Lebenslinien – Leselinien

Lebenslinien – Leselinien

Erinnerung an die Dichterin Hertha Kräftner
Hertha Kräftner

Der Erfolg half ihr nicht. Hans Weigel nannte Hertha Kräftner „die Selbstmörderin auf Urlaub“. Ihre Dichtung, der sichere, unpathetische Ton, die melancholische Bildkraft entsprangen immer wieder depressiven Phasen, der „Müdigkeit aus Seelenqual und Medikamenten“. Matthias Buth erinnert an eine Poetin, die nur 23 Jahre alt wurde.

Vor 70 Jahren ging die Dichterin Hertha Kräftner aus dem Leben

Wer von ihr spricht, wer von ihr schreibt, beginnt mit dem Tod, der fern ist, mit dem sie jedoch viele benachbart. Ihr Leben, Lieben und Verfassen von Texten in Prosa und Lyrik sind eine sanfte Umarmung. So bleibt Hertha Kräftner inmitten von den Heutigen, die in ihren Schriften umhergehen.

Ihr Leben ist vor 70 Jahren verweht, ihre anmutigen Texte, vor allem ihre Gedichte, klingen indes nach, haben Gegenwärtigkeit behalten. Als diese zauberhafte Dichterin am 13. November 1951 aus dem Leben schied, da ihr das Dasein unbewohnbar schien, war ich ein halbes Jahr auf der Welt. Ihr Todes- und mein Geburtsjahr können nichts verbinden, es ist der Zufall des Kalenders, und doch sehe ich eine Lebenslinie, vielleicht eher eine Leselinie – ein schmales Gleis – auf dem ich ihr entgegenfahren könnte.
Wer im Standardwerk zur deutschen Lyrik von Karl Otto Conrady („Der neue Conrady. Das große deutsche Gedichtbuch“, das aktualisiert im Jahre 2000 herauskam) nach Herta Kräftner sucht, wird mit zwei Gedichten belohnt. Besonders „Abends“ hat Klang, Biss und Wunde zugleich, ist kraftvoll und zeigt poetisches Können:

Er schlug nach ihr. Da wurde ihr Gesicht
sehr schmal und farblos wie erstarrter Brei.
Er hätte gern ihr Hirn gesehn. – Das Licht
blieb grell. Ein Hund lief draußen laut vorbei.

Sie dachte nicht an Schuld und Schmerz und nicht
an die Verzeihung. Sie dachte keine Klage.
Sie fühlte nur den Schlag vom nächsten Tage
voraus. Und sie begriff auch diesen nicht.

Nonchalant, so wie Jakob van Hoddis sein „Weltende“ 1912 hingeworfen hatte, erfasst sie in zwei Strophen ihre Lebensmelodie, ausgesetzt dem anderen, den Schlägen, die gekommen waren und noch drohten. Und dies in einen so stimmigen wie duftigen Lied, das ihr die einzige Zuflucht geben sollte. Dass sich hier Licht und Gesicht reimend begegnen, mag Zufall sein, erfasst aber zugleich ein Grundmotiv ihrer Lyrik, die sich aus Verzweiflung, Abgeschiedenheit und dunklen Mächten die Erhellung im anderen erhoffte. Und Gedicht und Gesicht waren ihr Geschwisterworte.

Hertha Kräftner durfte, konnte nicht lange leben, mit nur 23 Jahren ging sie dahin. Am 26. April 1928 wurde sie in Wien geboren, dort starb sie auch, hatte jedoch im burgenländischen Mattersburg ländlichen Prägungen bekommen, die sich in ihren Texten spiegeln, die Natur war ihr nah. Im Conrady ist sie benachbart von den Gedichten von Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) und Dagmar Nick, die auch 1926 geboren wurde und in München in fünf Jahren die Hundert erreichen könnte, bedeutende Autorinnen wie auch Christa Reinig und Elisabeth Borchers aus demselben Jahrgang. Und doch liegt mir Hertha Kräftner näher, vielleicht ist es zuweilen der volksliedhafte Ton und das stille wie präzise Erfassen existentieller Zustände, eine Lyrik, die auf große Anrufungen und Gesten verzichtet und sich Anleihen aus ferner Mystik und Geschichte verweigert. Die inzwischen beachtliche Rezeption Kräftners betont oft, dass das Eindringen von Soldaten der Roten Armee 1945 in das Haus der Familie, die Folterung des Vaters, die ein Jahr später zu seinem Tod führte, die Todesnähe in die Arbeiten der jungen Autorin einbrachte. Dies mag so sein, jedoch nimmt sie Themen und Begriffe aus der Nachkriegszeit – Schwarzmarkt, Lebensmittelkarten, Trümmer und Ruinen – nicht auf, so dass eher vermutet werden kann, dass ihre seelische Membrane das aufnahm, was hinter den Dingen lag, dass sie existentiell abstrahierte. Sie war ein leidender Mensch, an sich und anderen und dies auf der Grundlage einer manisch-depressiven Disposition, ihr Fangnetz für Worte und Sätze. Peter Härtling hat sich einmal dem anrührenden Gedicht „Dorfabend“ (von 5. September1951) zugewandt, welches man gerne im Burgenländischen ansiedelt und ein Leben skizziert, ein Text, der dennoch nicht bukolisch ist, sondern sogleich in seinem bitteren Ernst und tränennahen Aufschrei zu Gott führt. Der Expressionismus gründet dieses große Gedicht, zugleich erinnert es an Verse wie aus Des Knaben Wunderhorn, ein Text, der im Volksliedton erzählt und Ausweglosigkeit auf den existentiellen Befund bringt.

Beim weißen Oleander
begruben sie das Kind
Und horchten miteinander,
ob nicht der falsche Wind
den Nachbarn schon erzähle,
daß es ein wenig schrie,
eh seine ungetaufte Seele,
im Halstuch der Marie
erwürgt, zum Himmel floh.
Es roch nach Oleander,
nach Erde und nach Stroh;
sie horchen miteinander,
ob nicht der Wind verriete,
daß sie den toten Knaben
noch eine weiße Margerite
ans blaue Hälschen gaben…
Sie hörten aber nur
das Rad des Dorfgendarmen,
der pfeifend heimwärts fuhr.
Dann seufzte im Vorübergehen
Am Zaum die alte Magdalen:
„Gott hab mit uns Erbarmen.“

Das ist große Dichtung, fern von Bachmann und anderen deutschen Dichterinnen aus Österreich, die ein solches Lebensdrama eben so nicht in Sprache fassen konnten. Kräftner gibt sich ganz hinein in ihre Texte, liefert sich diesen quasi aus: Sie ist immer Dichterin, sie schreibt mit offenem Herzen. Und immer von sich. „Jedes Seelenbild ist auch ein Weltbild. Selbst das realistischste Weltbild ist auch ein Seelenbild“, schrieb sie dem ein Jahr älteren Autor Herbert Eisenreich (1925-1986), der wie sie mit Paul Celan Kontakt hatte (Eisenreichs Schwester war von 1952 bis 1962 mit Celan liiert), sie brachte so zum Ausdruck, dass sich die klare Subjektivität des Autors mit der Welt verbindet, so wie Else Lasker-Schüler meinte, jeder Mensch sei auch ein ganzes Volk.

Hertha Kräftner verfasste etwa 100 Gedichte. Die Germanistik schreibt der Lyrik Bedeutung zu, mindert aber die Wertschätzung der Prosa. Dies leuchtet mir nicht ein. Man muss sich aufmachen in die textliche Welt dieser immer noch sprechenden Autorin, denn ihre Prosa und Lyrik haben nicht aufgehört zu schwingen und zu klingen. Die verschiedenen Textsorten gegeneinander zu gewichten, gar auszuspielen, ver-kürzt den Zugang zu ihren Schriften, so im Band „Kühle Sterne“ aus dem Jahr 1997 (Wieser Verlag Klagenfurt) exzellent von Gerhard Altmann und Max Blaeulich gesammelt und herausgegeben.

Sie wollte Lehrerin werden und begann also nach der Matura am Bundesrealgymnasium Mattersburg an der Universität Wien ein Studium in den Fächern Germanistik und Anglistik, erschloss sich aber auch Themen der Psychologie, wodurch sie Zugang zum Neurologen und Begründer der Existenzanalyse Viktor E. Frankl (1905-1997) bekam, dessen Vorlesungen sie besuchte. Er eröffnete ihr auch den Literatenkreis um Hans Weigel (1908-1991) im Café Raimund, zu dem u.a. auch H.C. Artmann (1921-2000), Andreas Okopenko (1930-2010) und Friederike Mayröcker (1924-2021) gehörten.

Vielleicht liegt es an der 1949 begonnenen und dann doch aufgegebenen Dissertation „Die Stilprinzipien des Surrealismus, nachgewiesen an Franz Kafka“, dass ihrer Prosa eine gewisse Nähe zu dem großen Prager attestiert wurde. Ihr „Pariser Tagebuch“ legt mir das nicht nahe. Und eigenständig sprechen immer noch die „Engel“- Miniaturen, die als „Beschwörungen eines Engels“ Prosa und Lyrik miteinander ver-schränken. Unter dem 25.Mai 1950 schreibt sie:
Ich bete Dich an mit Litaneien: Du, der Du im Wind als Leidenschaft wehst; Du Geschmack von Pfirsichen auf der Zunge. Du wandernder Mond über der großen Stadt. Fledermausflügel, ruhelos zuckend im Dachbodendunkel. Bitterer Geruch aus Mandel und Holz. Wissen von Angst und Verendung im Auge des lautlosen Raben. Rosenholzfarbenes Band des ertrunkenen Mädchens. Du leuchtendes Blau auf der Vase aus China. Fluch und Geheul eines trunkenen Alten. Rauschtrunk aus Wein und weißem Jasmin. Springender Tod in der schmalen Pupille der ruhenden Katze. Du – Brücke von Morgen und Nacht. Süßer, schlafender Kern inmitten der Frucht, die „Welt“ heißt.

Kafka? Nein, poetische Prosa einer gemarterten Seele, ein eigener Klang, der ins Plastische ausgreift, um eine eigene Welt zu umzirkeln.
Das Gesicht meines toten Vaters / das meinem ähnlich sieht, / wandelt in den Friedhofsbäumen / hin und her
dichtet sie – durch und an den Vater und so sich selbst zu. Der Tod war ihr ein steter Begleiter, fast ihr Geliebter, dem sie sich dann schließlich hingeben musste. Alle realen Liebesbeziehungen scheiterten. Harry Redel, dem sie innig verbunden blieb auch nach dessen Auswanderung nach Kanada, schrieb sie den herzzerreißenden Liebes-Abschiedsbrief am 12. November 1951, das letzte, was sie vor ihrem Tod zu Papier brachte:

Lieber Harry, verzeih mir, aber ich kann nicht zu Dir kommen. Ich kann niemals kommen, weil ich in ein paar Stunden Veronal nehmen werde. Ich bin vollkommen verzweifelt. Vergiss mich nur dann, wenn die Erinnerung Dir weh tut. Ich habe Dich sehr geliebt, aber für mich gab es keine Tröstung. Ich werde mich auflösen in einen Gedanken an Weiden und eine Fähre über den Fluss. Der Knabe Elis. Vielleicht hätte ich gerne mit Dir gelebt, aber Du warst so weit, ich konnte nicht hinüber. Leb wohl, hab es gut. Trink Mohn und träume. Deine Hertha

Vor sieben Jahrzehnten starb diese Dichterin. In Wien erinnert die Hertha-Kräftner-Gasse an dieses kurze Leben, das uns auch nach weiteren sieben Jahrzehnten wird erkennen lassen, was die deutsche Sprache und Dichtung gerade ihr verdankt, nämlich gegen alle Todessehnsucht hindurch das Verlangen nach Leben – im Gedicht.

Letzte Änderung: 09.01.2022  |  Erstellt am: 09.01.2022

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Kommentare

Anita Djafari schreibt
Was ein schöner Text und eine schöne Erinnerung oder überhaupt Bekanntmachung einer vergessenen Dichterin. Vielen Dank!
Sabine Leßmann schreibt
Der Artikel hat mir sehr gut gefallen mich an die mir bisher nicht bekannte Autorin und Dichterin Hertha Kräftner herangeführt, von der ich nun sicherlich Texte oder Gedichte lesen werde. Vielen Dank dafür.
Lisa Halfmann schreibt
Er schlug nach ihr. Da wurde ihr Gesicht sehr schmal und farblos wie erstarrter Brei. Beim Lesen dieser Zeilen dachte ich: dieses Gedicht wird auch heute noch jede Frau im Frauenhaus und viele Frauen, die dort keinen Platz finden, unterschreiben können. Erschreckend, daß wir nach fast 100 Jahren immer noch nicht "zivilisierter" sind. Und Hochachtung - ein derart emotionales und leidvolles Thema so leicht und luftig zu formulieren; ohne alle Larmoyanz und genau dadurch umso durchschlagender. Lisa Halfmann Kulturvermittlerin
jutta himmelreich schreibt
"... weil ich in ein paar Stunden Veronal nehmen werde." wie deutlich spricht aus diesen zeilen der große mut tiefer verzweiflung.

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