Das Dauerfeuer an Gedanken

Das Dauerfeuer an Gedanken

ANDREAS KOZIOL 8.1.1957–16.5.2023
Andreas Koziol | © Privat

Andreas Koziol war studierter Theologe, überlebte als Briefträger, Totengräber, Heizer und Hauslehrer in der DDR. 1990 änderte sich alles. Die Untergrundzeitschrift „Ariadnefabrik“, die er mitherausgegeben hatte, stellte ihr Erscheinen ein, und Koziol gründete mit sechs anderen Autoren den Berliner Autorenverlag „Druckhaus Galrev“. Vor allem war er ein wichtiger, eigensinniger Poet, den wir vermissen, bevor er uns bekannt werden konnte. Sein Mitstreiter Henryk Gericke gedenkt seiner.

Alles was gut ist im Grund muß verstehn
daß dies ein Grund ist zugrunde zu gehen*
 
 
Der Dichter Andreas Koziol hat einen Namen und ist doch ein unbekannter Meister. Nun, nach seinem Tod, wird sein Werk den Schriften der großen deutschen Dichter seiner Generation sowie ihrer Mütter und Väter zur Seite gestellt. Jedenfalls den Werken ostdeutscher Dichter. Jenseits dieser Grenzziehung ist Andreas Koziol nur wenigen Lyrik-Adepten bekannt.

Der Name Andreas Koziol steht an prominenter Stelle im Register der künstlerischen Gegenkultur Ostberlins in den 1980er Jahren. Als Dichter und als Mitherausgeber der eigenmächtig verlegten Literaturzeitschrift Ariadnefabrik war Koziol Teil eines losen, doch weitgehend in sich geschlossenen Lyrikzirkels von formvollendeten Systemsprengern. Als Verteidiger von Umgangsformen blieb er außerhalb dieses Kreises, eine Außenstelle, die gewissermaßen im Zentrum stand. Dieser nachdenkliche Moralist – der nicht im Verdacht steht, je ein Moralapostel gewesen zu sein – schien selbst innerhalb einer Schar von Outsidern noch eine singuläre Erscheinung. Die Poesie Koziols schwamm nicht gegen den Strom, sie kreuzte lieber mit den verschiedensten Strömungen. Ihre Zeilen waren Lebensnerven, welche durch die Tapetentüren von Innenwelten führten. Dort begegneten sie den Geistern einer im ideologischen Strohfeuer verbrannten Sprache, welche als Zunder für subkulturelle Gegenfeuer zum Leuchten gebracht wurde. Andreas Koziol wusste ein Kaderwelsch ins Sibyllinische zu wenden, so ging der sozialistische Realismus in einen quasi-sozialistischen Spiritismus auf, der durch jede Formalismusprüfung gefallen wäre. Vielleicht war Andreas Koziol der letzte Barockdichter, seine Poesie ein Strauß an Stilblüten, deren Artenvielfalt er in Reime band. So tarnte sich eine avantgardistische Diktion mit Tradition in einem Stoffwechsel aus Phrase und Paraphrase, unterschwellig überzogen von einer subkutanen Ironie, welche um ihre Melancholieanteile wusste, denn der Schelm hinter allem war kein trauriger Clown.

Diese Poesie ging auf die Suche nach dem Leben und verzweifelte mehr und mehr an der steten Ankunft in der bloßen Existenz, ein „innerer Amoklauf des höheren Selbst“** bei aller „Mordsfreude am Dasein“. Andreas Koziols wachsende Resignation rührte nicht allein aus einem Irresein an den sozialistischen Verhältnissen. Sein „Generalverdruß“ ergab sich ebenso durch das ausbleibende Klopfen der Freunde an die Tür des eigenen Seelenhaushalts, an die der Dichter seine Thesen schlug. In den 1980er Jahren leuchteten zwei einander ausschließende Begriffe im Milieu auf, die so etwas wie diskursive Fixsterne waren, aber wohl doch eher modisch blinkten. „Das Schweigen“ kokettierte wortreich mit dem Verstummen, „Das Gespräch“ stand wiederum da wie ein stummes Idol. Beide Begriffe schienen in den 1980er Jahren im subkulturellen Diskurs wie in Stein gemeißelt, erwiesen sich für Andreas Koziol jedoch als in den Sand geschrieben. Das Gespräch wurde ihm zum Synonym eines Schweigens und somit zum Thema seiner Dichtung. Sicher, Andreas Koziol hatte hohe Ansprüche, die ihm als Mindeststandards galten, doch manche der von ihm Angerufenen überfordern mussten oder einfach nur kalt ließen, da sie sich schlicht für andere Themen erwärmten. Allerdings war das Gefühl, „Das Gespräch“ wäre korrekter mit „Das Schweigen“ untertitelt, umso verheerender, da es eben nicht ein Schweigen der Entsagung, sondern für Andreas Koziols Begriff eines der „Taubheit“ war, die den Coolnessgesetzen der Szene entsprach, deren Paragraphen er allerdings als destruktiv empfand: „In den 60er Jahren konnte ein positives Urteil über ein neues Gedicht noch so lauten: ‘Das ist wahr.’ In den 70ern hieß es bestenfalls noch: ‘Das ist gut.’ Und in den 80ern war ein: ‘sympathisch’ schon die höchste verleihbare Anerkennung.“ Die Sprachlosigkeit innerhalb seines Dichterkreises empfand Andreas Koziol vielleicht als co-abhängig von einer Sprachlosigkeit des Systems, dessen Heraldik einer „Partei der abgehackten Hände“ das drastische Symbol für einen vorgetäuschten Dialog abgab.

Dieser Eindruck drängte sich Andreas Koziol umso verstörender auf, da zwei hauptamtliche Protagonisten der Prenzlauer-Berg-Szene als Ministranten der Staatssicherheit enttarnt wurden. Ihre oft zur Aufführung gekommenen Namen sollen hier aus Gründen der Pietät (und zwar gegenüber Andreas Koziol) ungenannt bleiben. In diesem Zusammenhang hat nur das überreizte Wort Trauma seine Berechtigung. Die Staatssicherheit verfolgte Andreas Koziol als der familiäre Schatten über seiner Kindheit, sie stalkte ihn als nicht passgenau im Musterstaat, als Mitherausgeber der Ariadnefabrik und später durch die Verklappung der geöffneten Dossiers in den Fluss seines weiteren Lebenslaufs – ein lebenslanger Schrecken, dem noch die Gedanken des Sterbenden galten. Wer heute noch den Verrat weniger an vielen relativiert und glaubt, der schmutzige Schnee von gestern wäre inzwischen irgendwie abgetaut – der hätte Andreas Koziol in den immer wiederkehrenden Momenten erleben sollen, in denen er sich über die seelische Verwahrlosung der Denunzianten verwunderte wie über eine Verletzung, die der tödlich Getroffene erst mit Nachlassen des Schocks wahrnimmt. Dabei gilt es, Spitzel von Spionen zu unterscheiden. Die Spione der 60er und 70er Jahre übten Verrat, in der Illusion einer Weltanschauung zu dienen. Die Spitzel aus Andreas Koziols Generation übten Verrat nur noch unter dem Primat ureigenster Interessen. In ihrem Leugnen setzte sich jenes einst postulierte Schweigen auf entlarvende Weise fort.

Als Reaktion ging Andreas Koziol in den nächsten Gesprächsbedarf und kaufte viel Papier. Es reichte für Jahrzehnte; er legte Blatt auf Blatt, schrieb Gedichte, Aufsätze und Briefe, er suchte das Gespräch mit einigen der ihm teuersten Dichterkollegen. Es kamen keine Antworten, dafür vereinzelt Eingangsbestätigungen. In den beziehungsräumen war der ofen aus, um eine Gedichtzeile Koziols abzuwandeln. Durch den Grund der späten Gedichte sickerte immer wieder der Verlust des Gespräches; „der verwaiste Stoß nie abgeschickter Briefe“, „meine Selbstgespräche“, „Fragen, die niemand mehr stellt“, „Schweigen ist ein Spiel, das ich verliere“, „Ich schreibe für ein Dutzend leerer Stühle“, „Wortsalat, der schmeckt nach Schweigegeld“, „Sprache vom feinsten … Sprache vom Feind. Du hast geweint und warst nicht gemeint.“ …

Das Gespräch war endgültig verstummt. Als Resultat des Schweigens suchte Andreas Koziol in seinen Texten vermehrt den Dialog mit der Natur. Er verschrieb sich dem Einfachen, das so schwer zu machen ist, und erwies sich als virtuos. Diese Fähigkeit bleibt nicht nur eine Frage des Handwerks. Sie bedarf zunächst einmal charakterlicher Voraussetzungen, unter anderem einer Entsagung gegenüber vielem, das verführt. Auch Veröffentlichungen konnten ihn kaum noch verführen. Wozu auch publizieren, wo doch die Stimmen seiner Bücher ungehört und ungelesen wie „Schiffe in Not“ nach anderen Schiffen riefen? Sein erstes Buch „mehr über rauten und türme“, 1991 im Aufbau Verlag nachgereicht, wurde vom gesamtdeutschen Organismus abgestoßen und geschreddert. Seine weiteren Bücher kamen im Literaturbetrieb nur bedingt an oder nie. Zwei Spitzel genügten, um eine Generation von Dichtern nachhaltig zu beschädigen. Kaum ein Verlag oder Feuilleton wollte sich an den Autoren des Prenzlauer-Bergs verbrennen, erst recht nicht, nachdem Wolf Biermann ihre Literatur als Konstrukt der Staatssicherheit denunzierte. Wenigstens tat Biermann dies unter Klarnamen, der Effekt der Zersetzung war derselbe wie noch Jahre zuvor.

In einem letzten Gespräch, den Tod bereits vor halb geschlossenen Augen, sagte Andreas: „Du kannst mich alles fragen. Ich verstehe alles und sehe nichts…“ Rückblickend meinte er, die bange Frage nach einem erfüllten Dasein hätte er nie verstanden. Sein Dasein sei übervoll gewesen und es schien so gemeint, dass das Dauerfeuer an Gedanken zur Geißel von Naturen wie der seinen*** wurde. Sie zielten nie auf ein Weltbild, denn Andreas Koziol hatte ein Bild von der Welt. Nur, seine Welt drehte sich gegen die Erdachse. Seine Art, zu denken, war mindestens originell, opferte jedoch nie den Sinn für ein Bild, dabei sprach und schrieb er in Bildern. Mit diesem Dichter ist etwas gestorben, das zwar an das Leben des Toten gebunden bleibt, aber über dieses eine Leben hinausweist. Denn der Dichter Andreas Koziol zählt zu den Menschen, deren Tod eine Welt mit sich reißt.
 
 

* aus „Über die Guten“, Andreas Koziol „Gedichte“, Das Zündblättchen 92/Heft 2, Edition Dreizeichen Meißen, 2019
** Alle Zitate von Andreas Koziol
*** nach Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Letzte Änderung: 25.05.2023  |  Erstellt am: 24.05.2023

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Kommentare

Regina Ray schreibt
Ich kannte den Dichter nicht. Und auch nicht die DDR aus eigener Anschauung. Um so dankbarer bin ich für diesen Nachruf von einer Sorte, der sich nicht scheut und von deren Art es mehr geben sollte.

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