Die Klugheit seines Herrn
Johanna Schopenhauer, Schriftstellerin und Mutter des Philosophen Arthur und der Schriftstellerin Adele Schopenhauer, veröffentlichte 1810 die wechselvolle Biographie des Sprachwissenschaftlers Karl Ludwig Fernow. In Heinrich von Kleists „Berliner Abendblättern“ erschien im Januar 1811 eine Besprechung des Buches. Der Rezensent war auch nicht unbekannt: Ludwig Achim von Arnim.
Johanna Schopenhauers „Karl Ludwig Fernow’s Leben“ bei Cotta, Tübingen 1810
Viele überrascht es, bei uns in Fernow einen Landsmann zu begrüßen; er gehörte, wie Winkelmann, Herder und Ritter zu der großen Zahl ausgezeichneter Talente, die in ihrem Vaterlande nicht die erwünschte Unterstützung fanden und deswegen dem Auslande ihre Dienste widmeten. Sein Geburtsort ist Blumenhagen in der Ukermark (geboren 1763 den 19. Nov.), wo sein Vater als Knecht auf dem Hofe des Gutsbesit-zers, des Hrn. v. Recker, diente. Das jüngste Fräulein war sein Pathe, die ihn im fünften Jahre zu sich aufs Schloß nahm, und ihn mit liebevoller Sorgfalt aufzog. Diesem Fräulein danken wir alles, was dieser schätzbare Gelehrte der Welt geleistet hat, wir stellen sie als ein nachahmungswerthes Beispiel den Frauen, die unter ähnlichen Verhältnissen leben, auf; der Uebergang eines ausgezeichneten Talents unter den Landleuten ärmerer Gegenden zu einer höheren Bestimmung ist ohne eine solche verbindende Mittelstufe fast unmöglich. Gutsbesitzer und Prediger vermöchten in dieser Hinsicht sehr viel, wenn nicht die eigenen Verhältnisse derselben durch Zeitumstände so drückend geworden wären. – Der Hofmeister jener Familie entdeckte zufällig, daß der kleine F. beim Herumspielen in einem Zimmer, worin er andre unter-richtete, manches besser behalten und begriffen hatte, er verwunderte sich und nahm ihn mit in die Lehrstunden. Die Herrschaft wollte für ihn auf der Schule sorgen. Er kam nach Pasewalk auf die Schule und wäre vielleicht glücklich seinem eigentlichen Berufe zum Gelehrten entgegengereift, wenn nicht eine kindische Liebhaberei an Kunstwerken, die ihn veranlaßte, die Kupferstiche aus den Büchern eines gewissen alten gelehrten H. Pistorius, der sie ihm anvertraute, auszuschneiden, ihn bei der Entdeckung zu einer Flucht nach Hause getrieben hätte. Wer das Stehlen alter Antiquare und Kunstliebhaber kennt, wird schon hierin seine Vorbestimmung dazu erkennen; die Verfasserinn erzählt die Geschichte so wahr, so natürlich; das Kindische, nur Halbbewußte wird einem ganz deutlich in der kleinen Missethat, und doch ist sie der Anfang von allem Verkehrten, Mühevollen und Nutzlosen in Fernow’s Leben. Denn wegen dieser Flucht ward er Apotheker in Anklam und von dem eigentlichen Studieren abgelenkt. Dort hatte er das Unglück, aus Spielerei mit der Flinte einen Jäger zu erschießen, was zwar durch die Klugheit seines Herrn verschwiegen blieb, wobei er aber den langewährenden Vorwurf aushalten mußte, den Nachfolger jenes Jägers im Dienste, mit demselben Rocke, an welchem das Loch sichtbar zugenäht war, wo die Kugel ihn durchbohrt hatte, häufig in der Apotheke zu sehen. Aus Furcht vor der militärischen Aushebung, von der er frei gewesen wäre (nach der damaligen Einrichtung unsres Landes), wenn er sich auf der Schule ausgezeichnet hatte, flüchtete er nach Endigung seiner Lehrjahre über die Grenze; in Lübeck fand er eine gute Anstellung; er machte die Bekanntschaft des Maler Carsten, der später zu Rom in seinen Armen starb; durch ihn ward seine Liebhaberei am Zeichnen zu etwas Bedeutendem ausgebildet, er lernte bald in Bleistift und in Pastell sehr sauber porträtieren, so daß er seinen Apotheker plötzlich mit der Nachricht überraschte, die Apothekerkunst gänzlich aufgeben zu wollen. Von seiner neuen Kunst, nebenher auch mit Poesie, beschäftigt, lebte er in Ratzeburg und Schwerin; eine Liebschaft zog ihn nach Weimar, er fand sich getäuscht, und ging zufällig nach Jena, wo ihn Rheinholds Vortrag auf sein eigentliches Wesen, auf seinen Beruf zum Gelehrten, aufmerksam machte. Noch kam er aber nicht zu diesem Erkenntniß, er wollte nur lernen, um ein Künstler zu werden; in dieser Hinsicht sorgten Rheinhold und Baggesen für ihn; eine Reise nach Rom, die seine Seele füllte, sollte ihn als Künstler ausbilden. Seine seltene Festigkeit im Entsagen und Sparen machte es ihm möglich, die Reise von Jena bis Bern mit 18 Rthl. zu bestreiten; er lernte dort als Vorbereitung Italiänisch, und reiste mit Baggesen über Wien nach Florenz; Verhältnisse trieben ihn nach Bern zurück; die milde Unterstützung des Grafen Burgstal machte es ihm endlich möglich, nach Rom zu gehen und dort ein Paar Jahre ohne Erwerb zu leben. Dort, in Rom, in dem Kreise vieler jungen Künstler, fühlte er zuerst, daß er zu alt sei, um etwas Bedeutendes in der Mahlerei zu leisten; er glaubte sich zu einem philosophischen Kunsttheoretiker bestimmt, hielt ästhetische Vorlesungen und schrieb in mehreren deutschen Journalen über die Kunst. Ganz allmählich entwickelte sich indessen sein eigentliches Talent, als gelehrter Sprachforscher; er hatte die italiänische Sprache bald mit einer Gründlichkeit durchdrungen, daß ihm selbst italiänische Gelehrte den ersten Platz als Grammatiker einräumten; dabei hatte er sich eine seltene Kenntniß ihrer Literatur erworben. – Durch so viele Umwege war er zu seinem Ziele gelangt, wohin er durch einen beendigten Schulunterricht auf der Universität vielleicht mit unmittelbarem raschen Wetteifer gedrungen wäre. Die Herausgabe seiner Grammatik führte ihn nach Jena, zugleich die Theuerung in Rom, wo er Frau und Kind (die ihm Rom geschenkt hatte) nicht mehr ernähren konnte; die verwittwete Herzogin von Weimar berief ihn als Bibliothekar nach Weimar, wo er allmählig die Herausgabe seiner Schriften besorgte, seine italiänische Grammatik, seine italiänischen Classiker, Winkelmanns Werke, seine römischen Studien, sein Leben Carstens u.s.w.; das Haus der Verfasserin seiner Biographie ward seine Zuflucht nach dem Tode seiner Frau und bei seiner eigenen, sonst sehr dauerhaften, aber durch einen starken Marsch auf der Rückkehr von Italien, geschwächten, Gesundheit.
Eine Pulsadergeschwulst war sein geheimes Uebel, die Aerzte verschwiegen es ihm; er ruhte nicht eher, bis er sein Todesurtheil in Scarpa’s Werke gelesen hatte; da ward er ruhig um sich, arbeitete so viel er noch vermochte und wurde eines Morgens todt unter seinen Büchern in der Stellung eines sitzend Eingeschlafenen gefunden (den 4. Dec. 1808). Die Freundschaft schenkte ihm in dieser Biographie ein dauerndes Denkmahl. – Möge es einem Geistigverwandten eben so schön gelingen, die mancherlei halbvollendeten Arbeiten, die sich im Nachlasse des Verstorbenen gefunden haben, zu beendigen. Hier nur eine gute Lehre zum Schluß:
Ich seh den Zufall jetzt mit Männern spielen
Wie Meereswellen mit dem leeren Nachen,
Da muß ich wohl des ersten Strebens lachen,
Der Arbeit Gluth will sich in Ruhe kühlen.
Doch seh ich dieses Kind im Dorf erwachen
Zur hohen Roma viele Jahre zieen
Die es als Mann erreicht, wo ihn vor vielen
Allein durchdringt die Gabe aller Sprachen.
Da fühle ich die Kraft im eignen Willen;
Der Zufall stürmet uns umsonst vom Hafen,
Der Steuermann belauert ihn im Stillen.
Er fesselt ihn, wenn müde Seelen schlafen,
Der Zufall muß ihm jeden Wunsch erfüllen,
Den Zufall macht ein froher Muth zum Sklaven.
In: Berliner Abendblätter No. 25 und 26 vom 30. Januar und 31. Januar 1811
Letzte Änderung: 22.06.2022 | Erstellt am: 21.06.2022
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