Literatur als Teil des Kampfes

Literatur als Teil des Kampfes

Zum Tod des syrischen Romanciers Haidar Haidar
Haidar Haidar

Der syrische Schriftsteller Haidar Haidar wurde einst der Ketzerei und der Beleidigung des Islam beschuldigt, sein Roman „Ein Bankett für den Meertang“ wurde mit der Fatwa belegt und beschlagnahmt. Geboren wurde er 1936 in einem Dorf in der Nähe von Tartus. Er arbeitete als Lehrer, war Journalist bei palästinensischen und arabisch-nationalistischen Zeitungen und lebte die letzten Jahrzehnte bis zu seinem Tod am 5. Mai 2023 in seinem Heimatdorf. Hartmut Fähndrich, sein Übersetzer, gedenkt des mutigen Romanciers und fügt eine von ihm übersetzte, bisher unveröffentlichte Geschichte an.

Haidar Haidar wurde im Jahre 1936 in Hussain Albachr geboren, einem Ort unweit der syrischen Hafenstadt Tartus. Nach Grundschule im Dorf und Sekundarschule in Tartus ging er ans Lehrerseminar nach Aleppo, das er 1954 abschloss. Einige Zeit wirkte er als Lehrer im Norden Syriens und siedelte dann nach Damaskus über.

Die 1950er Jahre waren in der ganzen Region eine unruhige Zeit. Im Rahmen der Machtkämpfe in den arabischen Ländern nach dem Ende der französischen und britischen Mandatsherrschaft kam es zu zahlreichen Putschs und ständigen Regierungsumbildungen. Ausserdem hatte die vom Westen „geführte“ Völkergemeinschaft den Zionisten ein grosses Gebiet Palästinas übergeben, das – noch etwas erweitert – im Mai 1948 zum Staat Israel geworden war. Schliesslich wurde die politische Atmosphäre von der Begeisterung für den arabischen Nationalismus Nasser’scher Prägung genährt, dies nach der ägyptischen Juli-Revolution von 1952 und nochmals verstärkt aufgrund der „Schlappe“, die Grossbritannien, Frankreich und Israel im so genannten Suezkrieg Ende 1956 einstecken mussten.

Diese Atmosphäre des Aufbruchs und des Enthusiasmus für den arabischen Nationalismus erlebte Haidar Haidar als junger Mann. Die darauf folgende Enttäuschung durch das Ausbleiben von Erfolgen und der Erfüllung der Träume, zumal nach der arabischen Niederlage gegen Israel im sogenannten Sechs-Tage-Krieg von 1967, bestimmt sein gesamtes literarisches Schaffen und seine Sicht auf die arabische Welt in Vergangenheit und Gegenwart.

Erste Schreibversuche unternahm Haidar Haidar schon während seiner Zeit am Lehrerseminar. Sein eigentlicher Kontakt mit Literatur und Literaten begann nach seiner Übersiedlung nach Damaskus. Dort gründete er 1968 zusammen mit anderen den arabischen Schriftstellerverband, aus dem er später wieder austrat, und dort erschien, ebenfalls 1968, sein erster Band mit Erzählungen: Geschichten der Zugmöve.

Als frühe Lektüre und damit Einfluss auf sein Denken und Schreiben nannte H. Haidar Nietzsches Also sprach Zarathustra; auch Goethe nannte er. Gleichzeitig las er schon früh die damals bekannten arabischen Autoren: den Libanesen Dschubrân Khalîl Dschubrân und die Ägypter Mustafa Lutfi al-Manfalûti, Machmûd Taimûr und Nagîb Machfûs. Später kam – dank der Beiruter Literaturzeitschrift al-Adâb, die seit 1953 erschien, viel internationale Literatur in Übersetzung hinzu. In einem Interview stritt er ab, ein „Profi-Schreiber“ zu sein. Er schreibe nur, wenn er etwas auf dem Herzen habe.

Als Autor wuchs Haidar Haidar direkt in eine Aufbruchstimmung und ein entstehendes Prosaschaffen in Syrien hinein, das sich seit den 1930er Jahren ankündigte und nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Abzug der französischen Kolonialtruppen und einem sich weitenden Blick auf die Welt etablierte. Ein zunächst vielfältiges Pressewesen unterstützte diese Entwicklung. Die ersten dominierenden Vertreter dieser neuen Literaturproduktion sind mehr oder weniger Haidar Haidars Zeitgenossen, geboren zwischen etwa 1925 und 1950, die in den 1950er und 1960er Jahren zu schreiben begannen und sich dann dezidiert von ihren Vorgängern aus der Zwischenkriegszeit absetzten – ideologisch und stilistisch. Schon 1950/51 hatte sich der erste „progressive“ Schriftstellerverband gebildet, der – französischen Vorbildern jener Zeit folgend – politische, gesellschaftliches und allgemeinmenschliches Engagement als Aufgabe der Literatur sah. Echte Kunst entspringe dem Leben und müsse helfen, dieses zu verbessern. Im Zusammenhang mit der „Vereinigten Arabischen Republik“ zwischen Syrien und Ägypten von 1958 bis 1961 wurde der Verband aufgelöst.

An praktisch allen damals entwickelten Tendenzen syrischen Prosaschreibens wird Haidar Haidar teilhaben: dem Gefühl der Empörung über den Zustand der (arabischen, syrischen) Welt mit oft auch sozialistischen Gestaltungsvorschlägen; gleichzeitig auch einer gewissen mystischen Spiritualität, die einhergehen kann mit Rückgriffen auf die (auch phantastische) Folklore oder das arabische Erbe. Stilistisch ist er vielfach eigene Wege gegangen, was seinen Werken auch Kritik eingetragen hat. Die Elemente des modernen Romans, besonders die Aufhebung einer „realistischen“ Chronologie und der fliessende Übergang zwischen „Wirklichkeit“ und Traum schienen so manchem Rezensenten noch fremd zu sein.

Zwei nicht-literarische Ereignisse mit kaum zu überschätzender Wirkung auf die Literatur fallen in die 1960er Jahre: 1963 ergreift in Syrien die Baath-Partei die Macht, die zunächst grosses Engagement für das Schulwesen und das Kulturleben zeigt, bald aber auch in diesen Bereichen immer restriktiver und repressiver wird. 1967 erleiden die arabischen Staaten eine verheerende Niederlage im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel, was nicht nur in Syrien die Zweifel der Intellektuellen am Staat wachsen und ihre Sympathie für ihn schrumpfen liess. Beide Ereignisse fördern das erzählende Schreiben und verändern gleichzeitig Stil und Stimmung.

Im Jahr 1970 ging Haidar Haidar nach Algerien, das zwischen 1954 und 1962 in einem blutigen Krieg 130 Jahre französischer Kolonialherrschaft beendet hatte und zum Inbegriff des antiimperialistischen Freiheitskampfs geworden war. Seine dortigen Erfahrungen – als Mensch, als Mann, als Lehrer, als arabischer Nationalist – verarbeitete er in seinem wohl bekanntesten Werk, dem Roman Ein Festschmaus für den Meertang, den er nach seiner Rückkehr aus Algerien 1974 zu Papier brachte, der aber erst 1983 publiziert wurde. Ausserdem stammen die meisten Erzählungen des Sammelbandes Die Überflutung (erschienen 1975) aus jener Zeit.
Seine Rückkehr in den östlichen Mittelmeerraum führte Haidar Haidar ziemlich direkt in den im April 1975 ausbrechenden libanesischen Bürgerkrieg. Während der ersten fünf Jahre dieser Auseinandersetzungen mit wechselnden Fronten und Koalitionen arbeitete Haidar für palästinensische Medien, verliess den Libanon dann und ging für ein Jahr nach Nikosia, kehrte für ein Jahr in den Libanon zurück, nur um sich daraufhin wieder für Zypern zu entscheiden.
1985 kehrte Haidar Haidar an den Ort seiner Geburt zurück, wo er am 5. Mai 2023 verstarb.
 
 
Im Jahr 2000 sah sich der Schriftsteller plötzlich wieder ins Rampenlicht gedrängt. Sein Roman Ein Festschmaus für den Meertang war sechzehn Jahre nach seinem Erscheinen in einer vom ägyptischen Staat finanzierten Buchreihe neu herausgegeben worden, was ein Journalist zum Anlass nahm, in einer Kairoer Zeitung mit islamistischer Tendenz eine religiös unterlegte scharfe, teils frömmelnde, teils unflätige Attacke gegen Buch und Autor zu reiten. Auf der Grundlage von ein paar Satzbruchstücken bezeichnete er das Werk als den islamischen Glauben verunglimpfend und den Autor als Ketzer – ein Vorwurf, der bis heute in vielen islamischen Ländern lebensgefährlich sein kann. Ebenso bezeichnend wie bedrückend dabei war, dass die ägyptische Regierung angesichts der religiösen Eiferer einknickte: Es wurde eine Kommission zur Beurteilung des Werkes eingesetzt und der Roman vom Markt genommen.

Zahlreiche ägyptische Schriftsteller publizierten daraufhin eine Erklärung zur „Verteidigung der bedrohten arabischen Kultur“. Der Autor selbst verwahrte sich in Interviews gegen die Anwürfe und die Vorwürfe. „Ich bin Muslim und der Koran ist mein Buch“, erklärte er – jedoch habe er ein anderes Verständnis davon als die obskurantistischen Männer der Religion. Darum sage er auch kategorisch „nein zu Inquisitionsgerichten im 21. Jahrhundert“.

Die Ameisen und das Kath

Haidar Haidar
 
 
Die erste Ameise, die an seinem Zehen emporkroch, betrachtete Muhammad Ibn Abdallah al-Subairi in aller Ruhe. Er musste lachen. Der Anblick dieses winzigen Geschöpfs, das sich an seinem mächtigen Körper emporarbeitete, entlockte ihm ein träges, törichtes Lachen. Wohlig und entspannt lag er, Kath^1^ kauend, unter einem Baum. Er schob das Klümpchen in seinem Mund hin und her, genüsslich wie ein Mann, der eine Frauenbrust streichelt.
Arme Kreaturen sind das, denen diese Lust versagt ist, dachte er.
Das Sonnenlicht brach zwischen den Zweigen hindurch. Seine angenehme Wärme verband sich mit dem Wohlgefühl des Kath-Genusses zu einer erholsamen Benommenheit im Körper des Mannes, der da zwischen Schatten und Sonne lag. Von einem Café in der Nähe trieb die Stimme einer orientalischen Sängerin heran. Sie liess ihn in ewiger Bewegungslosigkeit versinken.
Er saugte an dem Kathklümpchen, presste es gierig aus. Eine weitere Ameise erschien, gefolgt von einer Begleiterin. Gemeinsam kletterten sie über den Zeh und dann am Körper des Mannes hinauf.
Der Marsch der dritten Ameise kitzelte ihn. Sie knabberte an ihm. Ihre winzigen Kiefer pieksten wie kleine Dornen.
„Blödes Volk, diese Ameisen“, brummelte Machmûd Ibn Abdallah al-Subairi. Er bewegte träge seinen Zeh, um die Ameise abzuschütteln oder sie zu zerdrücken. Doch die Ameise wich schlau seiner Bewegung aus. Sie liess den Zeh hinter sich und wanderte hinunter zur Fusssohle.
Die Benommenheit schob sich in alle Zellen des Mannes. Berauscht von Sonne, Kath und der süssen, beruhigenden Stimme des „Sterns des Orients“2, verfiel er ins Träumen. Die Benommenheit weckte Visionen und Tagträume, farbig wie Regenbogen. Er sah sich selbst über Berg und Tal dahinfliegen, bis er die Heimstätten der Sterne erreicht hatte. Er sah diese Sterne, die sich in Blumen verwandelt hatten. Er pflückte sie und steckte sie sich ins Knopfloch und stolzierte umher wie ein Pfau. Die Sterne verwandelten sich in Goldkugeln, die er auf dem Markt der Stadt zu verkaufen begann, und vom Erlös erwarb er Gewehre, Rosse, Falken und Jagdhunde.
Als er der Sterne, des Goldes, der Gewehre und der Falken überdrüssig wurde, träumte er von hellhäutigen Frauen mit schlohweissen Gesichtern, mit weizengoldenem Haar und meerblauen Augen.
Er sah sich als Ritter, unterwegs gegen den Wind, ein Schwert an der Seite, einen Speer in der Hand, unangefochtener König der Welt, und die Erde zu seinen Füssen. Nach Belieben erteilte er Befehle und Verbote, und Knechte, Mägde und Soldaten umschwärmten ihn, untertänig, gehorsam. Er nahm sich mehr als eine Frau, teilte jeder ein Schloss zu und gewährte jedem Weibe eine Nacht.
Als sein Reich gefestigt war, kam ihm der Gedanke, sich sinnvollerweise all seiner Feinde zu entledigen. Anfangen wollte er mit dieser alten Nachbarin mit der bösen Zunge, auf die er einst scharf war, die aber nichts von ihm wissen wollte. Er schaffte sie heran und sass zu Gericht über sie. Nackt musste sie vor ihm auf die Knie gehen und ihn als König anerkennen, unvergleichlich als Mann und Held. Danach hiess er seinen Scharfrichter ihr die Zunge herauszuschneiden, dann überliess er sie seinen Knechten, die sich, einer nach dem anderen, über sie hermachen durften.
Danach befahl der glückliche König Machmûd Ibn Abdallah al-Subairi, den Mann heranzuschaffen, der ihn einst als impotent, ignorant und idiotisch beschimpft hatte. Zwei der königlichen Henker erhielten den Auftrag, ihn auszupeitschen, bis das Blut floss, ihm dann die Genitalien abzuschneiden und sie in aller Öffentlichkeit den Hunden zum Frass vorzuwerfen.
So begann Machmûd Ibn Abdallah al-Subairi, sich an seinen Feinden, einem nach dem anderen, zu rächen. Er fläzte sich auf seinem Thron, während die gemeinen Ameislein seinen Körper emporkrabbelten, der in Traum und Trance dahintrieb. Gemächlich bahnten sie sich scharenweise ihren Weg, unerschrocken im Angriff.
Die Lider des Mannes wurden schwerer und schwerer. Die Visionen und die Fantastereien tanzten umher, sie wanderten von Stern zu Stern, von Berg zu Berg, von Stadt zu Stadt. Weiche Winde trugen ihn, und der süsse Klang der orientalischen Sängerin floss wie das grandiosen Kath durch seine durstigen Zellen.
Während die Sonne am Horizont entrückte, schlief Machmûd Ibn Abdallah al-Subairi ein. Tiefer Schlummer trug ihn zu fernen Inseln, auf denen sich Meerjungfrauen tummelten und Schätze verborgen lagen. Schätze aus Rubinen, Diamanten und Kath. Ja, all diese Inseln mit ihren Schätzen, ihren Felsen, ihren Bäumen waren schliesslich nichts anderes mehr als Wälder von Kath. Diese umschloss er mit beiden Armen und kaute und kaute mit lustvoller Gier. Inzwischen waren die Ameisen zu Armeen geworden. Sie marschierten von allen Seiten heran, besetzten den Körper des träumenden Mannes und schauten sich ungeniert darauf um. Ihr Ameisen-Instinkt sagte ihnen, dass der Mann nicht mehr im Reich der Wachenden weilte und zu kauen aufgehört hatte. Und da bemerkten sie sein friedlich-blödes breites Lachen und machten sich unerbittlich an der Beute zu schaffen, die inzwischen eher wie ein Leichnam aussah.
Damaskus 1970
 
 
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
 
 

1 Aus den Zweigspitzen und Blättern des Kathstrauches bestehende, gekaute Alltagsdroge im Jemen und in Ostafrika
2 Das ist einer der Titel, mit denen die berühmte ägyptische Sängerin Umm Kulthûm (1898-1975) geehrt wurde.

Letzte Änderung: 14.05.2023  |  Erstellt am: 14.05.2023

Eine Erzählung von Haidar Haidar ist in diesem Sammelband.

Kleine Festungen

Hartmut Fähndrich Kleine Festungen

Geschichten über arabische Kinder und Jugendliche
Zusammengestellt und aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich
Mit Beiträgen von 50 Autorinnen und Autoren aus 12 arabischen Ländern
Mit Illustrationen von Maha Nasrallah
382 S., brosch.
ISBN 978-3-945400-85-2
Edition Faust, Frankfurt am Main 2021

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