Der Autor, der sich bei allem etwas dachte

Der Autor, der sich bei allem etwas dachte

Der Schriftsteller Walter Scott
Sir Walter Scott, Porträt von Henry Raeburn, 1822

Ist der „Highlander“ ohne Walter Scott denkbar? „Waverly“ und „Ivanhoe“ reichen bis in unsere Zeit hinein. Der Schotte Walter Scott, der vor 250 Jahren geboren wurde, war Rechtsanwalt und der erfolgreichste europäische Autor seiner Zeit. Er war ein Aufklärer und Romantiker zugleich, schreibt Arno Widmann in seiner biographischen Skizze des Dichters, der den historischen Roman erfunden hat.

Vor 250 Jahren wurde der schottische Schriftsteller Walter Scott geboren

Am 15. August 1771 wurde Walter Scott in Edinburgh geboren. Die schottische Metropole war eine der Brutstätten der europäischen Aufklärung. James Buchan schrieb in seinem Buch „Capital Of the Mind – How Edinburgh Changed the World“: „Ein knappes halbes Jahrhundert lang, von der Rebellion in den Highlands im Jahre 1745 bis zur französischen Revolution 1789 regierte die kleine Stadt den Intellekt des Westens. Knapp fünfzig Jahre lang legte eine Stadt, die bekannt gewesen war für nichts als Armut, religiöse Bigotterie, Gewalt und Verfall, die geistigen Grundlagen der modernen Welt.“ David Hume, Adam Smith, William Robertson und Adam Ferguson waren europaweit berühmt für ihren intellektuellen Wagemut, ihre bizarren Angewohnheiten und ihre moralische Integrität. Noch 1755 hatten die französischen Aufklärer in ihrer Enzyklopädie verächtlich über Schottland geschrieben. Schon 1762 aber schrieb Voltaire: „heute lehrt uns Schottland die Regeln des Geschmacks in allen Künsten – von der epischen Poesie bis zum Gartenbau.“

Mit dem vor 250 Jahren geborenen Walter Scott wurde Edinburgh auch zu einem der Hauptorte der europäischen Romantik und die schottischen Hochebenen zu einer ihrer gefeiertsten Landschaften. Am Anfang der schriftstellerischen Laufbahn Walter Scotts steht ein kleiner Band mit dem Titel „Apology For Tales Of Terror“. Er enthielt unter anderem Scotts Übersetzungen von Goethes „Erlkönig“ und Bürgers „Lenore“. „German-mad“ sei er damals gewesen, schrieb Scott später. Schauerballaden waren eines der Transportmittel, mit denen die Aufklärung über sich hinaus wollte. Überall in Europa.

Hugh Blair, einer der Köpfe der schottischen Aufklärung, hatte bereits 1760 „Fragments of Ancient Poetry“ herausgebracht. Angeblich die Übersetzung von in den schottischen Highlands gesammelten Gedichten und Liedern. Blair hatte sich nicht selbst die Arbeit gemacht, sondern einen Hauslehrer namens James Macpherson mit ihr beauftragt. Der ging den einfacheren Weg und dichtete selbst. Unter dem Titel „Ossians Gesänge“ wurden die von ihm erfundenen schottischen Gedichte ein europäischer Bestseller.

Der englische Gelehrte Samuel Johnson (1709 – 1784) erklärte die Gedichte zwar sofort zu Fälschungen und in Paris sprach schon 1764 das „Journal des savants“ von Fälschung und Hochstapelei. Dem Erfolg des Ossian tat das keinen Abbruch. Das Verlangen nach Authentischem, nach Kunst, die nicht den klassischen Regeln folgte, war so riesig, dass es blind wurde und sich immer wieder befriedigte am Schreibtisch, gewissermaßen im Labor hergestellter künstlicher Authentizität.

Der junge Scott kannte die Auseinandersetzung. Er ging, obwohl er bei jedem Schritt gegen eine Lähmung angehen musste, in die Highlands und sammelte Lieder, Gedichte und Geschichten, die die Leute dort erzählten, gab sie heraus. Er bearbeitete sie auch. Später kritisierte er sich dafür scharf.

1800 gründete – unterstützt von Scott – James Ballantyne, ein alter Schulfreund, eine Druckerei und einen Verlag in Edinburgh. 1805 wurde Scott Teilhaber des Unternehmens. Bis zur Finanzkrise von 1826, die auch die Firma ruinierte, wurden Scotts Bücher alle dort gedruckt.

Nach einem Jurastudium wurde er zunächst Prozessanwalt, war dann später als Sheriff oder in anderen juristischen Funktionen tätig. Sein umfangreiches Werk war also gewissermaßen Produkt einer Nebentätigkeit. Allerdings wird sich die Relation von Haupt- und Nebentätigkeit immer wieder verschoben haben.

Seit 1805 war Walter Scott ein berühmter Lyriker. Bis im Jahre 1812 Lord Byron mit den ersten Gesängen von „Childe Harold’s Pilgrimage“ herauskam, war er womöglich der berühmteste zeitgenössische britische Lyriker.

1814 dann brachte der Lyriker den Prosaautor zur Welt. „Waverley oder So war’s vor sechzig Jahren“ heißt der Roman. Er erschien ohne Nennung eines Autors. In einem Vorwort begründet Walter Scott diese Anonymität, indem er die Überlegungen beschreibt, die Leserinnen und Leser darüber anstellen, wer wohl der Autor sein mag. Auf diese Fantasien will er nicht um einer scheinbaren Eindeutigkeit willen verzichten. Außerdem erklärte er: „Es ist jedenfalls gefährlich für einen Schriftsteller, sich fortwährend unter Leuten aufzuhalten, die seine Werke zum alltäglichen und familiären Gegenstande der Unterhaltung machen, und die notwendigerweise parteiische Beurteiler von Schöpfungen sein müssen, die in ihrer eigenen Gesellschaft entstanden sind.“

Wir deutschen Scott-Leser kennen ihn als Kinderliteratur-Autor. Wir lasen ihn in für uns zurechtgemachten Ausgaben. In denen geht es nur um die Story. Wir fühlten uns ein in Ritter Ivanhoe, in den die Stuarts wieder an die Macht bringen wollenden Waverley. Wir soffen die Geschichten weg, verfielen ihnen womöglich. Hingerissen von romantischen Konstellationen und Landschaften. Das ist alles richtig. Es ist alles Walter Scott.

Aber Walter Scott sind auch die Zugaben, auf die in unseren Ausgaben verzichtet wurde. „Waverley“ beginnt in der deutschen Ausgabe, die ich las, mit dem Satz „Vor sechzig, und wir dürfen heute wohl sagen vor mehr als hundert Jahren, nahm Edward Waverley, der Held der folgenden Blätter, Abschied von seiner Familie…”. In meiner Delphi-eBook-Ausgabe beginnt so das zweite Kapitel. Das erste erklärt Titel und Untertitel, informiert Leserinnen und Leser über Gedanken und Hintergedanken des Autors. Es macht uns damit vertraut, dass wir es mit einem Autor zu tun haben, der sich bei allem etwas denkt.

„Waverley, eine Erzählung aus anderen Tagen“ zum Beispiel hätte beim Leser völlig falsche Assoziationen geweckt, während „Waverley, or, ’Tis Sixty Years Since“ die Geschichte zeitlich genau verortet, zumal Scott noch erklärt, er schreibe das jetzt am 1. November 1805. Der Ausgabe ist noch eine Einführung Scotts aus dem Jahre 1829, ein Vorwort zur dritten Ausgabe und noch eine Ansprache an alle Leser beigegeben. Dazu kommen kurze erläuternde Fußnoten und längere beigefügte Anmerkungen.

Wir haben es mit einem Zwitter zu tun. Scotts Romane sind Meisterwerke der europäischen Romantik. Vollgestopft mit Balladen und Gedichten. Sie waren aber auch Produkte der europäischen Aufklärung. Die romantische Geschichte, der Roman, wurde flankiert von einem wissenschaftlichen Apparat. Von der ständigen Reflexion dessen, was der Autor da treibt. In der deutschen Tradition haben wir uns angewöhnt, diese Verbindung als romantische Ironie zu begreifen. Bei Scott habe ich den Eindruck, Aufklärung und Romantik gehen unmittelbar auseinander hervor. Sie beflügeln sich gegenseitig. Sie werden nicht vom Standpunkt einer übergeordneten Ironie aus, gewissermaßen spielerisch zusammengeführt, sondern der Autor schwimmt begeistert in beiden Strömen.

Noch etwas kommt bei der Lektüre der Originale hinzu. Viele von Scotts Büchern sind mehrsprachig. Manche Personen sprechen einen schottischen Dialekt. Die Texte werden dadurch vielschichtiger, interessanter. Der Autor spielt vierhändig und der Leser lernt es ihm nachzutun. Manchmal ist es auch nur ein Wort, das ihn weit entführt in tiefe Vergangenheiten. „Ken“ zum Beispiel ist im heutigen Englisch als Verb außer Gebrauch. Für den deutschen Leser aber ist das schottische Wort kein Problem. Es bedeutet kennen und wer nachschlägt, wird daran erinnert, dass kennen und können einmal dasselbe waren.

Als seine Firma 1826 pleite ging, machte Scott seine Autorschaft an allen Romanen, die als „Bücher des Autors von Waverley“ kursierten, publik. Bis dahin wussten selbst seine Kinder nicht, dass ihr Vater „Waverley“ und die anschließenden Romane geschrieben hatte. Der Edinburgher Pynchon bekam ein Gesicht. Er verzichtete auf Unterstützung – auch die des Königs – und zahlte Jahr für Jahr seine Schulden mit den Einnahmen aus immer neuen Büchern ab.

Seine Frau, ein Kind französischer Emigranten, starb 1826. Fünf Kinder hatte er mit ihr. Vier davon überlebten ihn. Bei seinem Tod am 21. September 1832 – Goethe war ein halbes Jahr zuvor gestorben – war fast wieder alles im Lot. Seinem ältesten Sohn – Walter, so hatte schon dessen Großvater geheißen – hinterließ er den Titel eines Baronet, aber nichts von seiner einmaligen Begabung.

(Der Beitrag erschien zuerst am 13.08.2021 in der Frankfurter Rundschau)

Letzte Änderung: 09.09.2021  |  Erstellt am: 05.09.2021

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