Die Erkenntnisse, die durch lebenslange Lektüre einem Menschen wie Harry Oberländer zuteil wurden, sind uns Übriggebliebenen entzogen. Sie gehören ganz seiner Persönlichkeit, die nach seinem Tod ausgelöscht ist. Den Verlust kann am ehesten ermessen, wer lange mit ihm zusammengearbeitet hat. Björn Jager, Oberländers Nachfolger in der Leitung des Hessischen Literaturforums, hat dem Mann der Literatur einen Nachruf geschrieben.
Das Paradox von Trauerprosa ist, dass wir sehr genau wissen, dass die Wörter, die wir benutzen müssen, den Verlust kaum zu beschreiben im Stande sind – und dass uns aber gleichzeitig eben nur diese Wörter zur Verfügung stehen. „Das Literaturforum trauert um Harry Oberländer. Wir haben mit ihm einen langjährigen Mitarbeiter und unseren ehemaligen Leiter verloren.“ Dem Gesagten mag – weil wir wissen, was wir mit Trauerprosa meinen – eine Unabänderlichkeit eingeschrieben sein, und doch: Klingt im „Verlieren“ nicht an, dass sich, theoretisch, etwas auch wieder finden ließe, suchte man nur lange genug? Hier beginnt es, das Dilemma, denn der wunderbare Mensch, der Harry war, ist weg, unrettbar, Spuren hat er hinterlassen, ja, aber sie führen nicht mehr zu der Person, die ich gekannt habe. Und mehr noch: Der Einschnitt, den dieser Tod bedeutet, ist tiefer und damit die Prosa unzureichender, denn es ist nicht nur der endgültige Verlust einer Person, der mich trauern lässt, es schwingt etwas anderes, etwas Größeres mit.
Ich habe Harry 2004 zum ersten Mal getroffen (ein Schreibwochenende lang), 2005 zum zweiten Mal (ein Praktikum lang), 2008 zum dritten Mal (ein, wie man nun sagen muss, Restleben lang), und – verdammtes Vokabular! – ich bin mir bis heute nicht sicher, ob der Begriff des „Kennens“, des „Kennenlernens“ überhaupt passt, obwohl wir acht Jahre ein Büro teilten. Was heißt das, sich zu kennen? Ich kenne Teile, Schlaglichter aus Harrys Leben. Kenne Bad Karlshafen nur, weil er dort geboren wurde, häufig von seiner Heimat erzählte, dort wieder hinzog, als er in Rente ging und nun dort starb. Kenne Geschichten aus Hongkong, wo er eine Weile lebte, als seine damalige Frau dort arbeitete. Kenne, wo wir beim Thema sind, zwei seiner drei Ehefrauen, einen seiner beiden Söhne. Kenne Geschichten aus seiner Spät-68er-Zeit (er war, geboren 1950, einen Ticken zu jung, um pünktlich 1968 hier zu sein), kenne seinen Frust, für das Studium bei Adorno zu spät gewesen zu sein (und den Stolz, zumindest bei Habermas studiert zu haben). Kenne Geschichten aus seiner Buchhandlungszeit mit Joschka Fischer und jene aus der Fabrik, in die man nach der Vorlesung ging, um die Belegschaft auf die Revolution einzustimmen. Aber kenne ich den Menschen Harry Oberländer?
Er war lange Zeit weniger Individuum für mich als Teil eines Kosmos, als Drittel eines Trios, das sich dadurch auszeichnete, dass alle drei Teile dieser Gruppe sich in steter Abgrenzung von den anderen beiden zu definieren versuchten, wobei gleichzeitig aber nie verdeckt werden konnte (so sehr alle drei es auch manchmal versucht haben), dass man sich in einem Verhältnis großer Zuneigung bewegte. Ich rede natürlich von Paulus Böhmer, von Werner Söllner und von Harry. Paulus war damals schon lange in Rente, Werner leitete das Literaturforum, für das Harry wiederum die Zeitschrift L. Der Literaturbote herausgab, bis wiederum er selbst Anfang 2010 die Leitung übernahm. Vorstellbar war keiner der drei ohne die jeweils anderen, schien mir, nicht zuletzt deshalb, weil die drei Unterschiede verkörperten, die auf so seltsame wie gleichzeitig harmonische Art eben doch ein Ganzes ergaben: Paulus die graue Eminenz im Hintergrund, Werner der penible und fleißige Arbeiter, Harry der Freigeist, der sich partout nicht an Arbeitszeiten oder eine gewisse Ordnung in seinem Aktenschrank halten konnte (konnte, nicht wollte, dafür lege ich meine Hand ins Feuer), dafür aber in der Lage war, binnen Minuten ein perfektes Sonett zu dichten, wenn man ihm ein Thema hinwarf (was mit Sicherheit ein Alleinstellungsmerkmal war, denn es ist davon auszugehen, dass Paulus der Gedanke, sich auf so wenige Zeilen beschränken zu müssen, den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte, während Werner Monate an der ersten Zeile gefeilt hätte). In ihren Stärken, vor allem aber in ihren Schwächen ergänzten sich diese drei Männer.
In der Liebe zur Literatur trafen die drei sich ohne jeden Zweifel – und doch war Harrys Verhältnis zu Texten eines, das sich deutlich abgrenzte: Harry, scheint mir, lebte mit und in ihnen, sein Zugriff auf Literatur war somit vielleicht radikaler, bedingungsloser. Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der belesener war, und zwar über Genre- und Landesgrenzen hinaus. Romane, Gedichte, historische Abhandlungen, Literatur- und Gesellschaftstheorie. Dabei war der bizarrste Aspekt nicht mal die unglaubliche Masse an Wissen, sondern dass Harry zu jedem Zeitpunkt Zugriff darauf hatte, er konnte fehlerlos Auszüge zitieren, konnte innerhalb kürzester Zeit herausarbeiten, mit welchen Texten der Literaturgeschichte ein gerade erschienener Roman stofflich verwandt war. Sein Textwissen war ein Haus, in dem er lebte, in dem er sich traumwandlerisch zu bewegen wusste, wenn er mal wieder auf der Suche war nach einem Bezug, einem Thema, einem Zitat. Kein Wunder, denke ich jetzt, dass er eng war mit Wilhelm Genazino, viel enger noch mit Peter Kurzeck. Wie bei diesen beiden großen Autoren schwappten auch bei Harry Realität, die eigene Biographie und das subjektive Erleben dessen, was jederzeit um uns herum passiert – das Erhabene wie auch das Banale – ineinander über, und genau wie diese beiden war Harry ein leidenschaftlicher Erzähler im Alltag, so leidenschaftlich, dass vielleicht die Eigenschaft des Zuhörenkönnens weniger ausgeprägt war. Man hätte diesen typischen Konversationsverlauf, der immer daraus bestand, dass Harry in einem Gespräch zunehmend häufiger und zunehmend länger am Stück redete und man selbst weniger zu Wort kam, leicht missverstehen können: als Desinteresse am Gegenüber, als Ichbezogenheit. Das Gegenteil war der Fall: Harry hat im Erzählen nach Lösungen gesucht und nach Trost. Ihm standen unzählige Geschichten zur Verfügung, die eigenen wie die angelesenen, die er als Abgleich darbot: Hier, schau, so kann das, was du gerade erlebst und von dem du mir gerade erzählt hast, verlaufen, oder so oder so. Er dominierte unsere Gespräche nicht, weil ihm das, was er sagte, wichtiger war als das, was die anderen sagten, sondern weil er wusste, dass eine gute Geschichte einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende hat und somit Raum braucht – und weil er gleichzeitig so viele Geschichten in sich trug, dass er häufig von der einen zur nächsten glitt und von der nächsten zur übernächsten und damit das Ende vor sich her schob. Von Scheherazade wissen wir, dass diese Taktik manchmal auch ein Mittel sein kann, um zu überleben, um die Realität außer Kraft zu setzen. Ich wüsste gerne, wie der große Oberländer-Roman ausgesehen hätte – dass er an einem Projekt saß, hat er immer mal wieder erzählt, fertig geworden ist der Text meines Wissens nicht. Vielleicht standen sich die vielen Geschichten zu sehr im Wege. Sicher ist, dass er, der Roman, kein Ende mehr finden wird, weil niemand die letzte Realität unserer Existenz außer Kraft setzen kann, nur hinauszögern.
All das reicht aber noch nicht, um zu erklären, warum Harry Oberländers Tod mich so erschüttert. Man darf mit solchen Phrasen nicht leichtfertig umgehen, aber ich glaube, gerade endet eine Ära, nicht nur für mich, sondern für die Stadt, in der Harry so lange gelebt hat und tätig war. 2018 starb Paulus Böhmer, 2019 Werner Söllner, und auch Michael Hohmanns Tod Ende 2022 gehört unmittelbar in diesen Kontext: Über 30 Jahre wurden Literaturveranstaltungen in Frankfurt am Main von vier Menschen geprägt, die sich und ihre Arbeit in erster Linie über ihre Liebe zum Text definierten, die sich nie ökonomischen Zwängen unterwarfen, für die Ästhetik vor der Frage nach Besucherzahlen stand. Vier gens de lettre, allesamt belesen, gelehrt auf eine Weise, die rar geworden ist. Für diesen Verlust, den wir vielleicht erst in einigen Jahren ganz werden begreifen können, finden sich die Wörter nicht, die ihn greifen könnten. Wie sich auch nie Wörter finden, die greifen könnten, dass ein Mensch unrettbar verloren ist, unauffindbar, außer vielleicht in seinen Geschichten, in Buchstabenreihen und Satzgefügen also, die niemals adäquat beschreiben können, wer das war, dieser Harry Oberländer, der jetzt nicht mehr ist.
Letzte Änderung: 08.01.2024 | Erstellt am: 08.01.2024