Die Kraft zur Angst

Die Kraft zur Angst

Elisabeth Lenk zum Gedächtnis (1937-2022)
Elisabeth Lenk, 2002 | © Andreas Honneth

In der Unerschütterlichkeit, der Ataraxie, die den Epikureern erstrebenswert und in der standhaltenden Gelassenheit äußeren Widrigkeiten gegenüber als Glück erschien, hat die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Elisabeth Lenk das Potential einer kritischer Phantasie gesehen. Der Philosoph und Kunstkritiker Andreas Honneth setzt diesen Befund in Beziehung zu Adornos Aphorismus Nr. 128 in den Minima Moralia, in dem es um zwei Hasen geht.

Zur Schockerfahrung ästhetischer Aufklärung

So unerhört war der Verfremdungseffekt, als auch nur Bruchstücke eines Aphorismus aus Adornos Minima Moralia am Rande vorbeirauschenden Straßenverkehrs, bei Minustemperaturen, inmitten einer kleinen Schar Interessierter, zu vernehmen waren – nämlich anläßlich der Einweihung einer Gedenktafel am Wohnort seiner Kindheit, an der „Schönen Aussicht Nr. 9“, am 13. Dezember 2022 um 15:00 – , so exponiert und riskiert, daß schon wenige Satzfetzen durch solche Entstellung des Entstellten das Gehörte zur richtigen Einsicht zusammenrückten: der zu augenblicklich eingreifender Erkenntnis. In mir weckte sie, angesichts der zuvor vergegenwärtigten Schrecken, die der Familie Wiesengrund zustoßen sollten, Assoziationen an einen Brechtsong: „Obacht, gebt Obacht! /Dort ist ein Mann, der versinkt /Dort ist ein Geschrei um Hilfe /Dort ist eine Frau, die winkt /Haltet die Autos an, stoppt den Verkehr /Ringsum versinken Menschen und keiner schaut her /Könnt ihr denn gar nichts seh’n? /Hallo, für euren Bruder und nicht für irgendwen (…)“. Oder an den verzweifelten Aktionismus einer „letzten Generation“.

Wie aber reagierte Adorno angesichts solcher Schrecken? Der besagte Text erwies sich als das letzte von drei Teilen des Aphorismus Nr. 128, der den Titel „Regressionen“ trägt. Regressionen sind Rückfälle des Geistes in frühere Einwicklungsstufen, die von einem ‚starken Ich‘ als überwundene verworfen werden. Adorno aber rückt einen produktiven Aspekt solcher Rückverwandlungen in den Fokus seiner Reflexion, also eine Regression ins Mimetische, statt der reaktiv-mimetischen Regression der „pathischen Projektion“, wie sie für den Antisemitismus konstitutiv ist. Ausgangspunkt seiner Deutung sind Assoziationen, die das Kind Teddy mit den Wiegen- und Kinderliedern verband, die ihm zu Gehör kamen, und die, kommentiert im Licht der Erkenntnis des Erwachsenen, nun im kritischen Gehalt ihrer Wahrheit zu sich kommen. Der vor Ort gehörte Text gilt dem Echo, welches das Kinderlied „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen“ in ihm erweckte, nämlich jenem, damit „glücklich gewesen“ zu sein. Denn die beiden Hasen, „die sich am Gras gütlich taten“ als sie „vom Jäger niedergeschossen wurden“, liefen „von dannen“, „als sie sich besonnen hatten, daß sie noch am Leben waren“. Der Gehalt, der dem Emigranten Jahrzehnte später aufgeht, nach einem langen unbewußten Reifungsprozeß zu Bewußtsein erwacht, lautet als „Lehre“ solchen Glücks: „Vernunft kann es nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen.“ Als das daraus sich ergebende Verhalten wird die mimetische Identifikation mit den beiden Hasen empfohlen: „wenn der Schuß fällt, närrisch für tot hinfallen, sich sammeln und besinnen“, um zu entkommen. Schockerfahrung besteht nicht darin, den Schreck mit dem Bewußtsein zu parieren, um zur Tagesordnung überzugehen, sondern darin, daß der vor Schreck Erstarrte in Ataraxie innehält, um die Kraft des Gegners zu standhaltender Selbstbesinnung zu wenden. „Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet.“ Im dialektischen Umschlag von Adornos polarem Denken verwandelt der dem Schock Erlegene die Kraft des Gegners in die des Standhaltens, denn was wäre „Glück, das sich nicht mäße an der unermeßbaren Trauer dessen was ist“, der des „verstört(en) Weltlaufs“.

Elisabeth Lenk, ca. 1972 | © Foto: Privat

Wie im reduzierten Ruhezustand des Schlafes, zu dem die beiden Wiegenlieder das Kind hinüber geleiten, der imaginäre Raum des Traumes sich eröffnet, so besteht auch in der Schockerfahrung die schöpferische Kraft der Regression darin, daß sie das unbewußte Potential zu „kritischer Phantasie“ entfesselt. Es ist das Vermögen zur Bilderproduktion, wie es Elisabeth Lenk in ihrer gleichnamigen Essaysammlung, aber auch in ihrer Darstellung von Adornos Singspiel „Der Schatz des Indianer Joe“ thematisiert als eine unter dem Druck äußerer Zwänge ausgelöste „Rückkehr in die Höhle der Bilder“. Darin hat sie mit Adorno in striktem Gegensatz zu Freuds These vom Traum als Wunscherfüllung die Möglichkeit des Einzelnen erkannt, sich die Waffe kritischen Widerspruchs anzueignen und diese für eine zweite ästhetische Aufklärung, die der Leidenschaften und des Gefühls, fruchtbar gemacht. Anknüpfend an Benjamins Wiederentdeckung der Frühromantik und ihrer Übersetzung der Französischen Revolution ins Ästhetische hatte Adorno sie mit seinem Erstling, dem „Kierkegaard“, als eine „Konstruktion des Ästhetischen“ initiiert, der noch sein letztes Werk, die „Ästhetische Theorie“, gegolten hatte, das er, wie Goethe seinen Faust, als sein „Hauptgeschäft“ bezeichnete. An diese das Gesamtwerk bestimmende Thematik und seine an der Rettung des Nichtidentischen orientierte „negative Dialektik“ knüpft Lenk mit ihrer surrealistisch inspirierten Traumsoziologie an, um sie in ihrem Buch „Die unbewußte Gesellschaft“ ausgehend von seiner Genese aus archaischer Mimesis über seine Verdrängung durch die Geschichte bis zu seiner Wiederkehr in den Avantgarden der Moderne als eine Geschichtsphilosophie des Ästhetischen fortzuführen. Der Aphorismus „Regressionen“ trifft insofern paradigmatisch und zentral ins Schwarze von Adornos Kritik der durch einseitige Verabsolutierung instrumentell reduzierten Vernunft. Im Medium des allegorisch gebrochenen bzw. dialektischen Denkbildes, in dem das Lied „Zwischen Berg und vom tiefen, tiefen Tal“ und den zwei entronnenen Hasen entfaltet wird, das im Echo reflektierender Selbstverdopplung den Abgrund der Vernichtung überwindet, also durch „die Selbstbesinnung auf das Element des Wunsches, das antithetisch Denken als Denken konstituiert“ und „es zur Utopie (treibt)“ (Nr. 127: „Wishful Thinking“). Nur dank der Korrektur durchs Nichtrationale einer ihrer selbst bewußten Mimesis vermag die Vernunft den nichtlogischen Zweck aller Aufklärung, die Versöhnung des Individuums mit sich selbst, zu erfüllen – im Glück einer Einsicht, die, subversiv gegenüber aller Normativität, nur auf dem „Siedepunkt des Subjekts“ (auch hier sind Parallelen zwischen Adorno und George Bataille zu entdecken), in den Extremen exzentrischer Ausnahmesituationen, als das Ergebnis einer solchen ästhetischen Vernunftkritik zu finden ist.

Letzte Änderung: 08.01.2023  |  Erstellt am: 08.01.2023

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