Der letzte Zeuge – ein Mensch in der Revolte

Der letzte Zeuge – ein Mensch in der Revolte

Boris Pahor starb im Alter von 108 Jahren
Boris Pahor, 2015 | © Claude Truong-Ngoc/Wikimedia Commons

Er gilt als der bedeutendste italienische Schriftsteller slowenischer Zunge und wurde beinahe 109 Jahre alt. Boris Pahor wurde als Slowene und k.-u.-k-Österreicher im damals noch habsburgischen Triest geboren. Nationalismus und aufziehender Faschismus setzten die Bedingungen in seinem Leben, das nun zuende ging. Volker Breidecker erinnert an den widerständigen Schriftsteller.

Mitten in der Innenstadt von Triest liegt die lebhafte Piazza Oberdan. Von hier aus verbindet eine streckenweise als steile Standseilbahn betriebene historische Tram die nördlichste Hafenstadt des Mittelmeers mit ihrem vorwiegend slowenisch besiedelten Hinterland. Fünf Kilometer nur liegen zwischen der Piazza Oberdan und der Endstation Opicina auf den Höhen des Karsts, von wo aus man nach nur wenigen Schritten einen grandiosen Ausblick auf die Meeresbucht von Triest genießen kann. Zugleich fühlt man sich an dieser geographischen Kreuzung von Ost und West, Nord und Süd wie in einem Observatorium mit Blick auf Europa und seine geschichtlichen Abgründe und Verwerfungen.

Zu Füßen dieses privilegierten Observatoriums, in einem Haus auf der Piazza Oberdan wiederum, wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit Boris Pahor der künftig wohl bedeutendste Triester Schriftsteller slowenischer Zunge geboren. Und wie so viele Menschen in dieser vielsprachigen europäischen Grenzregion, in der eine Peripherie an die andere stößt, konnte auch Pahor Zeit seines Lebens nie so genau wissen, auf welcher Seite von welcher Grenze er eigentlich stand oder stehen sollte. Doch wo immer ihm dies von den totalitären Mächten des vergangenen Jahrhunderts mit Gewalt und Zwang diktiert wurde, da rebellierte und revoltierte er, und zwar mit einer Intensität, die ihn bis ins 109. Lebensjahr jung, ungebrochen und lebendig sein ließ – ein Mensch wahrhaftig in der Revolte. Und ein passionierter Leser der Werke von Albert Camus war Boris Pahor ganz gewiss.

Doch zurück in die Geschichte, und von der Piazza Oberdan, die einer von Pahors autobiographisch gefärbten Romanen und Erzählungen den Titel geliefert hat (leider nur in einer miserablen deutschen Übersetzung des Jahrs 2009 zugänglich), auf den Schienen der Trambahn nochmals steil hinauf nach Opicina und zurück. Dort oben wie unten lebten Italiener, Slowenen, österreichische Deutsche, Juden, Armenier, Albaner, Serben und Kroaten jahrhundertelang vorwiegend friedlich nebeneinander. Dies änderte sich erst, als das Zeitalter des modernen Nationalismus seine blutigen Grenzen zog und verschob, und das vorige Jahrhundert auf dieser schmalen Schienenstrecke das grauenhafte italienische Wort „infoibare“ gebar: „Infoibare“ bedeutet auf Deutsch „in die Dolinen werfen“ und meinte ein Schicksal, das in den 1940er-Jahren hier unzählige Menschen verschiedener Nationalitäten und politischer Loyalitäten traf, als deren Leben aufgrund der ihnen unterstellten Andersheit in einer der trichterförmigen Höhlen des Karsts endete. Dazwischen verlief späterhin und noch bis in gar nicht so ferner Zeit der Eiserne Vorhang.

Unten, wiederum auf der Piazza Oberdan, erfuhr das junge Leben des Boris Pahor, seinen ersten traumatischen Einschnitt im Alter von nur sieben Jahren, als der Knabe zum Augenzeugen wurde, wie eine Meute bewaffneter und uniformierter Squadristen das an der Piazza gelegene Kulturhaus der slowenischen Minderheit der Stadt niederbrannte. Das war 1920, also noch vor der faschistischen Machtergreifung von Hitlers großem Vorbild Mussolini.

Das Bild jenes Fanals hatte Boris Pahor seither nicht mehr verlassen: Immer wieder flackerte es vor seinen Augen auf, am schmerzhaftesten beim Anblick des Rauchs aus den Krematoriumsöfen des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. Dorthin war der slowenische Widerstandskämpfer mit italienischem Pass von den deutschen Besatzern seiner Heimatstadt – SS und SD hatten ihr Triester Quartier in einem Gebäude ebenfalls auf der Piazza Oberdan aufgeschlagen – nach seinem Verrat durch slowenische Kollaborateure und seiner Verhaftung Anfang 1944 deportiert worden. Auf dem Rücken trug der als Arbeitssklave eingesetzte Insasse gleich mehrerer Lager die Markierung „ITNN“ als Nationalitätenkennzeichen, kombiniert mit der Abkürzung für „Nacht und Nebel“, was bedeuten sollte: ‚darf jederzeit erschossen werden’.

All diese Gewaltverhältnisse, auch die noch kommenden der zweiten Nachkriegszeit, überlebte Pahor wohl nur aufgrund seiner rebellischen Natur, die ihm insbesondere das ausbilden ließ, was ihm schon als Pennäler strengstens verboten war: die Pflege der slowenischen Muttersprache neben dem Erlernen der Sprache der anderen: Unter Berufung auf den exilierten florentinischen Dichter Dante Alighieri, dem Verfasser auch eines Traktats „Über die Volkssprache“ – das „Volgare“, wie es von Menschen gleich welcher Nation auf den Straßen und Plätzen gesprochen wurde –, geriet ihm die Sprache zur Leidenschaft des Kopfes und qualifizierte ihn auch als Lagerhäftling zum gefragten Dolmetscher.

Mussolini hingegen, der die Slowenen – ähnlich wie sein Nacheiferer Putin heute die benachbarten Ukrainer – mitsamt ihrer Sprache und Kultur „wie Wanzen“ ausrotten wollte, hatte unmittelbar nach seiner Machtergreifung von 1922 die slowenische Sprache aus den Schulen verbannen und ihren Gebrauch auch auf den Straßen und Plätzen strengstens verbieten lassen.

Sein Leben „an sieben Grenzen“, die ihm das körperliche wie geistige Überleben niemals leicht werden ließen, hat Boris Pahor in mehreren autobiographischen Romanen geschildert, vor allem jenen über die Schreckenszeit seiner KZ-Aufenthalte bis nach Bergen-Belsen, von wo er im Mai 1945, an Tuberkulose erkrankt, befreit wurde. Am bekanntesten wurde er in Deutschland – obwohl erst reichlich spät zu uns gekommen – mit der eindringlichen Erzählung seiner Wiederbegegnung mit dem elsässischen Todeslager Struthof in „Nekropolis“ (Berlin Verlag 2001, Taschenbuchausgabe 2016). Dieses Buch steht an der Seite der großen Erinnerungswerke von Ruth Klüger, Imre Kertész und Primo Levi.

In prägnanten Bildern gerät darin der nagende Zweifel an den Möglichkeiten der Sprache, Unvorstellbares darzustellen, zum Geburtshelfer einer Erzählkunst, die im gleichen Zug ihrer Schilderungen das Dunkel eines barbarischen Jahrhunderts dokumentarisch ausleuchtet und gewissermaßen zum Nachglühen bringt: „Auf der krustenartigen Haut, welche die Rippen umhüllt, malt das Licht der Glühbirne über der Eingangstür unruhige Reflexe, während der kalte Wind mit seinen Fingern auf der Harfe der Menschenbrust ein leises Requiem spielt, das die Zähne der Wölfe unaufhörlich zerreißen.“

In solch blitzlichthaft aufflackernden Erinnerungsbildern nähert sich Pahor in „Nekropolis“ dem äußersten Schrecken, den der Autor als politischer Häftling mehrerer Konzentrationslager durchlebte. In kunstvoller Verschränkung von Nähe und Distanz wählte er dazu die Perspektive eines im Kreise ahnungsloser Touristen im KZ Struthof verbrachten Sonntagnachmittags und erzählt vom Leben, Sterben und Überleben – mit demselben unstillbaren Lebenshunger, der den rastlosen Triestiner Schriftsteller slowenischer Zunge noch bis vor kurzem quicklebendig sein ließ: Dem Corriere della sera verriet Pahor noch im Februar diesen Jahres, anlässlich des Erscheinens eines seiner Bücher in verspäteter italienischer Übersetzung im renommierten Verlag La nave di Teseo, dass er sich auch „mit beinahe 109 Jahren noch jung“ fühle und seine „Freundin nach Florenz tragen“ möchte.

Schwieriger noch als den Deutschen – viele seiner Romane und Erzählungen erschienen in den vergangenen Jahren in Übersetzungen in dem Klagenfurter Kleinverlag Kitab – fiel es allerdings den Italienern, ein in ihrem Land und doch in einer anderen als der italienischen Sprache geschaffenes literarisches Werk anzunehmen, das zugleich von der Gewalt und dem Unrecht zeugt, dass der slowenischen Minderheit im Nordosten Italiens – obgleich Slowenen vor dem Anbruch des Faschismus in Triest noch die Bevölkerungsmehrheit bildeten – seitens ihrer italienischen Landsleute angetan wurde.

Es bedurfte im nunmehr neuen Jahrhundert erst eines publizistischen Donnerschlags in der römischen Zeitung La Repubblica, der die Verdrängung des Boris Pahor als ein politisches Skandalon für das ganze Land wie für seine Heimatstadt anprangerte. Seither war Pahor in Italien ständig präsent, auch in Deutschland auf vielen Literaturfestivals zwischen Berlin und Erlangen zugegen, während beinahe Jahr für Jahr ein neues Buch aus seiner Feder erschien. Auch Triest feierte den Jubilar endlich bei seinem hundertsten Geburtstag, wenn auch mehr als dem wackeren und ebenso beredten wie streitbaren älteren Herrn recht war. Auch da machte sich der Autor, der sich damals noch täglich und ohne fremde Hilfe auf öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegte, flugs aus dem Staub, um nach seinem Heim in der Karstgemeinde Prosecco und zu seiner gut geölten Remington zurückzukehren.

In den frühen Stunden des 30. Mai ist das Lebenslicht dieses Jahrhundertzeugen und großen Menschen in der Revolte, dem man sein biblisches Alter vor sprühender Resilienz kaum je ansehen konnte, für immer erloschen.

Letzte Änderung: 31.05.2022  |  Erstellt am: 31.05.2022

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