Ich verspüre keinen Hass

Ich verspüre keinen Hass

Eva Szepesi, eine Überlebende der Shoah
Eva Szepesi | © Rolf Oeser

63 Jahre musste Eva Szepesi werden, bevor sie über ihre Erfahrungen in Auschwitz sprechen konnte. Dann aber war es ihr ein Bedürfnis, anderen, vor allem jungen Menschen von der Deportation, dem Grauen in den Lagern und ihrer Flucht zu erzählen. Denn die gebürtige Ungarin, die kürzlich bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag sprach, weiß, dass sich die Bedeutung des Erlebten nur im persönlichen Gespräch vermitteln lässt. Doris Stickler beschreibt die ungewöhnliche Frau.

Lange Jahre lastete auf Eva Szepesi die Frage: „Warum habe ich als einzige meiner Familie überlebt?“ Inzwischen weiß sie den Grund. „Ich muss über die Schrecken erzählen, die nicht vergessen werden dürfen.“ Die besorgniserregende Zunahme von Antisemitismus, rechter Hetze und Gewalt bestärken sie darin nur. Ebenso der Krieg in der Ukraine. „Ich hätte nie gedacht, dass ich nochmal so etwas erleben muss. Mein größter Wunsch ist Friede.“ Was dessen Absenz bedeutet, hat Eva Szepesi grausam am eigenen Leib erfahren. Als Zwölfjährige wurde sie im November 1944 nach Auschwitz deportiert. Bei der Befreiung am 27. Januar 1945 gehörte sie zu den 400 Kindern, die das Vernichtungslager überlebten. Von den Nazis für tot gehalten und deshalb zurückgelassen, war sie kaum mehr bei Bewusstsein und bis auf die Knochen abgemagert.

Über das erlittene Grauen hat Eva Szepesi 50 Jahre lang geschwiegen. Ihr Mann und die beiden Töchter wussten zwar, dass sie in Auschwitz war. Was sie dort ertragen musste, hielt sie jedoch unter Verschluss. Das Verdrängen habe ihr ermöglicht, wieder ins Leben zurückzufinden. Das tat sie zunächst in ihrer Heimatstadt Budapest unter der Obhut einer Tante und eines Onkels. Sie besuchte die Schule, machte eine Ausbildung zur Schneiderin und heiratete 1951 Andor Szepesi. Als er drei Jahre später von der ungarischen Handelsvertretung nach Frankfurt beordert wurde, folgte sie mit der kleinen Tochter Judith nur schweren Herzens. Geplant waren zwei Jahre, dann kam der ungarische Volksaufstand, und sie entschieden sich zu bleiben.

„Das Schicksal wollte es wohl so“, sagt Eva Szepesi, die nun schon fast 70 Jahre in Frankfurt lebt. Ihr 1993 verstorbener Mann hatte als gelernter Kürschner das Geschäft „Pelze am Dornbusch“ gegründet, das die Tochter Anita und ihr Ehemann – beide Kürschnermeister und mit Preisen ausgezeichnete Pelzdesigner – weiterführen. Dass sie erst nach dem Tode ihres Mannes mit ihrem Schweigen brach, bedauert Eva Szepesi noch immer. Den Anstoß zu reden, habe ihr erst 1995 die Gedenkfeier zum 50. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz gegeben. Eingeladen von Steven Spielbergs Shoah Foundation, wurde sie von Mitarbeitern interviewt. Zu reden begann sie jedoch schon am Abend zuvor. Eva Szepesi erinnert sich noch genau, wie sie damals mit Jugendlichen zusammen saß: „Ganz locker auf dem Boden, im Schneidersitz.“ Neben ihren Töchtern war auch der Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland vor Ort, der sie irgendwann bat, von ihrem Leben zu erzählen.

Durch die erste Reise an den Ort unsäglicher Qualen ohnehin ziemlich aufgewühlt, hielt sie ihre Erinnerungen nicht mehr zurück. „Ich fing an, und es ist nur so gesprudelt.“ Auch ihre Töchter erfuhren hier erstmals das Ausmaß ihres Leidens. Für Eva Szepesi war der Abend ein wegweisendes Erlebnis. Seither ist sie als Zeitzeugin bei Veranstaltungen zugegen, besonders am Herzen liegen ihr die Besuche in Schulen. „Ich möchte, dass der Holocaust für junge Menschen nicht nur ein Kapitel im Geschichtsbuch ist.“ Zu ihrer Freude kommt sie in den Klassen gut an. „Die Jugendlichen identifizieren sich mit mir, schreiben mir nach den Gesprächen Briefe und stellen ihren Großeltern Fragen.“

Den Zuspruch führt Eva Szepesi darauf zurück, dass sie im Alter der Schülerinnen und Schüler war, als ihre Eltern und der kleine Bruder Tamás den Nazis in die Hände fielen. Sie selbst wurde mit einer Tante bereits einige Zeit zuvor von der Mutter in die Slowakei geschickt, wo man später ihr Versteck entdeckte und sie nach Auschwitz verfrachtete. Dort sei sie der ihr drohenden Gaskammer nur entkommen, weil eine Aufseherin sie anwies, sich als 16-Jährige auszugeben. Die ihr in den Schulen entgegengebrachte Wertschätzung hat nicht zuletzt mit ihrer Person zu tun. Die kleine, zierliche Frau, der man kaum glauben mag, dass sie Ende September ihren 91. Geburtstag gefeiert hat, besitzt ein warmes Lächeln und ist ihrem Gegenüber sehr zugetan. „Ich habe ein offenes und positives Wesen und verspüre keinen Hass“, charakterisiert sich Eva Szepesi selbst. Sie wisse allerdings nicht, warum das so ist. „Vielleicht, weil ich zuhause viel Liebe bekommen habe.“

Die innige Verbindung zu ihren beiden Töchtern, den vier Enkelkindern und drei Urenkelkindern trägt sicher auch dazu bei, dass die grausamen Erfahrungen nicht mehr ihr Leben überschatten. Ihre Geschichte in der 2011 erschienenen Autobiografie „Ein Mädchen allein auf der Flucht“ festzuhalten half ihr ebenfalls bei der Verarbeitung des Erlebten. Eva Szepesis Hoffnung, dass ihre Mutter und der kleine Bruder die Shoah überlebten und sie sich irgendwann wiedersehen, zerschlug sich erst vor wenigen Jahren. 2016 entdeckte sie bei einem Besuch in Auschwitz deren Namen auf der Opferliste. Umso wichtiger ist es ihr, als Zeitzeugin weiterhin die Erinnerung wachzuhalten. Hierfür wurde sie mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt sowie dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Vor zwei Jahren erreichte Eva Szepesi in der Talkshow von Markus Lanz eine breite Öffentlichkeit. Nachdem der ebenfalls eingeladene Komiker Atze Schröder an dem Abend ihre Geschichte erfuhr, stand er auf und entschuldigte sich bei ihr für „die Taten meines Vaters und seiner Täter-Generation“. Das vor Millionen von Zuschauer:innen abgelegte Bekenntnis hat Eva Szepesi sehr berührt. Eine derartige Empathie erlebe sie nur sehr selten.

Letzte Änderung: 06.02.2024  |  Erstellt am: 06.02.2024

Ein Mädchen allein auf der Flucht | © Rolf Oeser

Eva Szepesi Ein Mädchen allein auf der Flucht

Ungarn-Slowakei-Polen (1944–1945)
Bibliothek der Erinnerung, Band 22
159 S., brosch.
ISBN: 978-3-86331-005-9
Metropol-Verlag, Berlin 2011,
5. Auflage 2023

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Kommentare

Ralf Rath schreibt
Selbst in hiesig ansonsten überaus renommierten Forschungsinstituten wird die Realität unsäglicher Qualen noch heute als, wortwörtlich, "Sturm im Wasserglas" ins Verhältnis gesetzt. Zwar sprach sich der Bundeskanzler in Berlin erst jüngst am 16. Dezember 2023 für ein Handeln stets "ohne Relativierung" aus. Sich auf das Wort von Olaf Scholz zu berufen, heißt jedoch, mit der Behauptung konfrontiert zu sein, dadurch angeblich die Freiheit nicht zuletzt der Wissenschaft zu gefährden.

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