Latente Beharrlichkeiten

Latente Beharrlichkeiten

Eine Geschichte
 Sarah Speck  | © Textland: Alexander Paul Englert

Leidenschaft und Begehren, – so etwas geht nur in frivolen Dramen zusammen. Gleichberechtigung von Mann und Frau lässt sich nicht durch eine Vereinbarung herstellen. „Selbst wenn man sich darauf einigen würde, dass Feministin zu sein bedeutet, heterosexistische Strukturen abzulehnen, ist noch lange nicht klar, welche Politik daraus folgen soll.“ Sarah Speck zeigt, dass die Strategien, den traditionellen Asymmetrien zu entkommen, ebenso kompliziert sein müssen wie die Verhältnisse selbst.

Ich fahre am frühen Abend mit dem Rad durch Marseille. Neben mir verlangsamt ein gerade mal ausgewachsener Kerl auf seinem Moped. Seine zwei Kumpels, ebenfalls motorisiert, umzingeln mich von der anderen Seite, machen blöde Sprüche, lachen, baggern. Ich empfinde die Situation als bedrohlich. Ich werde unsicher und überlege mir zum x-ten Mal, ob ich meine Selbstverteidigungskenntnisse auffrischen sollte. Später ärgere ich mich, weil das altbekannte Spiel, das wir Geschlechterordnung nennen, in all seinen Facetten immer wieder funktioniert, selbst wenn ich es durchschaue. Am nächsten Tag habe ich keine Lust, an den Strand zu radeln. Aus einer bestimmten Perspektive könnte diese Episode auch als eine Aneignung des öffentlichen Raums durch junge Männer beschrieben werden, die damit den Erfahrungen sozialer Exklusion etwas entgegensetzten. Nur bedeutet diese Aneignung für mich das Gegenteil: Mir wird dieser Raum genommen.

Ein knappes Jahr zuvor bin ich auf einer soziologischen Tagung. Abends sitzen wir in einer Kneipe. Ich werde auf eine Situation angesprochen, in der ich öffentlich despektierlich behandelt wurde. Ein älterer Professor blickt mich herausfordernd an und sagt: „Warum lassen Sie sich das gefallen? Haben Sie keine Persönlichkeit? Sie haben da übrigens einen Fleck auf der Brust.” Aber das sei – fügt er hinzu – nur aus sexistischer Perspektive interessant. Anderer Kontext, gleiches Spiel. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, und bestelle mir, ratlos und ärgerlich, zuallererst einen Schnaps. Nicht nur wird die unangenehme berufliche Situation meiner angeblichen Charakterschwäche zugerechnet – mir wird in meinem professionellen Kontext deutlich gemacht, dass mein Körper als weiblicher Körper in Augenschein genommen wird, und dass, so könnte man hermeneutisch interpretieren, beides möglicherweise miteinander zusammenhängt. Sowohl die weiblichen als auch die männlichen Kollegen schweigen, sprechen mir danach ihre Solidarität aus. Ich überlege, die Wissenschaft zu schmeißen – nicht primär, aber auch wegen dieser Episode, die mich, obwohl besagter Professor, wie er später entschuldigend beteuert, mir eigentlich Gutes wollte, tief getroffen hat: Warum sollte ich mir so etwas in einem vermeintlich aufgeklärten Fach eigentlich weiterhin bieten lassen? Na ja, unter anderem weil die #aufschrei-Tweets belegen, dass es andernorts ebenso und schlimmer zugeht. In beiden Erlebnissen wurde mir jedenfalls – wenn auch auf unterschiedliche Weise, und im zweiten Erlebnis zudem noch rhetorisch selbstreflexiv gewendet – aufgrund meines Geschlechts ein bestimmter Platz zugewiesen und Macht demonstriert. Ich überlege, das Feld zu räumen. Mein Lebensgefährte, der Unsicherheitserfahrungen dieses Typs nicht kennt, fordert mich zum Widerstand auf.

Empfinde ich solche Situationen als besonders unangenehm, weil ich Feministin bin? Kann schon sein. Tatsächlich aber glaube ich, dass mir feministische Ansätze nicht nur einen Erklärungsrahmen bieten, solche Settings zu verstehen, sondern auch die Möglichkeit, damit umzugehen, und sei es erst eine Stunde oder auch Tage später. Ich kann mich mit anderen darüber verständigen und schreibe die Situation gerade nicht einem etwaigen in meiner Persönlichkeit liegenden Mangel zu.

Wie ich Feministin wurde, kann ich gar nicht genau beantworten. Als ich die Schule abschloss, habe ich mich noch nicht so bezeichnet. Doch schenkt man den Darstellungen in meinem Abi-Jahrbuch Glauben, bin ich offensichtlich als solche aufgetreten. Sicher ist, dass ich schon früh in meinem lutherisch geprägten und friedensbewegten Elternhaus mit feministischen Fragen und Auseinandersetzungen konfrontiert wurde. Meine Mutter, Tochter einer (hinsichtlich der traditionellen Geschlechterordnung emanzipierten) ungarischen Faschistin, von der sie sich so weit als möglich entfernen wollte, war das, was man so als ›Hausfrau‹ bezeichnet. Meist war sie nur ›atypisch‹, also geringfügig, befristet und in Teilzeit beschäftigt und zeitweise gar nicht erwerbstätig. Als sich das Modell während drei Jahren umkehrte, geriet die Ehe meiner Eltern in eine Krise. Seit ich denken kann, stritt meine Mutter um ihre Rechte in der Beziehung und um die Anerkennung ihrer umfassenden Reproduktionsarbeit für die gesamte Familie sowie der unbezahlten Arbeit, die sie zusätzlich für die Gemeinde meines Vaters leistete. Das leuchtete mir ein, und schon früh fiel mir der offenkundig zynische Titel Frau Pastor macht das schon in unserem Bücherregal auf. Ich muss etwa achtzehn gewesen sein, als sie mir zum ersten Mal erzählte, dass sie in meinem damaligen Alter vergewaltigt wurde – bei einer ihrer ersten Reisen, beim Trampen, im Wald. Dass weibliche Subjektivierung gewaltvolle Erfahrungen mit sich bringt, habe ich, wenn auch nicht in dieser unmittelbaren Härte, viel früher begriffen. Die Verankerungen und Zusammenhänge dieser Geschlechterordnung, die sehr ungleiche Handlungsspielräume eröffnet und für all diejenigen, die aus der heterosexistischen Norm herausfallen, potentiell mit ebensolchen Gewalterfahrungen verbunden ist, sind mir sicherlich erst später klar geworden. Im Studium stürzte ich mich geradezu auf geschlechtertheoretische Fragen und Analysen.

Sarah Speck | © Foto: Textland: Alexander Paul Englert

Das Problem ist, dass unsere Geschlechterordnung quasi überall verankert ist: in der Ökonomie und ihren Arbeitsteilungen, in Institutionen, in unserer Sprache und unseren Bildern, in Moden und Artefakten, in habitualisierten Praktiken, Konventionen, Räumen und als „heterosexueller Sozialvertrag” (Paul B. Preciado) blöderweise auch in Begehrensstrukturen, Emotionen, Affekten. Damit ist die ganze Angelegenheit ziemlich vertrackt, und es ist auch gar nicht gesagt, was es eigentlich bedeutet, Feministin zu sein. Respektive: Selbst wenn man sich darauf einigen würde, dass Feministin zu sein bedeutet, heterosexistische Strukturen abzulehnen, ist noch lange nicht klar, welche Politik daraus folgen soll. Nicht ohne Grund hat es zahlreiche produktive und (denkt man etwa an die Debatten um Sexarbeit) weniger produktive feministische Auseinandersetzungen gegeben – nicht ohne Grund sollte man eben eher von Feminismen sprechen.

Kompliziert ist das Ganze auch, weil sich die Beharrlichkeit der Geschlechterordnung einem oberflächlichen Blick schnell entziehen kann. So hat sich in Sachen Geschlechterungleichheit in den letzten Jahrzehnten und mittlerweile sogar in der Bundesrepublik, der notorischen Spätzünderin, scheinbar viel geändert – etwa in der Frage der Erwerbstätigkeit, in der Öffnung von Handlungsspielräumen, in der Art, wie über Geschlecht gesprochen wird, und in dem tatsächlichen Irrelevant-Werden von Geschlecht in bestimmten Kontexten, in denen andere Kategorien sozialer Differenzierung relevanter gemacht werden. Doch auch wenn mittlerweile die allermeisten Erwachsenen, egal welchen Geschlechts und egal zu welchem Lohn, erwerbstätig sind und sein müssen, so heißt das nicht, dass die Geschlechterordnung nun in Gänze erodiert. Zu vielfältig sind die Funktionen, die die binäre Geschlechterdifferenz gesellschaftlich erfüllt. Zweifelsohne haben sich Dinge gewandelt. Doch zeigt sich unter der Oberfläche ein beharrliches Festhalten an segregierten Strukturen, Arbeitsteilungen und auch an Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern, das sich dem öffentlichen Diskurs der Gleichberechtigung und vielfach auch der Orientierung an Egalität in der eigenen Lebenswelt widersetzt.

In unserer Studie Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist haben wir milieuvergleichend heterosexuelle Paarbeziehungen untersucht, in denen die Frau das höhere Einkommen bezieht. Man könnte meinen, dass insbesondere diese Paare den Wandel der Geschlechterverhältnisse dokumentieren. Doch zeigt ein genauerer Blick auf den Alltag und die typischen Dynamiken dieser Paare stattdessen, wie stabil diese Verhältnisse sind und auf welche Weise Männer und Frauen sie in einer Art normativen Komplizenschaft gemeinsam aufrechterhalten. Paradoxerweise ist es vielfach gerade die Vorstellung von Geschlechteregalität selbst, die einen solchen Wandel verhindert. So sind vor allem die sich als egalitär verstehenden Paare des großstädtischen, individualisierten Milieus bemüht, das klassischerweise zu Lasten der Frauen bestehende Ungleichgewicht in der Arbeitsteilung gemeinsam zu kaschieren: Man will sich nicht als moderne Paarbeziehung delegitimieren und behauptet stattdessen, es handele sich um persönliche Neigungen und individuelle Charaktereigenschaften, wenn die Frau nun einmal die Wäsche mache oder schnell mal drüberwische, weil die „Sauberkeitsschwelle einfach ein bisschen niedriger ist”. Genauso waren unsere InterviewpartnerInnen bestrebt, den höheren Verdienst der Frau zu verschleiern: Geld soll in diesem postmaterialistischen Milieu keine Rolle spielen – „wir machen bei allem einfach 50/50”. Doch eine Analyse der Tiefenstrukturen offenbart nicht nur, wie viel Sorgearbeit weiterhin von Frauen als ›Managerinnen des Alltags‹ übernommen wird, sondern auch, wie stark Männlichkeit im Erwartungshorizont beider Partner weiterhin an die Erwerbssphäre geknüpft ist.

Nicht nur Postmaterialismus und das Leitbild der Egalität kennzeichnen dieses hochgebildete, ›aufgeklärte‹ Milieu, man fühlt sich auch der Norm der Selbstverwirklichung verpflichtet. Das Authentizitätsdogma gilt für beide Geschlechter, doch müssen insbesondere Männer, so argumentiert auch Eva Illouz, ihre Autonomie unter Beweis stellen. Das tun sie auch. Im gleichen Zeitraum, in dem die Ernährerrolle brüchig wurde, entwickelte sich sukzessive eine alternative Männlichkeit in Form eines ostentativ gelassenen Habitus. Der neue ›coole‹ Mann erfüllt beide Erwartungen: Typischerweise als Künstler oder Kreativberufler führt er ein maximal authentisches Leben, notfalls auch auf finanziell niedrigem Niveau, in dem so etwas wie ein nachlässig geführter Haushalt fast schon zum guten Stil gehört – Hauptsache er macht, was er will, und lässt sich von niemandem etwas sagen. Vor dem Hintergrund zunehmend prekärer Arbeitsverhältnisse und der Brüchigkeit der Erwerbsrolle kann Coolness gerade in der Ablehnung gesellschaftlicher Leistungsvorstellungen als eine Strategie der Resouveränisierung verstanden werden, die in der heterosexuellen Matrix eines bestimmten urban-akademischen Milieus selbst dann noch als attraktiv gilt, wenn sie in den Ökonomien des Alltags drastische Folgen zeitigt. Denn unsere coolen, gelassenen Interviewpartner kümmern sich nicht nur wenig um Haushalt und Einkommen. Sie schreiben ihren Partnerinnen, die sich typischerweise um beides sorgen, gerne auch Unentspanntheit und eine zu hohe Anspruchshaltung zu. In gewisser Weise wird der Hysterievorwurf in dieser Charaktergegenüberstellung kulturell verlängert – und richtet sich an die nunmehr nicht nur im Privaten, sondern auch im Beruflichen unangemessen aufgeregte Frau, die an ihrer hohen Belastung nun vor allem selbst schuld ist. An dieser Dynamik haben allerdings auch die Frauen großen Anteil: Denn sie wollen einen unabhängigen Mann, der sein Ding macht. Die abgewertete private Sphäre – »Hausarbeit ist uns echt nicht so wichtig« – kommt dabei als Ort der Selbstverwirklichung für den Mann schon gar nicht in Betracht. Wenn ihr Mann nur noch Hausmann sei, so sagte eine Gesprächspartnerin, hätte sie „ein Sexyness-Problem” – dann schon lieber eine Putzfrau. Eben weil Geschlechternormen so stark in Emotionen und Begehrensstrukturen verankert sind, können sie auch nicht einfach durch Reflexion ausgehebelt werden.

Solche Analysen machen die Frage feministischer Interventionen schwieriger, nicht zuletzt weil einem möglicherweise auch die eigenen Erwartungen, Wünsche und Begehrensstrukturen im Weg stehen. Sie zeigen, wie und in welchen ganz alltäglichen Praktiken die heterosexuelle Matrix und ihre Geschlechternormen eben auch reproduziert werden. Bezieht man unterschiedliche soziale Lagen respektive Klassenverhältnisse und eine globale Perspektive mit ein, wird die Sache noch komplizierter. Für unsere gegenwärtige Situation bedeutet das, nicht nur in Rechnung zu stellen, dass Geschlechterverhältnisse sich in unterschiedlichen Milieus und an verschiedenen Orten je unterschiedlich ausgestalten. Wir müssen uns auch klar machen, dass eine neue Arbeitsteilung zwischen Frauen es bestimmten Frauen ermöglicht, eine ›gleichberechtigte‹ Beziehung zu führen, in der sie sich von einem Teil der Sorgearbeit ›emanzipieren‹ – die dann nun andere, schlecht oder unbezahlt, für sie erledigen: Großmütter, Hausarbeiterinnen ohne Papiere, migrantische Pflegekräfte, studentische Babysitterinnen, schlecht bezahlte Baristas und Kellnerinnen. Diese Umverteilung von Sorgearbeit hat zum Ausbau des meist mies entlohnten Dienstleistungssektors und zur Umstrukturierung des Kapitalismus beigetragen. Eine Emanzipation, die sich ausschließlich auf die Frage der Erwerbstätigkeit richtet, notwendige Sorgearbeit weiterhin abwertet und die gesamtgesellschaftliche Organisation nicht in den Blick nimmt, kann insofern nur eine „unvollendete feministische Revolution” (Silvia Federici) bedeuten. Mit all diesem Wissen ist feministische Kritik zu einer komplizierten Aufgabe geworden, zumal wenn man sich den gesellschaftlichen Widersprüchen stellt, die das Aufbegehren der Frauenbewegungen eben auch nach sich zog. Und es bedeutet, dass feministische Politik sich mit anderen Kämpfen um eine vernünftigere Einrichtung der Gesellschaft verbünden muss – so lange, bis die öffentlichen Räume uns allen gehören und auch die Orte des ›privaten‹ Rückzugs für niemanden mehr ein Ort von Gewalterfahrungen sind.

Erschienen im Logbuch/Suhrkamp, gelesen auf der Textland-Veranstaltung: ”Wie WIR lieben“, Mittwoch, 10. November 2021 im Literaturhaus Frankfurt

Letzte Änderung: 22.12.2021  |  Erstellt am: 18.12.2021

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