Deutschland als transnationaler Gedächtnisraum

Deutschland als transnationaler Gedächtnisraum

In Gedenken an Doğan Akhanlı

„Herzensblindheit, vermengt mit dem Schlamm aus Leugnung und Lügen, produziert Mörder," schreibt Doğan Akhanlı in dem hier zitierten Beitrag über die Bedeutung von transnationalem Genozid-Gedenken. Der Ende Oktober verstorbene Autor hat gegen diese „Herzensblindheit" gekämpft, zunächst in der Türkei, wo er 1957 in der Provinz Artvin am Schwarzen Meer geboren wurde, und später auch in Deutschland, wo er 1991 politisches Asyl erhielt. Immer war Doğan Akhanlıs Widerstand einsam und gefahrvoll. Unbeirrbar ist es ihm jedoch mit seiner einzigartigen und besonnenen Stimme gelungen, den Blick über Grenzen hinweg zu öffnen und das Wissen über den Völkermord an den Armeniern zu vertiefen. Die besondere menschliche Größe des türkischen Intellektuellen zeigt auch der dem Buch „Verhaftung in Granada" entnommene Auszug.

Wenn ich nicht nach Deutschland eingewandert wäre, hätte ich mir wahrscheinlich niemals die Verbindung zwischen eigener Vergangenheit, eigenen Erinnerungen und der Vergangenheit, den Erinnerungen der Kurden, Armenier, Aleviten, Juden und Griechen ins Bewusstsein rücken können. Die Verbindungen und die Unterschiede. Ich hätte weiterhin dem Mythos der Gründung der Türkischen Republik Glauben geschenkt und hätte gezögert, das Massaker, das sich als Dersim 1938 in das kurdische Gedächtnis eingebrannt hat, als Völkermord zu bezeichnen. Es wäre mir schwer gefallen, die Kurden zu verstehen, die sich trotz der maßlosen, unbarmherzig geführten Assimilationspolitik immer weiter radikalisierten und dem Versuch, sie zu türkisieren, Widerstand entgegensetzten.

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich nicht ein einziges Buch über den Genozid von 1915 gelesen, das nicht auf Lügen basierte. Aber ich wusste aus eigener Erfahrung, dass die türkische Gesellschaft das Gedächtnis verloren hatte, dass sie sich das Erinnern verboten hatte. Die Zeit nach dem Militärputsch von 1980 lag nicht so lange zurück, aber es wurde sehenden Auges geleugnet, dass damals fünfhunderttausend Menschen festgenommen wurden, fast ausnahmslos Gewalt und Folter ausgesetzt und Tausende von ihnen getötet worden waren. Denn die Türkei hatte schließlich internationale Verträge unterzeichnet, die Folter untersagten. Und Folter war gesetzlich verboten. Also gab es keine Folter! Aber wir hatten sie überlebt, und auch wenn wir das Erlebte in den entlegensten Ecken des Unterbewusstseins vergraben und verdrängt hatten, wurden wir doch immer wieder von den eigenen Erinnerungen heimgesucht.

Das Land, in das ich einwanderte, und mein Geburtsland, Deutschland und die Türkei, hatten seit Jahrhunderten freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Während Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke in den Jahren 1836-1839 für die Modernisierung der Osmanischen Armee sorgte, hatte er auch eine bedeutende Rolle bei der Niederschlagung der kurdischen Aufstände gespielt. Während Armenier, Assyrer, Aramäer, Chaldäer und Yeziden niedergemetzelt wurden, hatte Deutschland geschwiegen.

Während 1938 in Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte brannten, wurden in Dersim Kurden umgebracht, verwaiste oder ihren Familien entrissene Kinder, insbesondere Mädchen, wurden hochrangigen Militärs zur Adoption übergeben, und Atatürk verschickte türkische Missionare in den Osten.

Die Vergangenheit beider Länder war voller Traumata. Doch trotz der jeweiligen historischen Schuld gab es grundsätzliche Unterschiede zwischen beiden Ländern. Während die Vergangenheitsbewältigung und die Erinnerungsarbeit in Bezug auf die eigene historische Schuld und Verantwortung das zweite, das schöne Gesicht Deutschlands war, beharrte die Türkei nach wie vor darauf, einen der beiden bestuntersuchten, bestdokumentierten Völkermorde dieser Erde, den an den Armeniern, für den sie Verantwortung trug, zu leugnen, und weigerte sich beharrlich, sich diesem historischen Unrecht zu stellen. (…)

Früher scheuten sich türkeistämmige Intellektuelle, auch die, die sich für eine Geschichtsaufarbeitung der Türkei einsetzten, davor, den Begriff Genozid bzw. Völkermord zu verwenden. Vor der Ermordung Hrant Dinks. Die Tatsache, dass die Vertreibung der Armenier vor der Unterzeichnung der Völkermordkonvention im Jahre 1948 stattgefunden hatte, wurde zwar als Hauptargument dafür verwendet, aber nicht ein einziger türkischer Historiker, ein einziger türkischer Jurist, nicht ein einziger der Politiker, die immer über alles Bescheid wussten, kam auch nur im Entferntesten auf die Idee, den Holocaust mit derselben Begründung ebenfalls nicht als Völkermord zu bezeichnen. Das war ja schließlich ein deutsches Verbrechen.

Dabei war der Begriff Völkermord in der Folge der Vernichtung der Armenier geprägt und erstmals 1944 vom polnischen Juristen Raphael Lemkin verwendet (und von ihm selbst mit genocide ins Englische übersetzt) worden. Die Prozesse im Jahre 1919 vor einem Istanbuler Militärgericht als Sondertribunal, bei denen der Begriff Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwendet wurde, hatten Lemkins Interesse bereits Anfang der Zwanzigerjahre geweckt. Die in Istanbul angeklagten Minister wurden schuldig befunden, die Türkei in den Ersten Weltkrieg getrieben und Massaker an den Armeniern verübt zu haben. Der ehemalige Kriegsminister Enver Paşa, der ehemalige Innenminister und Großwesier Talat Paşa, der einstige Marineminister Cemal Paşa sowie Mehmed Nâzım Bey, genannt Doktor Nazim, wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Bahaaddin Şakir wurde im Harput-Prozess zum Tode verurteilt. Die anderen Mitglieder des Ministerrates (das waren diejenigen, die 1920 von den Briten nach Malta gebracht wurden) wurden zu je 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Von den 17 ausgesprochenen Todesurteilen wurden drei vollstreckt: Urfalı Nusret, (in Urfa ist eine Grundschule nach ihm benannt), Kaymakam Kemal (in Boğazlıyan wurde ein Denkmal für ihn errichtet) und Hafız Abdullah Avni, dem Gendarmariekommandanten von Erzincan.

Die wahren Täter des Völkermords (unter ihnen Talat, Enver und Cemal Paşa) flohen mithilfe der Deutschen nach Berlin. In dem Jahr, in dem ein junger Mann namens Raphael Lemkin mit dem Jurastudium begann, wurde der Hauptverantwortliche der Armenier-Deportationen, Unterzeichner der Deportationsbefehle, Innenminister und Großwesir Talat Paşa, am 15. März 1921 in der Hardenbergstraße in Berlin von Soghomon Tehlirian erschossen.

Lemkins späterer Kommentar zu diesem Ereignis war: „Der Talat-Paşa-Prozess von 1921 war sehr lehrreich. Ein Mann, dessen Mutter beim Völkermord getötet wurde, Soghomon Tehlirian, tötet Talat Paşa. Sehen Sie, als Rechtsanwalt habe ich gedacht, dass ein Vergehen nicht durch das Opfer, sondern durch ein Gericht, durch nationale Justiz bestraft werden müsste.” Den Einfluss des Völkermords an den Armeniern auf die Formulierung der Völkermordkonvention beschreibt Lemkin folgendermaßen: „Das Leid der armenischen Männer, Frauen und Kinder, die in den Euphrat geworfen oder auf dem Weg nach Deir ez-Zor massakriert wurden, war der Wegbereiter zur Annahme der ‘Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes’.”

Raphael Lemkin verlor, mit Ausnahme seines Bruders und seiner Schwägerin, alle Angehörigen im Holocaust. Er starb 1959, völlig verarmt, in New York. Auf seinem Grabstein steht: Father of the Genocide Convention.

In der 256 Seiten umfassenden Urteilsschrift der Nürnberger Prozesse, bei denen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht gestellt wurden, sind der Vernichtung der europäischen Juden lediglich drei Seiten gewidmet. Das heißt, die Nürnberger Prozesse spielten bei der Geschichtsaufarbeitung Deutschlands keine nennenswerte Rolle. Der Begriff Völkermord wird in der Anklageschrift dieses Prozesses erstmalig verwendet. Es ist das erste offizielle Dokument über „den ersten Genozid des Jahrhunderts, bei dem 1,4 Millionen christliche Armenier auf Befehl der türkischen Regierung getötet wurden“. (Barth, 2006)

In den Sechzigerjahren wurde die Aufarbeitung der Vergangenheit vorangetrieben. Die These des Philosophen Walter Benjamin, der sich aus Angst vor der Auslieferung an die Nazis das Leben nahm, dass man nicht nur das Heute und das Morgen, sondern auch das Gestern verändern könne, wurde immer mehr bestätigt. Die Deutschen lernten Scham, lernten, dass man die Vergangenheit verändern kann. Doch war die Auschwitz-Scham so groß und so tiefgreifend, dass Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos 1970 nicht ausreichte. Man begnügte sich nicht mit Bitten um Vergebung, mit Demut oder Abscheu gegenüber Neonazis. Man begnügte sich nicht damit, rassistische Begriffe, Redewendungen und Ausdrücke bewusst zu vermeiden. Die Konzentrations- und Vernichtungslager Buchenwald, Dachau, Ravensbrück, Sachsenhausen, Neuengamme sowie ehemalige Gestapo-Zentralen wurden in Gedenkstätten und Museen umgewandelt. Auf Bürgersteigen wurden zum Gedenken Tausende Stolpersteine verlegt. Zum Schutz der Opfer und Überlebenden vor Beleidigungen wurden gesetzliche Maßnahmen ergriffen.

Trotz der unverzeihlichen Schwächen der Sicherheitsbehörden, die die NSU-Morde sowie ähnliche Übergriffe und Anschläge nicht verhindern konnten, hat die heutige Erinnerungskultur Deutschlands nicht nur für das Land selbst, sondern auch auf internationaler Ebene große Bedeutung. Die NSU-Morde sind gleichzeitig auch eine bittere Warnung, nicht zu vergessen, dass Erinnerungskultur nicht statisch ist, sondern ein Prozess, in dessen Verlauf jede Generation ihre Art, ihre Mittel der Geschichtsaufarbeitung immer wieder überdenken und weiterentwickeln muss.

Die Geschichtsaufarbeitung der Türkei ist eine andere. Eine Erfahrung der Leugnung, die eine wissenschaftliche Untersuchung wert wäre. Der Hass, mit dem in der Türkei nicht-türkischen, nicht-muslimischen Mitbürgern begegnet wird, erinnert an die Worte des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix: Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen! Denn die Juden waren lebende Beweise des Geschehenen, die die Deutschen ständig an ihre Schuld erinnerten. Mit hoher Sensibilität wurde Verantwortung übernommen, wurden wichtige Maßnahmen ergriffen, Mittel und Wege zur Wiedergutmachung zu finden und auf Opfer und Überlebende des Holocausts zuzugehen.

Währenddessen beharren diejenigen, die die türkische Identität überbewerten, seit hundert Jahren darauf, den Armeniern das Konzentrationslager Deir ez-Zor, das 1915/16 in der syrischen Wüste eingerichtet war, niemals zu verzeihen. Diese Herzensblindheit, vermengt mit dem Schlamm aus Leugnung und Lügen, produziert Mörder. Weil die größte Schuld unserer modernen Geschichte nicht aufgearbeitet wurde, weil kein Weg gefunden wurde, mit der Schuld umzugehen, bleiben nicht nur der Staat mit seinen Institutionen, sondern auch die Gesellschaft zu Gewalt und Mord verdammt.

Als Meine Frau im Jahre 1996 von einer Studienreise nach Auschwitz zurückkehrte, sprach sie tagelang von Mohnblumen. Unter den aus den entlegensten Ecken Europas deportierten und vernichteten Juden, Polen, Roma und Sinti war der Glaube verbreitet, dass die Gefangenen der Roten Armee, die dort umkamen, sich in Blumen verwandelten. “Wir haben”, fuhr Ayşe fort, “das, was wir selbst erlebt haben, viel zu wichtig genommen!”

Wenn ich nicht Zeuge dessen gewesen wäre, was ihr zugestoßen ist, hätten mich diese Worte nicht derart erschüttert. Ich wusste, dass man persönliches Leid nicht vergleichen kann, aber dennoch dachte ich, wenn eine Frau, die einen Monat lang gefoltert wurde, das eigene Leid gering achtet, dann musste dieser Ort Auschwitz auch für mich eine Bedeutung haben. Ausgehend von der Metapher der Mohnblumen begann für mich eine immer noch andauernde reale und fiktive Reise in die deutsche Vergangenheit. In Der letzte Traum der Madonna erzählte ich von meiner Reise, die in meinem Geburtsdorf endete. Ich besuchte alle Konzentrations- und Vernichtungslager, die heute Gedenkstätten sind. Es war ein weiter Weg. Ich sah mir alle Karten an, die es zu den Transportzügen und den Todesmärschen gab. Ein Beispiel dafür gibt Jorge Semprún in seinem autobiografischen Roman Die große Reise.

Ich fuhr nach Warschau. Ich sah mich im ehemaligen Warschauer Ghetto um. Auf der Hauptstraße des Bezirks befindet sich heute das Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos, vor dem Willy Brandt auf die Knie gefallen war. Als am 19. April 1943 der Widerstand begann, waren 90 Prozent der Ghetto-Bewohner längst im Lager Trebilanka vernichtet. Der Widerstand wurde am 16. Mai von den Nazis niedergeschlagen. Unter den vierzig Personen, denen die Flucht durch die Kanalisation gelang, war auch der Historiker Emanuel Ringelblum, der das Untergrundarchiv Oneg Schabbat gründete. Am 7. März 1944 wurde er in dem Versteck, in dem er mit seiner Familie und insgesamt 38 Anderen untergetaucht war, gefunden und kurz darauf erschossen. Das Archiv, das das Leben im Ghetto umfassend dokumentierte, bestand aus 30 000 Materialien aller Art auf Polnisch, Deutsch, Hebräisch und Jiddisch. Tagebücher, Theater- und Konzertkarten, Verpackungspapier der im Ghetto hergestellten Kaugummis, Plakate, Handzettel, Befehle und Instruktionen der Deutschen, Aktionen der Widerstandsgruppen, heimlich verteilte Flugblätter, etwa vierzig Zeitungsausschnitte und viele Fotos. Die erste der Milchkannen, in denen das Archiv versteckt war, wurde 1946 in den Trümmern Warschaus gefunden, die andere 1950 dank eines Zufalls. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der das Ghetto überlebte, schrieb Jahre später, dass die Widerständler im Ghetto sich den vierzigtägigen Widerstand der Armenier in Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh (erschienen 1933) zum Vorbild genommen hätten.

Ich begnügte mich nicht damit, Bücher über den Holocaust zu lesen. Ich kam kaum noch aus der Judeica-Abteilung der Kölner Stadtbibliothek heraus. Ich las Erinnerungen von Überlebenden, sah dokumentarische und fiktive Filme. Und zur Jahrtausendwende besuchte ich schließlich jenen Ort, der, so empfand ich es, nicht zu dieser Welt gehören sollte: Auschwitz.

Ein Psychologe wertete meine Beschäftigung mit dem Völkermord an den Armeniern, meine Solidarität mit den Kurden als Folge der Wut gegenüber der Türkei, meine Beschäftigung mit dem Holocaust hingegen als eine Ersatzhandlung für die Beschäftigung mit mir selbst. Mag sein, dass er recht hatte. Aber unabhängig von mir wurde Hrant Dink vor unserer Augen erschossen, wurde der Mörder als Held gefeiert, ließen sich Polizisten mit ihm neben der türkischen Flagge fotografieren, feierten sie den Mord mit dem Absingen der Nationalhymne. In Malatya wurden Mitarbeiter einer Bibel-Druckerei abgeschlachtet, in Trabzon wurde ein italienischer Mönch ermordet. Selbst nach dem Tod von 50 000 Menschen wurden den Kurden die grundlegendsten Rechte vorenthalten. Die Wüste von Deir ez-Zor hörte nach einem Jahrhundert nicht auf, Menschen, nun auch andere Ethnien, zu schlucken.

Es war politisch und moralisch nicht hinnehmbar, dass Deutschland, trotz der Erfahrung der Geschichtsaufarbeitung, die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern bis ins Jahr 2016 hinausgezögert hat. In diesem Geist wurde Cem Özdemir als junger Bundestagsabgeordneter für seine Aussage, Deutschland trage Verantwortung sowohl am Holocaust als auch am Völkermord an den Armeniern, heftigen Angriffen und Drohungen ausgesetzt. Die türkische Presse prangerte ihn an als “eine Schlange, deren Kopf man zertreten müsse”.

1999 war der Auftakt unserer Veranstaltungsreihe Genozid und Gedenken in Köln. Wir waren einige wenige Türkisch- und Kurdischstämmige, die bereit waren, über den Völkermord an den Armeniern zu diskutieren. Hülya Engin, die Übersetzerin dieses Buches, Berivan Aymaz, Mehmet Şahin, Hüseyin Erdem, Osman Okkan. Und ein paar andere, aber viele waren wir nicht. Eine Handvoll.

Das Interesse an den Veranstaltungen übertraf unsere Erwartungen bei weitem. Anhänger der MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung), Kemalisten, Perinçek-Anhänger (eine extrem armenierfeindliche, kurdenfeindliche, antisemitische Gruppe, von Verschwörungstheorien besessen, frühere Befürworter der Putschisten, anschließend der PKK, heutzutage auf Erdoğans Seite, die sich rühmen, Atatürks Soldaten zu sein) taten alles Erdenkliche, um unsere Veranstaltungsreihe zu verhindern. Ihre Provokationen fruchteten nicht. Die sanfte Unnachgiebigkeit der zweisprachigen Hülya Engin, die die großen Veranstaltungen moderierte, hatte eine abschreckende Wirkung auf die auf Krawall gebürsteten Besucher, sodass sie sich ab 2002 nicht mehr auf den Veranstaltungen blicken ließen. Bei dem Vortrag des berühmten Journalisten und Autors Hasan Cemal tauchten sie wieder aus der Versenkung auf, konnten aber nichts bewirken. Hasan Cemal, Enkel einer der Täter des Völkermordes, hatte das Buch Völkermord an den Armeniern geschrieben und darüber 2013 an der Kölner Universität vor tausend Zuhörern gesprochen.

Diese ewiggestrigen Leugner gründeten eine Talat-Paşa-Bewegung und veranstalteten im März 2006 in Berlin einen gleichnamigen Marsch. Sie zogen durch die Hardenbergstraße in Berlin, in der Talat Paşa, einer der Hauptverantwortlichen des Völkermordes 1921, erschossen worden war. Auch wenn sie mit “Wir werden Berlin niederbrennen”-Rufen versuchten, viele Menschen zum Mitmarschieren zu bewegen, merkten sie reichlich spät, dass Worte wie niederbrennen und vernichten in Deutschland, gelinde gesagt, mit Befremden aufgenommen werden. Ihre Kranzniederlegung für Talat Paşa unternahmen sie nicht an dem Ort seiner Ermordung, sondern auf dem Steinplatz gegenüber der Musikhochschule. Dies war der zweite große Fehler der Talat-Paşa-Bewegung. Denn am Platz ihrer Kranzniederlegung befand sich das erste in Deutschland errichtete Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Und die Aktion wurde verständlicherweise als Affront gegen das Mahnmal wahrgenommen. (…)

Diesen Erfahrungsschatz habe ich ausgewertet und im Jahre 2013 in einer Rede vorgeschlagen, Deutschlands Aufarbeitung der eigenen Geschichte mit der Aufarbeitung den Geschichten der Armenier, der Herero und der deutschen Kolonialgeschichte zu vertiefen.

Den Holocaust in Verbindung mit dem Völkermord an den Armeniern zu betrachten, bedeutete keine Relativierung der Schoah, sondern eine Erweiterung und Vertiefung der deutschen Aufarbeitung, die aber nicht mehr nur deutsch bleiben sollte. Denn die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Völkermorde, sollte Teil der Holocaust Education sein, und die Beschäftigung damit sollte aus dem nationalen Rahmen in einen transnationalen übertragen werden. Auschwitz verwandelte den Versuch, weiterhin Gedichte zu schreiben, zwar in Barbarei (Adorno), aber der einzige Weg, die Existenz von Auschwitz zu ertragen und sich zur Wehr zu setzen, besteht darin, trotz Auschwitz Gedichte zu schreiben.

Auszug aus Doğan Akhanlı, „Verhaftung in Granada”, KIWI, Köln 2018, vom Autor leicht geändert und gekürzt.

Mehr auf: www.textland-online.de

Literatur

Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 1996.
Barth, Boris: Genozid / Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorie, Kontroversen, München 2006
Gust, Wolfgang: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005
Guttstadt, Corry: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Assoziation A, Berlin 2008
Hofmann, Tessa (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talat Pascha. Im Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker. Mit einer Einleitung von Tessa Hofmann Tessa, einem Vorwort von Armin T. Wegner, Göttingen 1980.
Katalog “Die Wannsee Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden“, Berlin 2006
Kieser, Hans-Lucas; Schaller, Dominik J.: Völkermord im historischen Raum. In: dies. (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, S. 11-80
Kieser, Hans-Lukas: Die armenische Tragödie. In: Weltwoche 42/2006
Lemkin, Raphael: Genocide as a Crime under International Law. In: American Journal of International Law 1/1947, S. 145-151
Lemkin, Raphael: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, Washington, D.C. 1944

Letzte Änderung: 03.11.2021  |  Erstellt am: 03.11.2021

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