Etablierung einer neuen Ordnung der Zeichen liegt seine große schöpferische Kraft, und hier folgt er den Spuren der Tradition bis hin zu Kafka oder Arno Schmidt. Das Archiv, nicht die Fiktion ist der Motor seiner Bücher, die reale, nicht die imaginierte Welt sein Erzählgegenstand. Damit komme ich zu einem letzten Aspekt, dem biografischen Schreiben. Was aber ist das eigentlich? Wo beginnt und wo endet die Wirklichkeit und geht über in Erfindung und Ressentiment? Wir sehen nur, was wir wissen, heißt es bei Fernando Pessoa, und das sagt schon alles darüber, dass wir einen direkten Zugang zur Welt, wie sie ist, nicht besitzen. Die eminente Lücke des Erinnerns, durch die keine fließende Geschichte erzählt werden kann, braucht immer die Einbildungskraft, die sie ersetzt, und an diesem Punkt beginnt die Vermutung: So könnte es gewesen sein – aber anders eben auch. Es sind Wahrscheinlichkeitsrechnungen, deren Wahrheitswert nicht mehr an der Realität gemessen werden kann, sondern nur noch an der Logik des Textes. So ist es, um hier ein Beispiel zu geben, auch völlig uninteressant, ob eine Hochzeit, die im Roman an einem Montag beschrieben wird, tatsächlich an einem Sonntag stattfand. Denn nicht das Erhabene eines Feiertags will die Erzählung vermitteln, sondern das Gefühl des Alltäglichen, wie sie ein Montag einleitet. Wirklichkeit und Wahrheit sind nur selten dasselbe. Das lässt jeden Hinweis auf Orte und reale Personen zu einem Wagnis werden, da es zur Überprüfbarkeit einlädt. Aber wie die Worte nicht die Sache ersetzen, die sie bezeichnen, so kann auch die Erzählung nicht die Wirk-lichkeit des Erzählten sein; aber sie kann in dieser Wirklichkeit, die bedeutungslos im Strom der Zeit vergeht, ihr Wesen beschreiben. Das unterscheidet Literatur von Geschichtsschreibung, die nur von außen, von ihren Fakten und Kausalketten her, auf die Welt schauen kann, elementar. Noch etwas anderes ist, wenn der Stoff des Erzählens im Erzählenden selbst liegt (von dem Paul de Man sagt, dass jede Literatur immer auch autobiografisch fixiert ist). Was aber ist das für ein Ich, das so selbstbewusst „ich“ sagt und auf der Stelle tot umfallen müsste, wenn ihm die grandiose Verkennung der Existenz im Wort „Ich“ auch nur für den Bruchteil einer Sekunde evident werden würde? Es gleicht der Anrufung eines Mondsüchtigen, der bis eben noch sicher über die Dächer spazierte und augenblicklich hinabstürzt, weil er seinen Namen gehört hat; denn das Selbstverständliche hört auf, selbstverständlich zu sein, sobald es zu einem Objekt der Reflexion geworden ist. Es muss also, um das zu verhindern, eine blinde Zone des Sehens, Sprechens und Hörens geben, durch die wir unsere Funktionen des Sehens, Sprechens und Hörens überhaupt ausbilden und gebrauchen können. Diese blinde Zone ist die zweite, abgewandte Seite des Sprechens, ihr Unbewusstes, das sich in den Text webt und vom Autor nicht mehr beherrscht werden kann. „Ich ist ein anderer“, heißt es schon bei Rimbaud, der damit die Moderne einleitet. Wer nun aber ist dieser Andere, mit dem sich das Ich eine Identität teilt? Es ist die Sprache, die immer schon da ist und Einfluss auf das nimmt, was und wie gesprochen wird. So entsteht ein Dialog, der noch zu keiner Person oder Gruppe oder Gesellschaft gehört; eine innere Stimme, von der man selbst kaum eine Vorstellung hat, woher sie kommt und an wen sie sich richtet und ohne Rücksichtnahme und Zensur nur einem verpflichtet ist – der Wahrhaftigkeit. Das ist die Seite der Produktion. Dann aber, sobald das Buch von außen auf seinen Verfasser zurückkommt wie etwas Fremdes, mit dem er am liebsten gar nichts mehr zu tun haben würde – denn schrieb er es nicht, um etwas loszuwerden? –, bricht plötzlich die Angst auf, falsch verstanden worden zu sein, den ein- oder anderen gekränkt zu haben, sich Feinde zu machen und am Ende gar vor einem Richter zu stehen wie weiland Gustave Flaubert. Denn auch das gehört zum Risiko des autobiografischen Schreibens, Figur und Person nie so ganz voneinander trennen zu können. So war ich doch sehr gespannt, wie vor allem meine Mutter auf das Buch reagieren würde, das ja auch die Geschichte unserer Familie erzählt. Eines Tages rief sie mich zu später Stunde in Griechenland an: „Ich habe gerade dein Buch gelesen. Du wirst es nicht glauben, an einem einzigen Tag.“ Und dann sagte sie etwas, dass es mir augenblicklich die Sprache verschlug: „Du hast das wunderbar geschrieben. Ich gebe dir“, kurze Pause, „eine eins“. Und jetzt, hier und von Ihnen, bekomme ich gleich noch eine eins. Danke.

Kurt Drawert hielt diese Rede zur Verleihung des Walter-Kempowski-Preises für biografische Literatur am 7. Dezember 2021 in Hannover.

Letzte Änderung: 05.01.2022  |  Erstellt am: 02.01.2022

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