Eine rauschhafte Schrift

Eine rauschhafte Schrift

Laudatio auf Robert Stripling zum Licher Literaturpreis 2023
Robert Stripling

Mit dem jährlich vergebenen Licher Literaturpreis soll eine aktuelle literarische Publikation (Erzählprosa, lyrische Prosa) aus dem deutschen Sprachraum ausgezeichnet werden. Auf Wunsch der Stifter sollte dabei auf sprachliche Originalität, Experimentierfreude und Modernität ein besonderes Gewicht gelegt und so dem Licher Literaturpreis ein spezifischer Charakter gegeben werden. Die Jury hat sich 2023 für Robert Stripling und sein Buch „Unter Stunden. Album I“ entschieden. Jan Röhnert hat ihm zur Preisverleihung die, hier für Faust-Kultur gekürzte, Laudatio gehalten.

Weshalb hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass kein anderes Werk als Unter Stunden und kein anderer Autor als Robert Stripling so sehr gerade diesen Preis verdient haben, dass also Preisträger und Stadt füreinander prädestiniert seien? Um es kurz zu machen, auch wenn es vielleicht überraschen mag: Das Urteil der Jury lässt sich ganz schlicht auf keinen geringeren als Johann Wolfgang von Goethe zurückführen. Es ist genauer gesagt die Abwesenheit Goethes in der Stadt Lich und im Werk von Robert Stripling, die Abwesenheit Johann Wolfgang Goethes vor Ort und im Buch, obwohl doch so vieles hier und im Buch auf ihn verweist, auf ihn hindeutet, an ihn erinnert. Mit Goethe ins Zwiegespräch treten, an Goethe sich abarbeiten, ohne ihn dabei aufdringlich im Munde zu führen, das ist die Kunst, glaube ich, die man in Lich beherrscht, das ist es, was Robert Stripling für den Licher Literaturpreis prädestiniert. Eine Recherche in GoogleMaps zeigte mir als in Lich Unkundigem die Lage der hiesigen Goethe-Straße an, sie liegt am Nordrand Richtung Gießen, an ihrem westlichen Ende wird das Gewerbe einer mobilen Friseurin, am östlichen Ende ein Studio für Ganzkörpermassage angezeigt, nördlich davon beginnt das Waldschwimmbad – das allein zeigt, mit welch subtiler Ironie man sich in Lich zum Werk des mit den Wassern von Main und Ilm Gewaschenen verhält. Aber Goethe, was hat aus-gerechnet unser Klassiker mit einem Werk zu tun, das in seiner mitgelieferten Bibliographie unverhohlen an postmoderne Autoren, an die Kritische und auch die Feministische Theorie anknüpft, an die Romantische Schule ebenso wie an Derrida, an die Theorie also eines herkunftslosen und sich endlos verzweigenden Textes rührt, dessen in sich verschlungene, sich wiederholende, sozusagen emphatisch ‚stotternde‘ (Robert Stripling mag mir den Ausdruck verzeihen), immer wieder neu ansetzende Form das Ideal des formvollendeten Kunstwerks, für das der Name Goethe steht, zu konterkarieren scheint. Indes, Goethe und seine Klassik sind mehr Ergebnis späterer Missverständnisse und Projektionen, als dass sie etwas über den Kontinent verrieten, den dieser Mann, mag sein unter der Maske des Klassikers, kultivierte, und der bis in unsere postpostmodernen Zeiten mit gültigen Gedankengütern und Schreibformen blüht, die einen Autor, Kritiker oder Literaturwissenschaftler auf Lebenszeit mit den Ingredienzen für gute Literatur versorgen. Überdies mag man in 50, 100 oder 200 Jahren Robert Stripling selber als Klassiker bezeichnen oder gar eine Straße in Lich nach ihm benennen.
Um einen Text zu preisen, sollte man ihn für sich sprechen lassen, ihn zeigen, zitieren, vorlesen. Goethe hatte vermutlich Ähnliches im Sinn, als er in den Tag- und Jahresheften auf das Jahr 1807 der Fürstin zu Solms gedenkt, die er während des Kuraufenthalts in Karlsbad unterhalten hatte:

„Sie veranlaßte mich jederzeit ihr etwas vorzulesen, und ich wählte stets das Neuste was mir aus Sinn und Herz hervorgequollen war, wodurch denn die Dichtung jedesmal als der Ausdruck eines wahren Gefühls auch wahr erschien und, weil sie aus dem Innern hervortrat, wieder aufs Innerste ihre Wirkung ausübte.“

Ebensowenig wie seine Karlsbader Kurfreundin trotz ihres auf die Region Lich verweisenden Namens wohl je die Stadt Lich besucht hat, ist Goethe je hier gewesen. Dabei hätte er während seines Referendariats am Wetzlarer Reichskammergericht alle Möglichkeiten gehabt, das nahegelegene Lich aufzusuchen: Er ließ es, nach allem, was wir wissen, unterbleiben. Es gibt jedoch eine apokryphe Überlieferung seiner letzten Worte auf dem Sterbebett, die nicht etwa „Mehr Licht!“ gelautet haben sollen, sondern: „Wär ich doch in Lich gewesen!“
War er aber nicht, und dieses Versäumnis begleitete ihn sein Leben lang. Es ist früh festgehalten in jenem bitteren, enigmatischen Schlusssatz des Werther, den man bislang nie ganz verstanden hat – dabei liegen die Evidenzen klar zutage, dass es sich hier um eine Anspielung auf unsere Stadt und das Versäumnis, sie besucht zu haben, handelt: „Kein GeistLICHER hat ihn begleitet“, das bedeutet, kein Mensch von Geist, kein Licher also, hat dem armen Werther die letzte Ehre erweisen können, spielte sich sein Suizid doch in Wahlheim-Wetzlar ab, und dort begibt sich ein Licher nicht freiwillig hin. Kein Licher hat ihn begleitet, ja, nicht einmal das Getränk aus der Privatbrauerei Ihring-Melchior hätte Werther von seinem düstern Entschluss abgehalten, dann es wurde damals noch nicht verzapft.

Der Name der Stadt mit ihrer in aller Welt anzutreffenden Nachsilbe, die eigentlich selber kein Bedeutungsträger ist, sondern sich der Bedeutung des ihr vorangehenden Wortes anschließt, ist Programm für Striplings Buch und seinen autobiografischen Helden, sich schreibend in alle Welt zu versetzen, sich in ihr zu verzweigen, sich zitatartig so vielen Bedeutungsträgern aus Literatur und Philosophie anzuschließen, sie für sein eigenes Leben und Schreiben zu erschließen. Dazu bekennt sich der Autor an anderer Stelle, nämlich in seiner 2018 erschienenen Sammlung Verpasste Hauptwerke emphatisch, wenn er einen apokryphen Buddhisten mit den Worten zitiert: „Das Zitat ist die Mutter alles Gedachten.“ Wie er sich jedoch diese Zitate aneignet, sie seiner eigenen Schrift und Geschichte anverwandelt, das ist seine eigene Kunst, auf die ich, ihn zitierend, zurückkommen werde. Die Stadt Lich macht es auch hier vor: Die für sich genommen bedeutungslose Nachsilbe rückt als Ort in den Stand eines Bedeutungsträgers auf, der es mit allem Sinn und Unsinn dieser Welt aufzunehmen vermag.

Man muss dabei nicht nur an das Unterirdische, Rhizomatische oder Myzelartige denken, sondern ebenso auch an das Licht, das Prismatische, Strahlenartige, Kosmische: die Sonne, unsere Galaxie, das Universum, die Unendlichkeit. Am 7. Dezember 1781 kündigt Johann Wolfgang Goethe aus Erfurt in einem Brief Charlotte von Stein an, einen Roman über das Weltall schreiben zu wollen. Dieser Roman oder sein Entwurf haben sich nicht erhalten, sollte Goethe je damit begonnen haben. Aber Robert Stripling zeigt uns gleich zu Beginn seines Romans, wie Goethes Projekt hätte ausgesehen haben können:

„Vor langer Zeit von Anfang an & nun bereits lange genug, sodass ich mir sicher sein will: diese Leichtfüßigkeit oder lichtdurchflutete Euphorie trägt stets nur eine Weile; nie lang genug gibt sie mit auf den Weg ihre Lichter. Am Nachmittag das Gesicht gewaschen & Angst gehabt, ich hätte es weggespült, nun gut, wer wäre ich jetzt? Sagen verhallen, ‚verklingen‘; Intensität wie Epitaphe, Kardamom oder jeden Morgen wieder die geöffnete Margarine auf dem Küchentisch (muss sie tags zuvor dort stehen gelassen), während draußen wieder die Dunkelheit zwischen den Hochhäusern liegt. Verwachsene Äste, „schwarz“, sage ich. Gewaschene Menschen, versetzt an ihre Arbeitsplätze; Etagen leuchten, Telegrafen, eine Autobahn, die Stadt im immer ungleichen Strudel sich mühender, gewohnter Schicksale. Ich bin im Aufbruch wo ich geh. Als würde ich seit jeher wirklich aus demjenigen Schlummer erwachen, aus dem der Alltag hervorgeht; BLÜTENARTIG, indem dieser jenen erträumt. Ich probierte versuchsweise mich zu erklären, ich meine Zusammenhänge zu erkennen, einer Kausalität, deren Spielball ich war. Doch brechen diese im nächsten Augenblick weg; alles war zugleich verbindungslos, ‚synchron‘; die Bruchstücke wie wunderlich funkelnde Glasscherben auf dem Gehsteig in Richtung Roßmarkt – kann ich mir sicher sein nun, dass ich mich täuschte?, wo bin ich, wenn nichts feststeht?“ (S. 4)

Hier werden synästhetisch verschiedene Wahrnehmungskanäle in Wechselwirkung miteinander gezeigt, gleichzeitig aufblitzende Beobachtungen, Empfindungen, Reflexionen von höchster Sinnlichkeit und Sensibilität akkumulieren sich asyndetisch durch Kommata und Semikola verknüpft, Inversionen, Paronomasien, Schüttelreime generieren wortspielartig den Fluss des Erzählens, so dass die Textblöcke, aus denen Unter Stunden sich zusammensetzt, eine rauschhafte Schrift erzeugen; eine Art Supernova der Sprache setzt die Energien frei, welche die 236 Seiten des Romans befeuert. Unter Stunden ist Robert Striplings Roman über das Weltall.

Bei Goethe hingegen sollte es nach dem Erfolg seines Werther über 20 Jahre dauern, bis er seinen Bildungsroman, den Wilhelm Meister, vorlegen sollte. Ist Unter Stunden vielleicht auch ein Bildungsroman? Ist der in der ersten Person von sich und vor sich hin sprechende Protagonist Robert Striplings eine Art Wilhelm Meister? Oder doch eher ein Werther? Oder keines von beiden? Nicht nur die Tatsache, dass es sich bei Goethes Werther und bei Striplings Unter Stunden um sogenannte Erstlinge handelt, lässt die Assoziation zu. Robert Stripling ist zwar nicht wie Goethe in Frankfurt geboren, sondern in Berlin, hat aber einen großen Teil seines Erwachsenenlebens studierend in Frankfurt/Main und Umgebung verbracht; sein persönlicher Bildungsroman, das zeigt etwa obiges Zitat an der Nennung des Roßmarkts, ist mit Frankfurt verbunden und ich nehme an, dass ihm dabei auch das mittel- und oberhessische Umland nicht fremd geblieben ist. Die hessische Landschaft als Wahlheimat – das zumindest teilt Striplings Alter Ego mit Werther. Betrachten wir die Form: Goethes Werther wird allgemein als „Briefroman“ bezeichnet, dabei handelt es sich doch höchstens um einen Briefmonolog, um Sendungen, Selbstgespräche an einen mehr oder weniger imaginären Gesprächspartner, der trotz seinen namens Wilhelm (was alt-hochdeutsch so viel wie ‚Der Entschlossene‘ bedeutet) selber nie in Erscheinung tritt und nur als Empfänger von Werthers Ekstasen eine Rolle spielt.

Durchaus vergleichbar monologisch geht es bei Robert Stripling zu, auch wenn das Ich dort keine Briefe schreibt, sondern wie die Figur Oehler in Thomas Bernhards Erzählung Gehen unablässig redet, sich dabei jedoch nicht mit nur einem Gegenüber zufriedengibt: es hat gleich mehrere mehr oder weniger imaginäre Gesprächspartner bzw. partnerinnen, angefangen mit dem mysteriösen „Ampère“, der wohl in Erinnerung an den genialen Entdecker der elektrischen Stroms seinen Namen hat und als Kondensator für die Stromstöße des Lebens, die das Ich durchzittern, zu fungieren scheint. Vielleicht ist er auch der Platzhalter für die problematische, eher ab als anwesende Vater(père)Figur; vielleicht stammt von Ampère der Initialfunken für den autobiografischen Bewusstseinsstrom des Romans, hat Robert Stripling doch bereits 2013 in der Zeitschrift Bella Triste Prosastücke „Aus den Ampere-Heften“ veröffentlicht. Aber da ist mindestens noch eine andere Figur neben Ampère, nämlich „Jot“, von der wir erfahren, dass sie mit ähnlichen Beschädigungen wie das Ich durchs Leben geht und sich zwischen Studium, Beziehungen, Erinnerungen an eine schwierige Kindheit und Experimenten, diese hinter sich zu lassen, durchschlagen muss. Ampère und Jot sind, um ein Wortes des späten Goethe zu gebrauchen, gleichsam wiederholte Spiegelungen oder Resonanzkörper des sich in konzentrischen Kreisen sein Leben erschreibenden Subjekts von Unter Stunden. Und es gibt eine weitere Angeredete, welche zugleich die Angebetete ist oder war: „Ana B.“, über deren Verlust der Schreibende schwer hinwegkommt, zugleich ist sie doch Motor und Motiv seines Schreibens, das neben Epiphanien während des Transits durch Orte wie Amsterdam, Rom, Düsseldorf, Berlin, Marseille, Bastia, Kairo oder Wien und einer Kindheit im ländlichen Niedersachsen um die Aufarbeitung dieser offensichtlich gescheiterten Beziehung kreist. Ana B. ist in gewisser Weise Striplings Charlotte, nur dass Unter Stunden keinen Anfang und kein Ende kennt, sondern sich wie eine Spinne auf strahlenförmigen Radien entlang verschiedener, immer wieder neu berührter Fixpunkte in der Zeit bewegt, einmal spricht das Ich auch von der „Faszination des Zurückgrabens“:

„Ich denke daran, sage ich zu Ana B., dass die Erinnerung ‚an dich‘ lediglich in Form eines Terrariums (mit dieser Vogelspinne darin) AUFFLACKERT. Rotlicht darüber. Dein Gesicht verspiegelt im Glas : als sei ein Blick in diese Augen ausgeschlossen; verboten ebenfalls, deinen Namen auszusprechen, oder „dreifältig ist die Geliebte und gleichzeitig eins“, schreibt Ibn’Arabī, ‚wie die Wesenheiten Gottes nur eine sind’.“

Wir wissen, wie der Werther – ohne Beistand aus Lich – endet; ein Ende, das glücklicher-weise Robert Striplings von Ana B. Verlassenem erspart bleibt, gleichwohl hat auch er seine Suiziderfahrungen gemacht. Diese scheinen jedoch ein Ferment seines persönlichen Bildungsromans zu sein, um wieder auf das Stichwort zu kommen, bei dem ich stehen geblieben war. Aber ist Unter Stunden ein Bildungsroman?
Wenn, dann ist der Bildungsroman hier gewissermaßen zum Schriftbild, zur idiosykratischen Signatur der Lebensschrift des Protagonisten, dieses Stripling-Individuums, seines persönlichen idiot de la famille geworden, ein Schriftbild jenen amorphen wolkenartig fließenden Formen vergleichbar, welche den Buchumschlag zieren und welche als Anspielung grafischer Formen über den Schriftlauf des Romans versteckt wiederkehren: Simulakra, Entsprechungen jener das Leben durchziehenden Schrift von „Bildern“, aber eben nicht nur mimetischen Abbildern (dies ist auch eine wiederkehrende theoretische Reflexion im Buch), sondern auch Stimmen, Klänge, Rhythmen, Prosodien, das, was Ezra Pound einmal die Melopoiea genannt hat, also den nicht auf eine spezielle Bedeutung zurückführbaren vibrierenden Sinn des sprachlichen Kunstwerks, den nur die Sprachmusik erzeugen kann. Der Musiker und Mime Stripling weiß, dass Sprache und Schrift nicht nur Bild und Bedeutung, sondern auch Klang und Gestus erzeugen; auch diese Dimension ist bei Unter Stunden – der Titel könnte auch so etwas wie eine musikalische Zeit- oder Regieanweisung oder ein Bild für die Aufhebung des linearen Zeitgefüges sein – unbedingt mitzudenken:

„man hat ja nur [heißt es auf Seite 27f.| ‚dies eine‘ den Welten hinzuzugeben, dass es die eigene Sichtweise gibt: immer eingeschränkter, will sagen ‚befreiter‘; gedrängt an das wieder & wieder letzte Glänzen in den Augen: staunend wies Kind. Was immer aufbegehrt, wird Zeugnis oder Haube: Dies ist es, was ich trage, was ich ‚austrage‘, ‚ausbrüte‘: ein Gedicht auf dem Kopf. So hebt die Sonne allmählich Aufgänge an, trabt vorbei; ein Geschäftsmann, der kräftige Züge aus der Plastikflasche nimmt, während er weiterjoggt. Die Dogge im Vorgarten lässt ihren Kopf folgen. Ein Laub in den Bäumen, sage ich zu Ampère, legt sich nah an Haare (als griffen Pollen in meinen Scheitel / Schädel ein; die Blätter am Baum, alles raschelt; schaut)““.

Zu diesem synästhetischen Bildungsroman, also dem visuellen, akustischen, grafischen Bild von Striplings Lebensschrift, gehören auch die vielen Stimmen, die sich in Form von Zitaten einschreiben in die konzentrischen Bildungskreise des Ichs, Stimmen, die einerseits namentlich in der Bibliographie am Ende des Buchs genannt sind, darunter so verschiedenartige Texte wie die Schriften Hélène Cixous’, Das Haus der Krankheiten von Unica Zürn, Käthe Kollwitz’ Tagebücher, Maria Sibylla Merians Reisebeschreibungen, Novalis’ Werke, Walls to talk to der koreanischen Künstlerin Jewyo Rhii, Rilkes Duineser Elegien, Edmond Jabès’ Ein Fremder mit einem kleinen Buch unterm Arm, Gottfried Benns Ptolemäer, Walter Benjamins Passagen-Werk u.a. – eine durch und durch eklektische Leseliste. Fast noch wichtiger scheint mir aber der Gestus dieser Schrift zu sein, der sich aus vielen, oft nicht eigens genannten literarischen Stimmen speist, diese jedoch in ihrem Zusammenspiel und vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte neu erklingen lässt. Dabei handelt es sich um Autoren, die aus spezifischen Subjektivität neuartige erratische Formen generierten. Dazu gehören zweifellos Rolf Dieter Brinkmanns Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, Arthur Rimbauds Jahreszeit in der Hölle, Arno Schmidt und Reinhard Jirgl in ihrem idiosynkratischen Duktus, Peter Kurzecks Erinnerungsrecherchen, Jörg Fausers Rohstoff, Rainald Goetz’ Abfall für alle, Wolfgang Lotz’ Heilige Schrift, freilich auch Brinkmanns Rom, Blicke und W.G. Sebalds Werke im Zusammenspiel von Text und Foto, denn, nicht zu vergessen, gibt es in Unter Stunden auch einen das wörterlose Denken spiegelnden Teil mit Fotografien des Autors, und es gibt bei ihm einen Nachhall der performativen Schwingungen der Wiener Schule, einer Friederike Mayröcker und eines Ernst Jandl oder den Formulierungsfuror des bereits erwähnten Thomas Bernhard.

Gehen wir noch ein Stück weiter zurück, zu einem Nacheiferer Goethes und seiner Bildungsidee, so finden wir einen Autor, der sich in dieser modernen und postmodernen Ahnenreihe Striplings nicht vermuten ließe, ganz und gar unverdächtig des Avantgardismus, nämlich Adalbert Stifter. Es gibt eine Kernpassage in Unter Stunden, in welcher der Erzähler seinen ersten Moment des Auf-der-Weltseins zu rekonstruieren – also der Quelle von Schmerz und Euphorie seiner spezifischen Welterfahrung auf den Grund zu gehen sucht, auch wenn eine solche Urerinnerung, psychologisch betrachtet, ein Ding der Unmöglichkeit scheint. Dieser Versuch jedoch hat einen berühmten Vorfahren eben in Adalbert Stifter. Ich stelle beide Notate von der Urerinnerung des eigenen Daseins hier einmal gegenüber, zunächst der Anfang von Stifters aus dem Nachlass überlieferten Geburtsanamnese:

„Weit zurük in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzüken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang, und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die fest gehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein; denn mir ist, als liege eine sehr weite Finsterniß des Nichts um das Ding herum.“

Und nun Striplings Kontrafaktur:

Meine ersten Tage, meine ersten Weltwochen, die hinter Glas verloschen. In Berlin-Zehlendorf, der Geburtsstadt, als Säugling hinter gläsernen Wänden verschlossen; inmitten künstlich temperierter Konstanz: Brutkästen, die aufgereiht, im schummrigen Licht der Entbindungsstation, Atemgeräusche von sich gaben. Im Kabuff, rauchende Krankenschwestern, verglaste Flurenden, hinter den Scheiben ein regelmäßiges Piepen oder Notsignal, sobald einer der Schläuche seine Funktion aufgab & Vater, der die Muttermilch täglich von einem anderen Krankenhaus quer durch die Stadt herüberfuhr; ich versuche mir all dies zu vergegenwärtigen!, wann werde ich, alle Fäden einzufangen, richtig liegen?“

Furcht und Zittern dieser autobiografischen Urschrift, dieses Urzeitseismogramms von sich selbst, sind denkbar weit entfernt von der Selbstgewissheit der triumphalen ersten Sätze von Goethes Dichtung und Wahrheit: „Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.“ Doch geht es schließlich um die individuelle autobiografische Wahrheit, der Stripling so nah wie möglich zu kommen versucht. Der Sinn liegt dabei nicht in der offensichtlichen Bedeutung, im vermeintlich allen zugänglichen Bild von sich, sondern im Klang, in der Schwingung, in der amorphen Figur, der Signatur des Schreibenden, welche sich durch die Seiten zieht. Dennoch, fast nolens volens, ist Goethe dem Autobiographen Stripling fast wieder näher als ihm hätte lieb sein können, nämlich in der Schrift des von ihm ausgegrabenen Urgroßvaters und dessen Erinnerungen an die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Der Name dieses Urgroßvaters lautet Hermann Josef Eckermann. Es wird zwar sofort bestritten, dass dieser Altvordere genealogisch irgendetwas mit Goethes Vertrautem, dem wir die abgeklärten Unterhaltungen des Meisters aus Weimar zu verdanken haben, zu tun gehabt hätte, gleichwohl gilt: nomen est omen. Striplings Urgroßvater Eckermann ist mit seinen autobiographischen Erinnerungen weit davon entfernt, dem Nachgeborenen irgendwelche Lebensmaximen oder Weisheiten mit auf den Weg geben zu können, es ist eine Geschichte von unten, von Erniedrigung, Sprachlosigkeit und fremdbestimmter Lebenslast. Der eigene Urgroßvater scheint Stripling höchstens ad negativum eines lehren zu wollen, nämlich dass es nötig sei, sich aus diesem Teufelskreis des Scheiterns heraus zu befreien.

Robert Stripling tut dies mit der Schrift, er tut es mit Unter Stunden, er tut es mit den Schwingungen eines großen, auch immer wieder zweifelnden Entwurfs vom Ich, das sich aller Zumutungen der Welt zum Trotz seiner eigenen Stimme zu versichern versucht. Robert Stripling lebt gegenwärtig in dem schönen rheinland-pfälzischen Künstlerdorf Edenkoben. Erlauben Sie mir deshalb zum Schluss, einen Vers seines Freundes Yevgeniy Breyger zu zitieren, der ihm nun wirklich, anders als Werthers Wilhelm, kein imaginärer, sondern ein echter Gesprächspartner aus Fleisch und Blut ist, eine Zeile aus Frieden ohne Krieg, Breygers aktuellem, vom Kriegsbeginn in seinem Heimatland Ukraine provozierten Gedichtband: „ich sehne mich nach Edenkoben, da ist Robert, da ists schön“. Gerade in sich oft so unterirdisch anfühlenden Kriegsstunden, wie sie gegenwärtig andauern, bedarf es solcher Orte der Freundschaft, der Selbstverwirklichung und Selbstfindung, solcher Orte des Zuhörens und des Gesprächs, sei es über Bäume, über Grau- und Weißburgunder, über Kellerbier, Vogelspinnen oder Lüsterklemmen (auch die kommen im Roman vor). Ich bin glücklich, dass ich ihn habe ankündigen dürfen. Oder, um es noch einfacher zu sagen: Ich bin lich. Adjektivisch kleingeschrieben, ein Attribut der Freude, denn Lich großgeschrieben, das gehört nun zu Robert Stripling.

Letzte Änderung: 08.10.2023  |  Erstellt am: 07.10.2023

Die Jury hat den Licher Literaturpreis 2023, der mit 7000 Euro dotiert ist, mit der folgenden Begründung zuerkannt:
ROBERT STRIPLINGs Werk Unter Stunden. Album I unternimmt den literarisch anspruchsvollen Versuch einer poetischen Erkundung und ästhetischen Aneignung von Welt. Das brillant komponierte Mosaik besticht durch höchste sprachliche Konzentration und lenkt das Augenmerk durch das Inhaltliche hindurch auf die Kreativität und Musikalität der Sprache selbst. Sprachspielerische, auch witzige Einfälle, lyrische Wortkomposita, assoziative Verkettungen, Vor- und Rückblenden durch Zeiten und Räume, brechen vertraute Erzählmuster auf und lassen überraschend neuen Sinn entstehen. Dabei fungiert das beunruhigende Bild der Vogelspinne als ambivalentes Leitmotiv. Es verweist auf das schreibende Ich und sein Textgewebe wie auch auf ein existentielles Fremdsein und die mit dem Vater verknüpften Angstbilder der Kindheit.

Unter Stunden

Robert Stripling Unter Stunden

Album I
236 S., geb.
ISBN-13: 9783948336073
Reihe Prosa, Band 16
Kookbooks, Daniela Seel
Berlin 2022

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