Die Stimme hinter der Couch

Die Stimme hinter der Couch

Zum Tod des Psychoanalytikers Claus-Dieter Rath
Claus-Dieter Rath | © Privat

Die Psychoanalyse, die sich seit ihrer Gründung 1890 auf ihren drei Wegen, Theorie, Methode und Therapie, differenzierend entwickelte, brachte in ihrer Geschichte sehr unterschiedliche Schul- und Forschungsrichtungen hervor, deren führende Theoretiker und Analytiker oft in heftiger Konkurrenz miteinander standen. Bemerkenswert ist, dass das Seelenheil stets von den behandelnden Persönlichkeiten abhing und abhängt. Eine dieser Persönlichkeiten war der verstorbene Claus-Dieter Rath, an den Stephanie von Hayek erinnert.

Wie kann jemand, der einem so ins Leben geholfen hat, auf einmal tot sein?
Am 18. Dezember 2023 läutete mein Telefon. Die Stimme am anderen Ende sagte als erstes meinen Namen und dann: Claus-Dieter Rath ist tot. Eher zufällig war ich ans Telefon gegangen, die Lesung war zu Ende, ich stand und wartete auf meine Tochter, die sich in die Schlange für eine Unterschrift von Margot Friedländers Buch „Versuche, dein Leben zu machen“ angestellt hatte. Noch beschäftigt mit den bewegenden Worten Margot Friedländers – seid menschlich – und einer Frage, die ich gestellt hatte, sie betraf Tante Anna, ich komme noch auf sie zurück, hörte ich in meinem Ohr eine Nachricht, die ich nicht in der Lage war, zu verstehen, geschweige denn zu begreifen. Die Nachricht schien unwahr und unwirklich. Jacques Lacan hat das den Einbruch des Realen genannt. Mit diesem hatte ich und wir alle, die mit Claus-Dieter Rath in der Berliner Freud-Lacan Gesellschaft (FLG), einer psychoanalytischen Assoziation, zusammengearbeitet haben, es auf einmal zu tun.

Der Leser wird seinen Namen nicht kennen. Seine Arbeitsstelle befand sich hinter einer Couch in Berlin-Charlottenburg. Die Stimme war sein Instrument, die Technik, das Hervorbringen des unbewussten Sprechens mittels freier Assoziation – Sagen Sie – das Betonen eines Wortes im Gesprochenen, damit man etwas von dem hörte, was man ansonsten schnell wegschob.

Ich lernte Claus-Dieter Rath 2009 kennen, als ich von Straßburg nach Berlin zog. In Straßburg hatte ich eine Analyse begonnen, ohne zu wissen, was das eigentlich war und bedeutete und was überhaupt die Unterscheidung zu einer Psychotherapie war. Und was hieß Lacan-Analyse? Warum Sitzungen bezahlen, wenn es doch eine Krankenkasse gibt? Warum ging es nicht darum, mein Ich zu stärken, um damit besser gewappnet zu sein gegen die feindliche Außenwelt? Was hieß es als Subjekt, seinem Begehren unterworfen zu sein und ihm zu folgen? Was bedeutete diese von Lacan formulierte Ethik des Begehrens? Welche ungeheuerlichen und unbekannten Wünsche wollten mir meine Träume mitteilen?

Haben Sie denn darauf Lust?, fragte die Stimme hinter der Couch, als ich begonnen hatte, mich auf diesen Blindflug einzulassen, versuchte in diesem Dunkeln ein Lichtlein auszumachen, auf meinem Weg in die Freiheit und damit zu etwas Neuem. Oder: Das ist jetzt wieder die Klage, und als ich wieder einmal haderte und zögerte, soll ich oder soll ich nicht, hörte ich: Es geht jetzt also darum, die Ärmel hochzukrempeln. Ins Machen kommen. Beherzt zupacken. Im Hebräischen heißt es: Wir handeln und dann verstehen wir. Das steht im Gegensatz zum permanenten Abwägen des Okzidents. Im Handeln – das Sprechen gehört dazu – werden wir verstehen, wird sich etwas ergeben, setzt sich etwas frei.
Was interessiert Sie daran?, weckte er meine Neugier für meine Fragen, half mir ins Weiterdenken und zu verstehen, was ich, was meine Seele brauchte, um besser durch dieses Leben zu kommen, lustvoller und tiefer, aber nicht ohne Leiden, nicht ohne Widersprüche und Ambivalenzen. Ich wurde mir bewusster über die merkwürdigen Techniken, die ich mir angeeignete hatte, Rückzugspositionen und verschlossene Orte, über die Position, von der aus ich sprach, über das fremde Sprechen in mir, das zur Moral, zum Über-Ich gehörte und mich scheußlich niederdrückte.

Diese Moral.
Kurz nachdem ich von Claus-Dieter Raths Tod erfuhr, durchstrich mich ein weiterer Gedanke, dass nämlich dieser Tod denkbar ungünstig kommt. Denn er fällt in eine Zeit, die nichts mehr braucht als die Durchbrechung eines sich in zwei Blöcke zementierenden Diskurses: Opfer und Täter, gut und böse, Unterdrücker und Unterdrückte, Herr und Knecht. Diskurs mit Wächtern und Oberlehrern an jeder Ecke, die wissen und besser wissen, unbedingt und eindeutig recht haben. Diese Zensoren haben kein Ohr mehr, keine Risikobereitschaft, keinen Wagemut. Aber sie nehmen in der Öffentlichkeit einen großen Platz ein, diese Gefangenen der Rufe aus dem Über-Ich.
Wo ist das rettende Dritte zu finden, wenn nicht in der Sprache? Wenn nicht in Räumen, wie der psychoanalytischen Praxis, in denen etwas offengehalten wird, in denen etwas schweben kann, in denen es nicht um korrektes Sprechen geht, um dürfen oder nicht dürfen, sondern darum, überhaupt zu sprechen, alles zu sagen, was kommt – griechisch symptoma, mit dem, was kommt – und sich vom eigenen Gesagten überraschen zu lassen. Damit etwas anders wird. Menschlicher. Auch interessanter. Geistreicher.

„Gehöre ich dazu?“ lautete der Titel der letzten Konferenz der Freud-Lacan-Gesellschaft, die wir gemeinsam mit Claus-Dieter Rath kurz vor seinem Tod organisierten, in dem es um das familiäre und soziale Band ging, darum, was eine Gesellschaft zusammenhält, wie man sich an den Anderen wendet und was den Austausch belastet. Den Titel hatte er sich ausgedacht, er sprang ihn gleichsam aus der Praxis an, in der viele junge Menschen sich die Frage stellten: Wenn ich das sage, was werden die anderen von mir denken, werde ich dann ausgeschlossen, weggeklickt?

Tante Anna in Margot Friedländers Buch ist diejenige, die zwar das blaue Sofa der Familie aufbewahrt und gleich in ihr Wohnzimmer stellt, Margot aber nicht hilft, als diese sie aufsucht, weil ihre Mutter und ihr Bruder von der Gestapo verhaftet wurden und sie nicht weiß wohin. Tante Anna macht ihr sogar noch den Vorwurf, ihre Mutter im Stich gelassen zu haben, nicht mit ihr gegangen zu sein. Sie verkörpert so das unheilvolle politische System, verinnerlicht den gesetzten Ordnungsrahmen, lässt die herrschende Meinung sprechen, anstatt sich selbst ein Urteil zu bilden und zu helfen. Entfremdung vom Menschsein, von der eigenen Subjektivität. Walten des Über-Ichs, anstatt verbunden zu sein mit den eigenen Gefühlen und Werten. Solche wie Tante Anna sahen zu, wie Tante Marianne verschwand und ermordet wurde, Gerhard Richters Tante, die nicht in die Norm passte.

Sei menschlich, bedeutet eben nicht nur, entlang humanistischer Werte zu leben, nicht nur den Anderen in seiner Andersartigkeit zu sehen und anzuerkennen, sondern sich auch der eigenen menschlichen Natur mit all ihren Widersprüchen bewusst zu sein. Daran erinnert die Psychoanalyse. Dass neben dem Wunsch zur Zusammenarbeit und Zugehörigkeit sadistische Triebe im Menschen wohnen, dass Neid und Missgunst ebenso zum Menschen gehören wie Hohn und Willkür, der Wille zur Zerstörung und eine unermessliche Grausamkeit dem anderen Menschen gegenüber. Dass es immer wieder von Neuem darum geht, Institutionen und eine Kultur zu bauen, die diesen menschlichen Kräften entgegenwirkt und das Lebendige fördert. „Alles, was der Kulturentwicklung förderlich ist, arbeitet auch gegen den Krieg“, formulierte es Sigmund Freud in seinem Briefwechsel mit Albert Einstein „Warum Krieg?“.

In seinem letzten Vortrag, den er am 4. Dezember nicht mehr selbst halten konnte, weil ihm die Stimme aufgrund seiner Krankheit wegblieb, verwies Claus-Dieter Rath darauf, wie „erschreckend die aktuelle Regression auf primitive Vorstellungen von Identität ist, die unsere gesellschaftlichen Diskurse überschwemmen und auch noch als politisch wertvoll und emanzipatorisch erachtet werden.“
Claus-Dieter Rath war ein profunder Kenner der Texte Freuds und Lacans, interessiert an den Schriften Benjamins, Adornos, Marcuses, wie an der aktuellen Literatur, die sich mit kulturellen Deformationen etwa durch soziale Medien, technisches Gerät, beschäftigte und die er in seinen monatlichen Seminaren vorstellte. Er war keiner, der sich in den Vordergrund drängte. Das Publikum brauchte er zum Austausch seiner Gedanken, zur Entwicklung seines Denkens, zum Nachdenken über das, was seine Leidenschaft war: das Unbewusste und die Psychoanalyse. Menschen und ihr sonderbares Gebaren und Miteinander.
Es ist einer seiner großen Verdienste, dass er in seiner Leidenschaft nie nachließ, es vermochte andere damit anzustecken und in das Forschen zu bringen, dass er Fragestellungen entfalten konnte, kurz: Menschen half, ihr Leben zu machen.
Er war ein unermüdlicher Forscher und Fragenentwickler, dem es immer darum ging, das sagte er oft, etwas jenseits der Feuilletons zu formulieren mittels der Techniken der Psychoanalyse.
Der lien social, das soziale Band, die Bindung, schrieb er in seinem Vortrag, sei noch nicht genug erforscht worden. Da gibt es etwas zu tun, hätte er lächelnd und aufmunternd festgestellt. Seine Stimme und sein Humor, seine Art, die Dinge anzugehen, bleibt in mir und, ich glaube, in sehr vielen Menschen, mit denen er zusammenarbeitete, und das ist immerhin ein zartes, kulturelles Band, das wir auch in seinem Sinne, weiterstricken werden.
Sommerwind in die Betonsprachen atmen.

Claus-Dieter Rath wurde 1943 in Tübingen geboren. Nach dem Philosophie-, Germanistik- und Psychologiestudium wandte er sich soziologischen Forschungen zu, promovierte und kam zur Psychoanalyse. Er entdeckte Lacan und führte ihn über den Rhein, gründete verschiedene psychoanalytische Gesellschaften, wie die Fondation Européenne pour la Psychanalyse (FEP) und die Freud-Lacan-Gesellschaft psychoanalytische Assoziation Berlin. Er ist unter anderem Autor von „Sublimierung und Gewalt, Elemente einer Psychoanalyse der aktuellen Gesellschaft“, Psychosozial-Verlag, Gießen 2019. Sein letzter Vortrag ist auf der Homepage der FLG zu finden.

Letzte Änderung: 03.04.2024  |  Erstellt am: 03.04.2024

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Kommentare

Avi Rynicki schreibt
Liebe Stephanie, vielen Dank für diesen bewegenden und so genauen Text,der Claus -Dieter Rath würdig ist. Avi Rybnicki
Stephanie von Hayek schreibt
Danke, lieber Avi, das freut mich sehr.

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