Die weichgezeichneten Impressionen, die die Rückschau auf die eigene Kindheit und Jugend verzeichnen, mögen gewöhnlich versöhnlich stimmen. Und ein Artikel im Internet über Ukrainer, die in der Pfalz wie Sklaven zur Zwangsarbeit ausgewählt wurden, kann die nostalgischen Bilder in ein anderes Licht tauchen. Peter Kern erinnert sich.
Als er noch ein Kind gewesen war, bestand seine ganze Welt aus dem Spatzenhügel, dem Taubenhof, der Biebermühle, dem Bärenfelsen, dem Bruderfelsen, dem Baumbusch, der Kanzel, der Hohl und dem Germerstal. Auf imaginierten Wegweisern standen diese Wörter, existent waren sie nur als gesprochene, im Dialekt. Dann wandelte sich ihm das Dorf seiner Kindheit in das enge Kaff seiner Jugend, und die Wegweiser verblaßten, bis auf zwei. Die beiden, der Baumbusch und die Biebermühle, verschmolzen die Heimat mit der Ferne. Mit dem Bambusch, wie er im Dialekt hieß, waren Busch, Buschtrommel, und Bambusrohr, das geheimnisvolle Asien also, assoziiert. Auch daß der Bruderfelsen aus dem Bambusch herausragte, war für den Jungen bedeutsam, erinnerte der Felsen ihn doch an die unverbrüchliche Bruderschaft mit dem im fernen Freiburg lebenden Franz.
Hinter der Biebermühle ging es einmal raus in die Welt. Die beiden Wirtshäuser des dem Dorf vorgelagerten Minidorfs, die Historische Biebermühle und die im Bahnhof, waren quasi die Vorboten dieser Welt. Die weite Welt war im Lied vom Hänschen klein besungen: Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein, heißt es da. Im Kinderlied kam ein Wohlgemut vor. An diesem Wohlgemut fehlte es dem Mann, wenn er in sein Heimatdorf zurückkehrte. War er auf Besuch bei der Mutter, gehörte ein abendlicher Gang in eins der beiden Lokale zwingend dazu, des von ihm so geschätzten heimische Biers, des Parkbräus wegen. Das Kaff seiner Jugend bekam gleichsam einen kleinen Kredit gewährt, den der Mann aber selbst versoff. Der Heimatbesuch fiel meist auf Ostern oder auf Pfingsten und dauerte nie länger als zwei Tage.
Seine Mutter war längst gestorben und sein Bruder Franz ebenso, da las der Mann über die Biebermühle im Internet. Ein Arbeitskreis Judentum im Wasgau hatte einen Artikel ins Netz gestellt. Dass es im Nazi-Reich dort ein sogenanntes Eisenbahnlager und ein Durchgangslager, ein DuLag, gab, stand dort zu lesen. Das DuLag, gebraucht man Dantes Topologie, gehörte demnach zum inneren Höllenkreis, dem das Eisenbahnlager knapp vorgelagert war. Für die Reichsbahn schuften und zerstörte Gleisanlagen reparieren, mussten zunächst französische und italienische Kriegsgefangene. Ab 1943 stockte die SS das DuLag mit 300 ukrainischen Arbeitskräften auf. Von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, ausgebildete Parteigenossen standen dem Lager vor. Einer vergriff sich an den Habseligkeiten der Gefangenen, ein anderer an den jungen Lagerinsassen, wofür er drei Jahre Haft bekam. Die Lagerleitung wechselte ständig, insgesamt sechs Personen versahen diesen Dienst in den vier Jahren, in denen das DuLag bestand.
Wie waren die ukrainischen Männer und Frauen ins hinterste Eck des deutschen Reichs gekommen? Die Lagerdolmetscherin, Frau Vera Matuchina, gab folgenden Bericht: „Wir lagerten, Tausende von Flüchtlingen, einige Tage in der Nähe von Kertsch (Ukraine, Halbinsel Krim) auf freiem Feld, als braun uniformierte Männer über Lautsprecher uns zum Arbeitseinsatz nach Deutschland aufforderten. Viele schöne Dinge wurden uns in Aussicht gestellt. So z.B. guter Lohn, ausreichendes Essen, bessere Kleidung, angemessene Freizeit, Kino und vieles mehr – und wer es wünschte, könne später unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein Siedlungshäuschen mit Garten bekommen! Trotz dieser Verlockungen waren nur wenige für den Arbeitseinsatz in Deutschland bereit. Die große Mehrzahl wollte in der Heimat bleiben. Nach wenigen Tagen ist die Sache jedoch ernst geworden. Angeblich sollen Deutsche ermordet worden sein. Dafür wurden wir verantwortlich gemacht und einige unserer Landsleute öffentlich hingerichtet. Daraufhin haben wir uns alle zum Arbeiten in Deutschland bereit erklärt.“
Was hat die Ukrainer dann im Gau Westmark erwartet? Zuerst das DuLag, das Durchgangslager, mit seiner Desinfektion und seinem drei Meter hohen Zaun. Aus diesem hinter dem Bahnhof gelegenen, vom Arbeitsamt Pirmasens verwalteten Ort herauszukommen, war aller Ziel. Um dem DuLag zu entkommen, musste man seine Haut zu Markte tragen, und diese musste einen Abnehmer finden. Eine Zeitzeugin schilderte freimütig, wie sie, von örtlichen NS-Größen geschickt, mit dem Fahrrad zur Biebermühle fuhr, um sich von einem neu eingetroffenen Transport die brauchbarsten Arbeiter auszusuchen. Nach dem Bericht von Anatoli Ivanov aus Perm, der sich mit seiner ganzen Familie 1944 im Lager befand, kamen meist Wirte und Bauern, die nach den stärksten Gefangenen Ausschau hielten. Die ukrainischen Männer und Frauen waren Kolchosbauer, Handwerker, Traktoristen oder LKW-Fahrer, also gut zu gebrauchen.
Glück hatte also, wer aus dem DuLag ins Eisenbahnlager kam. Dessen Baracken zogen sich am Waldrand entlang. Die Siedlung war dort entstanden, wo sich später das Elektrizitätswerk des Dorfs befand. Hier gab es zumindest Heizöfen und Wasserstellen. Das Lager bewachten bloß Männer der Wach- und Schließgesellschaft. Von den Bauern bekamen die Zwangsarbeiter ein paar Kartoffeln oder ein bisschen Getreide. Das Getreide zerrieben sie zwischen Steinen und backten sich Brotfladen, oder sie kochten sich ihren Kascha, einen dicken Mehlbrei. Im Lager wurde geboren und gestorben. Die Toten wurden auf dem Russenfriedhof oberhalb der Biebermühle begraben.
Mit dem Fortgang des Krieges errichtete die Organisation Todt im benachbarten DuLag immer mehr Baracken. Die Baumeister der Nazis kamen mit dem Barackenbau kaum nach. Über 1000 Menschen sollen sich in den beiden Lagern befunden haben. (Der Ort hatte zu dieser Zeit, zieht man die Wehrpflichtigen ab, etwa 4.500 Einwohner). Und die Hungersnot brach aus. Ab 1944 bekamen die hier Festgehaltenen pro Tag 200 Gramm Brot und eine Wassersuppe. Die Menschen starben vor Hunger. Sie kamen auch durch Fliegerangriffe ums Leben; die Bahnstrecke hinter der Westfront galt den Alliierten als ein strategisches Ziel. Nach einem solchen Bombenangriff wurden die Leichen auf einem LKW zum Russenfriedhof gekarrt und dort per Fallklappe in ein Massengrab gekippt. Auf diesem Friedhof liegen 500 ukrainische Tote. In den in die pfälzischen Berge getriebenen Bunkeranlagen konnten die Fremdarbeiter und ihre Familien keinen Schutz finden; beim Bau dieser Anlagen waren sie gleichwohl eingesetzt worden.
Eine Zeitzeugin wollte von Kannibalismus wissen. Kann man dem Glauben schenken? In Konzentrationslagern hatte es solche Fälle gegeben. Warum nicht auch auf der Biebermühle? Der Hunger war 1944 und ’45 so groß, dass in seinem Heimatort Hunde gebraten wurden, wusste der Mann; seine Eltern hatten es ihm erzählt. Seither heißen die Leute des Dorfs in den Nachbargemeinden die Hundefresser.
Zehn Jahre davor hat alles hier wunderbar ausgesehen. Die Biebermühle bekam ihren lange schon geplanten neuen Bahnhof. Der lag nun nicht mehr im Winkel zwischen den Gleisen, die links nach Zweibrücken und rechts nach Kaiserslautern führen, sondern, wie es sich gehört, am Rand der Gleisanlage. Das Gebälk des Bahnhofgebäudes sollte das Sägewerk der Gebrüder Samuel liefern, aber die waren den Auftrag gleich los, als die Nazipartei ans Ruder kam. Die NSDAP erfreute die Dorfbewohner zudem mit einem nach dem Vorort benannten Schwimmbad, welches die alte, bloß aus dem gestauten Dorfbach bestehende Badeanstalt am anderen Ende des lang gezogenen Dorfes endlich ablöste. Die Volksgenossinnen und -genossen nahmen das Geschenk der Partei dankbar an. Wer Kraft durch Freude tanken wollte, brauchte nicht den weiten Weg an die Ostsee auf sich zu nehmen, die Waldidylle mit Schwimmbad tat es auch.
Als der Mann noch das Kind war, hatte er hier, auf der Biebermühle, das Schwimmen gelernt.
Auszug aus einem Manuskript mit dem Arbeitstitel Text sucht Verlag
Letzte Änderung: 01.05.2022 | Erstellt am: 01.05.2022