Ihre Stimme im Ohr

Ihre Stimme im Ohr

Zum Tod von Hanne Kulessa
Hanne Kulessa | © Alexander Paul Englert

Mit bassbaritonalem Timbre war Hanne Kulessa im Rundfunk präsent, führte ins Zentrum der Bücher, die sie vorstellte und klärte über die dazugehörigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf. Der Literatur der Ukraine galt ihr besonderes Augenmerk. Clemens Greve, Geschäftsführer der Frankfurter Bürgerstiftung im Holzhausenschlösschen, erinnert an die am 24. Juli 2022 verstorbene Hanne Kulessa.

Über 100 Literaturveranstaltungen (Lesungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen) haben wir in zwanzig Jahren gemeinsam mit Hanne Kulessa im Holzhausenschlösschen durchgeführt. Viele der Veranstaltungen wurden für ein großes Publikum im HR übertragen und jedes Mal haben wir mehrere Hörerzuschriften erhalten. Die Reihe „Salon kontrovers – Briefe schreiben und lesen“ war ein großer Erfolg. Hanne Kulessa hat mit der Literatur gelebt. Wir durften Literaturabende erleben, die uns im Holzhausenschlösschen und die Radiohörer reich beschenkt haben.

Wenn wir glaubten, schon alles einmal über die von Hanne Kulessa ausgewählten Autorinnen und Autoren gelesen zu haben, so verstand Hanne Kulessa, alles Geschriebene immer wieder neu und lebendig darzustellen und so aus dem Gelesenen zusammenzustellen, dass wir das bisher Gekannte anders erleben durften: Es entstand jedes Mal Neues in einer klugen und gut aufeinander folgenden Textauswahl einer Schriftstellerin, Herausgeberin, Journalistin und nicht zuletzt erfahrenen Regisseurin.

Der im letzten Jahr schwer erkrankte Friedrich Christian Delius schrieb Hanne Kulessa über den für ihn nahenden Tod und konnte nicht wissen, wie schwer krank schon damals seine Frankfurter Literaturfreundin Hanne Kulessa war. Hanne wollte bis zuletzt nichts von ihrer eigenen Krankheit berichten. Sie wollte aber immer alles über ihre Freundinnen und Freunde und deren Glück und Unglück und deren Gesundheit und Krankheit wissen. Der letzte Brief von F. C. Delius schockierte sie, denn Delius gehörte ja wie so viele, sehr viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu dem Freundeskreis einer Frau, die vom Schreibtisch ihrer Frankfurter Dachwohnung aus, umgeben von den Büchern Ihrer zahlreichen Schriftstellerfreunde, mit Neugier auf die Welt schaute.

Hanne Kulessa setzte sich schon vor vielen Jahren für die ukrainische Literatur ein. U.a. holte Hanne Kulessa den diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, den ukrainischen Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, 2014 zu einer Lesung nach Frankfurt. Wie sehr hätte sich Hanne Kulessa über die Auszeichnung für Serhij Zhadan gefreut.

Hanne Kulessa hat die großen Umbrüche unserer Welt voller Sorge beobachtet, sie hat gesehen, wie ihre engsten Freunde in der Ukraine im Krieg und der Zerstörung zu überleben versuchen. Sie hat ihre Freunde in Frankfurt aufgefordert zu spenden, damit ihre Freunde in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen können weiterzuschreiben und versuchen, wie Zhadan, täglich für ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben weiterzukämpfen. Zhadan hätte vielleicht Hanne Kulessa für seine Laudatorin vorgeschlagen. Wir alle hätten dann am 23. Oktober 2022 bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche mit Serhij und Hanne erleben können, wieviel Kraft die Poesie hat, wenn Sie von Menschen kommt, die sich durch nichts einschüchtern lassen und mit dem Wort behutsam und deshalb wirkungsvoll zu kämpfen verstehen.

Zhadan lebt weiterhin in Charkiw, spielt Konzerte in Metrostationen, holt Menschen aus zerbombten Vierteln heraus, verteilt Hilfsgüter in der Stadt und – das ist das Außergewöhnliche, was Hanne Kulessa begeisterte – liest zwischen zerbombten Häusern Gedichte. Hanne Kulessa wird nicht die Laudatorin von Serhij Zhadan sein. Wer auch immer die Laudatio in der Frankfurter Paulskirche halten wird, der Name Hanne Kulessa sollte auch genannt werden, denn keiner in unserer Stadt, in unserem Land hat sich so früh und so intensiv für die zahlreichen ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingesetzt wie Hanne Kulessa. Wir werden die Texte von Hanne Kulessa immer wieder lesen, wir werden ihre Stimme beim Lesen im Ohr behalten, die Stimme, die in hr2 immer dazu führte, dass man alles andere stehen und liegen lassen musste, da Inhalt und markante Stimme volle Aufmerksamkeit verlangten. Sie ist viel zu früh gestorben. In einer Gedenkfeier werden die Freundinnen und Freunde und die Frankfurter Bürgerstiftung im September im Holzhausenschlösschen an Hanne Kulessa erinnern.

Letzte Änderung: 04.08.2022  |  Erstellt am: 03.08.2022

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