Der liebe Zufall

Der liebe Zufall

Gespräch mit Martina Walther und Reto Crameri
aus ALULA (Ausschnitt)

Eine ganze Etage für sich beansprucht die Sparte Kinder- und Jugendbuch auf der Frankfurter Buchmesse. Nach der Belletristik stehen ihre Umsatzanteile an zweiter Stelle. Der Bedarf ist enorm, und Auszeichnungen wie der Nachwuchspreis für Illustration, der von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendbuchliteratur vergeben wird, setzen Maßstäbe. Eric Giebel erfuhr im Gespräch mit Martina Walther und Reto Cameri aus der Schweiz Details ihrer Arbeitsweise.

Eric Giebel: Martina, Reto, ich habe euch bei der Preisverleihung zur Serafina 2023 – Nachwuchspreis für Illustration, ausgelobt von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendbuchliteratur, auf der Frankfurter Buchmesse getroffen. Eure Bücher Albertas Wunschladen (Martina Walther) und Alula (Reto Crameri) (beide: Kunstanstifter, Mannheim 2023) waren für den Preis nominiert. Welchen Impuls setzt diese Nominierung für eure weitere Tätigkeit? Werdet ihr mit neuen Büchern wieder zur Frankfurter Buchmesse kommen? Wenn ja, wie lange dauert es, von der ersten Idee bis zum fertigen, preiswürdigen Buch?
Martina Walther

Martina Walther: Solche Nominierungen sind natürlich supertoll. Erstens freut es mich, dass die viele und lange Arbeit an diesem Buch gesehen und wertgeschätzt wird, dass viele andere auch Freude haben an diesem Buch. Zweitens hilft es natürlich enorm, es in der Öffentlichkeit, den Medien noch sichtbarer zu machen und zu halten. Ja, ich denke, ich komme wieder zur Buchmesse in Frankfurt. Sicher dann, wenn mein nächstes Buch beim Kunstanstifter Verlag erscheinen wird – mehr dazu darf ich aber jetzt noch nicht verraten.
Bei meinen drei Büchern, die ich bis jetzt gemacht habe, dauerte es unterschiedlich lange. Albertas Wunschladen hat von der ersten Zeichnung im Skizzenbuch (Frau mit gelocktem Haar), bis zum Erscheinen des Buches im Januar 2023 insgesamt fünf Jahre gedauert. Dazwischen lagen andere Tätigkeiten wie Aufträge und mein Nebenerwerbsjob. Bei den anderen zwei Titeln ging es deutlich schneller vorwärts, da beide Bücher fix zu einem bestimmten Datum, weil Jubiläumsjahr, erscheinen mussten und die Autoren-Arbeit für mich wegfiel. Luna. Eine Nacht im Museum und Löwe aus Stein sind innerhalb von sieben Monaten entstanden.
Am meisten Zeit brauche ich zu Beginn, für die Entwicklung vom Storyboard, sprich für die Geschichte in Bild und Text. Das war der größte Brocken Arbeit bei Alberta, neben der detailreichen analogen Umsetzungsphase; die hat auch noch ihre Zeit gedauert.

Reto Crameri

Reto Crameri: Natürlich habe ich mich sehr über die Nominierung gefreut, und sie motiviert mich weiterzumachen. Und ja, ich arbeite bereits an einem weiteren Kinderbuchprojekt. Zu Hause habe ich einen kleinen, vierjährigen Leser, der mich inspiriert. Ich habe 2019 mit Alula begonnen. Während vier Monaten habe ich sehr intensiv daran gearbeitet und hatte dann eine Version, die ich zeigen konnte. Allerdings war ich mit der Verlagssuche am Anfang nicht sehr erfolgreich. Schließlich klappte es 2021 mit dem Kunstanstifter Verlag. Das Erscheinungsdatum war 2023 und damit in weiter Ferne. Da ich ohnehin nachbessern musste und mit meiner aktuellen Version nicht mehr zufrieden war, beschloss ich, das gesamte Projekt komplett neu zu gestalten und zu zeichnen. Es ist schwer zu sagen, wie lange ein Buchprojekt dauern wird. Denn es gibt immer wieder Unterbrechungen, weil Illustrationsaufträge und andere Verpflichtungen meist Vorrang haben. Aber diese Pausen sind auch nützlich, denn sie ermöglichen es einem, einen Schritt zurückzutreten und das Projekt mit neuen Augen zu betrachten. Und dann ist da noch die Zeit zwischen dem fertigen Buchprojekt und dem Veröffentlichungstermin.

Ihr habt an unterschiedlichen Hochschulen studiert. Martina, du an der Hochschule Luzern. Und du, Reto, an der Schule für Gestaltung Biel und an der Haute école d‘art et de design de Genève. Gelingt euch die Quadratur des Kreises? Könnt ihr in wenigen Sätzen deren Ausbildungsschwerpunkte benennen? Gibt es eher Gemeinsames oder je Schule so etwas wie eine markante Handschrift der Absolvent*innen?

Reto Crameri: Meine Studienzeit ist schon eine ganze Weile her. Die Schulen haben sich in der Zwischenzeit stark verändert. Den Studiengang Illustration gab es in Genf noch nicht, als ich dort Visuelle Kommunikation studierte. Doch das Studium war sehr frei, und ich habe die Möglichkeit genutzt, viele verschiedene Medien kennenzulernen und damit zu experimentieren. Nur gezeichnet habe ich damals wenig. Erst nach dem Studium entschied ich, mich auf die Illustration zu konzentrieren.

Martina Walther: Ich kann sagen, was ich mitgenommen habe aus dem Studiengang Illustration Fiction, ob das die offiziellen Ausbildungsschwerpunkte der Schule sind, weiß ich gar nicht.
Ich habe vor allem gelernt, wie ich mit Bildern oder mit Bildern und Text etwas erzählen kann. Welche kleinen Details in der Illustration erzählen was? Was für eine Körperhaltung der Figur unterstützt meine Aussage? Was zeige ich? Was zeige ich gerade nicht und überlasse es der Fantasie der Leser*innen?
Ich habe mir im Studium auch eine gewisse Arbeitsweise angeeignet: einfach mal drauflos zu arbeiten und noch nicht zu Beginn wissen zu müssen, wohin der Weg ganz genau führt.
So entsteht vieles intuitiv, alles probieren, umsetzen, was durch den Kopf schwirrt, ohne Wertung und ohne die Frage „Kann ich das am Schluss überhaupt brauchen?“. Ich schaffe mir so einen Fundus, eine Sammlung, aus dem, aus der ich nachher viel Inspiration, viele Ideen entnehme, aber auch eine Ordnung und Sortierung daraus entstehen lassen kann.

Albertas Wunschladen
Bitte stellt eure Arbeitsweise (Illustrationstechnik, Collageverfahren) an den beiden Büchern näher vor. Arbeitet ihr nach einem genauen inneren Plan oder spielt der Zufall beim Arbeiten eine große Rolle. Ist die Arbeit euch auch bezogen auf die Illustration Entdeckungslust?

Martina Walther: Ja, ich habe es schon angedeutet, der liebe Zufall hat bei mir eine große und wichtige Rolle! Mein Schreibtisch ist fast zwei Meter lang und hat Platz für ein A2 Papier quer. Ich zeichne und collagiere gerne mehr als nötig über die Bildausschnittsränder hinaus. Ums Blatt herum stehen Tassen mit Farbstiften, eine Kiste mit Filzstiften, Schachteln mit Papierschnipsel jeglicher Art, Kleber, Schere, Japanmesser, Weißleim und eine kleine Schneidematte. Es ist, als ob das Papier eine kleine Insel ist und ringsherum schwemmt es immer mal wieder brauchbare Sachen an. Beim Bilderbuch Albertas Wunschladen ließ ich die Bilder langsam und intuitiv wachsen, wechselte zwischen den Bildern hin und her, zeichnete das, was mir grad am meisten Spaß machte und überklebte gerne oder, wenn das nicht mehr ging, schnitt ich auch Sachen aus den Bildern heraus. Die Spuren, die dabei entstanden, waren mir wichtig, die blieben stehen und wurden nicht wegretuschiert. Mein Ziel ist eigentlich immer, möglichst viel analog auf ein Blatt zu bringen, um nachher möglichst wenig im Photoshop machen zu müssen.

Reto Crameri: Mein Ausgangspunkt war eine vage Idee. Daraus ein Buch zu machen, das eigentliche Abenteuer. Was am Ende so natürlich daherkommt, ist das Resultat eines langwierigen Arbeitsprozesses, bei dem ich viel ausprobiert und wieder verworfen habe. Viel Energie und Kopfzerbrechen ging auch in die Arbeit am Storyboard. Als ich dann endlich das Grundgerüst beisammen hatte, war der schwierigste Teil erledigt. Ich mag es, dieselbe Zeichnung mehrmals zu wiederholen und mich so langsam an eine Lösung heranzutasten. Die Reinzeichnung, also das Zeichnen in schwarzer Tusche, mache ich für jede Farbe separat. Dann füge ich die eingescannten Bildelemente am Computer zusammen und weise ihnen die jeweiligen Farben zu.

Alula
Beide Bücher enthalten, jedes auf seine Art, sehr viele Details, die bei Kindern Explorationsverhalten fördern. Es ist gar nicht leicht, die Welt für sich zu entdecken, wenn es so vieles zu entdecken gibt. Gelingt es euch, die Welt mit Kinderaugen zu sehen? Wenn ja, wie macht ihr das?

Reto Crameri: Das Tolle bei Kindern ist, dass sie sich eigentlich für alles interessieren können. Da muss man sie abholen. Dann wird es spannend.

Martina Walther: Ich selber finde es schwierig, mich in ein Kind hineinzuversetzen, um dann mit dieser Sicht ein Buch zu machen. Ich glaube, ehrlich gesagt, ich entwickle Geschichten und mache Bücher in erster Linie für mich, weil ich Freude und Lust dazu habe, mich gerne damit beschäftige, gerne erzähle, zeichne und gestalte.

Martina, Albertas Wunschladen ist nicht dein erstes Kinderbuch, aber das erste mit eigenem Text. Reto, dein Buch braucht keine Worte, sieht man vom Titel Alula ab, einem Palindrom, das das Konzept des Buches verdeutlicht, vorwärts und rückwärts betrachtet werden zu können. Welche Bedeutung hat es, eigene Texte zu den Illustrationen zu verfassen? Hätte Alula auch einen Text haben können oder stand die Entscheidung zum Silent Book von vorneherein fest?

Martina Walther: Mir als Bilderbuchmacherin bringt es viel Freiheit und Ideenreichtum, wenn ich Bild und Text selber erschaffen kann. Ich finde es interessant, mittels der Bild- aber auch der Textebene auf unterschiedliche Weise erzählen zu können. Bei einem meiner nächsten Buchprojekte werde ich das auch wieder so machen. Meistens schreibe ich schon beim Skizzieren Worte oder Sätze auf, die mir helfen beim Beschreiben, beim Formen der Welt und der Figuren, die sich darin bewegen. Was auch noch ein wichtiger Punkt ist: Wenn ich Bild und Text selber mache, gehört die Beteiligung an den Buchprozenten zu 100% mir. Ansonsten teilen sich Illustrator*innen und Autor*innen die Buchprozente und Lizenzverkäufe.

Reto Crameri: Erst im Arbeitsprozess stellte ich mir die Frage, ob es den Text überhaupt braucht. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass für dieses Projekt ein Silent Book ein guter Entscheid war. Das Storyboard so zu konstruieren, dass es auch ohne Text funktioniert, ist nicht ganz einfach und eine Arbeit für sich. Gleichzeitig Autor und Illustrator zu sein hat den großen Vorteil, dass man nach Belieben Ideen verwerfen und ändern kann. Ich hätte mich wohl nicht getraut, einen Autor, eine Autorin zu fragen, ob es wohl auch ohne seinen, ihren Text ginge.

Reto, du hast schon darüber gesprochen, dass die Verlagssuche schwierig war. Wie ist das Schweizer Verlagswesen in Sachen Illustration aufgestellt? Gibt es Verlage, die für Kinderbücher brennen? Wie war der Erstkontakt und die Zusammenarbeit mit Kunstanstifter in Mannheim?

Reto Crameri: In der Schweiz gibt es einige tolle Verlage für Kinderbücher. Den Richtigen für sein Buchprojekt zu finden, braucht Zeit und Durchhaltewillen. Und natürlich eine gehörige Portion Glück. Während Corona fand die Frankfurter Buchmesse digital statt. Und so habe ich mich für eine Mappenpräsentation per Videoschalte beim Kunstanstifter Verlag beworben. Damit kam die Sache ins Rollen. Feedbacks und Kritik waren sehr konstruktiv. Auch ließen sie mir viel Freiheit und gingen auf Wünsche wie Pantonedruck und Wendebuch ein. Eine wirklich tolle Zusammenarbeit.

Martina Walther: Mit Lena Anlauf vom Kunstanstifter Verlag hatte ich zum ersten Mal vor der Bilderbuchmesse in Bologna Kontakt. Ich hab ihr damals im Februar 2019 ein Mail geschrieben mit dem Storyboard von Alberta im Anhang, mit der Anfrage für ein Treffen. Dies ist der übliche Weg, um zu fixen Terminen in Bologna zu kommen und nicht in den ewig langen Schlangen warten zu müssen. So konnte ich ihr im März in Bologna mein geplantes Buch mit der Figur Alberta Brocante vorstellen. Im Sommer kam dann ein Mail vom Kunstanstifter Verlag, dass sie mein Buch gerne verlegen würden.
Die Zusammenarbeit mit Lena Anlauf und auch den anderen vom Kunstanstifter Verlag mag ich. Ich finde, wir verstehen uns inhaltlich und gestalterisch gut, unsere Meinungen und Geschmäcker sind auf einer Ebene, was ich finde, ist für mich ein wichtiger Punkt für eine inspirierende und anpackende Zusammenarbeit.

Gibt es in der Schweiz Kinder, die ohne den Schellenursli von Alois Carigiet (Illustration) und Selina Chönz (Text) aufgewachsen sind? Welche Bedeutung haben diese Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur für die zeitgenössischen Entwicklungen des Genres? Geht es darum, Vorbilder hinter sich zu lassen oder auf ihrem Fundament aufzubauen und Neues zu entwickeln, das zu zukünftigen Klassikern werden kann?

Martina Walther: Uiii, das weiß ich nicht, aber ich denke schon, dass nicht jedes Kind in der Schweiz den Schellenursli kennt, Ich selber habe die Bücher als Kind gekannt. Das lag nahe, weil meine Mutter Kindergärtnerin aus Graubünden ist. Sie war als Kind viel im Engadin (Schauplatz des Schellenurslis) bei Verwandten zu Besuch.
Die Frage zur Bedeutung dieser Klassiker für die zeitgenössische Entwicklungen dieses Genres, die kann ich nicht beantworten, da bin ich bilderbuchgeschichtlich zu wenig bewandert. Ich glaube aber, irgendwie haben mich die Bücher von Alois Carigiet sicher auch inspiriert. Ich habe sie jedenfalls als Kind und Erwachsene gerne angeschaut. Mich hat so vieles inspiriert und tut es immer noch, so dass dann schlussendlich einfach etwas Eigenes daraus entstehen will.

Reto Crameri: In der französischen und italienischen Schweiz kennen nur wenige den Schellenursli. Ich selber habe ihn in der Schule erzählt bekommen, weil ich in der Deutschschweiz aufgewachsen bin. Zuhause hatten wir das Buch aber nicht, obwohl mein Vater Bündner ist. Ich bin vor ein paar Jahren auf eine Ausstellung mit Druckgrafiken von Alois Carigiet gestoßen und habe ihn so neu entdeckt. Seine Bilder beschreiben das Bünderland auf eine sehr poetische, aber nicht minder authentische Art. Zumindest erwecken sie in mir Kindheitserinnerungen, von dieser Landschaft, in der ich viele Urlaube verbracht habe. Carigiet ist und bleibt ein hervorragender Zeichner. Vorbilder sind wohl dazu da, unser Auge zu schulen und zu inspirieren. Aber letztlich muss jeder Gestalter seinen eigenen Weg finden.

Letzte Änderung: 13.03.2024  |  Erstellt am: 13.03.2024

Alula

Reto Crameri Alula

Garten/Urwald
56 S., geb.
ISBN-13: 9783948743260
Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2023

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Albertas Wunschladen

Martina Walther Albertas Wunschladen

44 S., geb.
ISBN-13: 978-3-948743-03-1
Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2023

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