Auf Madagaskar und anderen Inseln des Indischen Ozeans gab es nur wenige oder keine Kinderbücher, weil die Kaufkraft dafür nicht reicht. Und es gab viele Künstler, die ihre Bilder nicht verkaufen konnten. Im Gespräch mit den Verlegern Sophie Bazin und Johary Ravaloson von der Editions Dodo vole erfuhr der Schriftsteller Eric Giebel, wie diese beiden Missstände zur Gründung eines besonderen Verlages führten.
Der Name des Verlags erinnert uns daran, dass die Dodos ausgerottet wurden
Eric Giebel: Die Editions Dodo vole wurde 2006 von Ihnen beiden gegründet. Was war der Impuls zur Gründung des Verlags, welche Hindernisse gab es, welche Förderungen, um ein so hochwertiges Programm zu formen, wie Sie es auf der Frankfurter Buchmesse 2021 als Teil des Einladungsprogramms präsentieren konnten?
Sophie Bazin:
Das Verlagshaus entstand aus der Idee heraus, die Arbeit von bildenden Künstlern durch Kinderbücher bekannt zu machen. Ausstellungskataloge sind teuer in der Herstellung. Und meistens lesen die Leute die Texte nicht, die Kataloge landen ganz unten in der Schublade. Wir lebten zu der Zeit auf La Réunion, unser Kind war klein und wir bemerkten bald, dass Kinderbücher immer offen im Haus herumliegen. Die Abbildungen darin wurden uns schnell vertraut. Wir kannten viele bildende Künstler um uns herum, die Schwierigkeiten hatten, ihre Bilder über die Insel hinaus bekannt zu machen. Wir entwickelten die Idee, eine Vollkarton-Kollektion zu erstellen, um ihre Arbeit zu präsentieren. Die Hindernisse bestanden vor allem darin, die Bücher so zu gestalten, wie wir sie uns vorgestellt hatten. Wir haben versucht, die ersten beiden Titel in La Réunion zu drucken. Wir arbeiteten mit einem Kartonhersteller zusammen, der Verpackungen für Joghurts herstellt, weil örtlichen Druckereien keinen Karton verarbeiten. Wir waren gezwungen, eine Spiralbindung zu verwenden, was insbesondere für Mediatheken ein Problem darstellte (der Buchrücken sagt nichts über das Buch aus, wenn es im Regal steht). Schließlich haben wir in Italien eine Druckerei gefunden, die ausschließlich mit Karton arbeitet. Dort hat sich die Qualität deutlich verbessert. Unser größtes Hindernis ist die Verbreitung der Bücher, denn sie sind schwer und die Postgebühren hoch. Wir wussten von Anfang an, dass unsere Bücher notwendig, nützlich, aber nicht unbedingt profitabel sein würden. Wir suchten für jedes Buch nach Mitteln, um einen qualitativ hochwertigen Druck zu finanzieren. Da die Künstler im Allgemeinen nicht sehr bekannt sind, dauert es länger, bis die Alben verkauft werden, aber wir sind aufgrund der Partnerschaften weniger abhängig von den Verkäufen. Für Künstler von der Insel La Réunion haben wir Hilfe von der Region und seltener vom Staat erhalten. Für Künstler aus Madagaskar halfen private Sponsoren. Ein Titel wurde von der französischen Botschaft unterstützt. Auch haben wir haben begonnen, nach Kofinanzierungen durch Abonnements und Vorbestellungen von Büchern (Crowdfunding) zu suchen. Anschließend haben wir das Projekt Dodo bonimenteur entwickelt, einen Austausch zwischen Schulen im Norden und im Süden, und für dieses Projekt erhielten wir regelmäßig Unterstützung von der Region Normandie. Gelegentlich haben wir auch Projekte mit dem Departement Finistère durchgeführt.
Bleiben wir zunächst bei Ihrem ersten Titel und sprechen über die Bedeutung des Dodos als Namensgeber für Ihren Verlag. Johary, Sie haben mir in Frankfurt gesagt, dass der ausgestorbene, präzise gesagt: von Menschenhand mit stumpfer Gewalt ausgerottete Vogel für die Völker, für die Sprachen des südwestlichen Indischen Ozeans steht. Ihre Kulturen sind bedroht. Bitte erläutern Sie die Bedeutung dieser Tier-Mensch-Analogie.
Johary Ravaloson:
In der Tat haben Seeleute und die ersten Bewohner von Mauritius die Dodos dezimiert. Die Metapher, die hinter dem Namen des Verlags steht, erinnert uns daran, dass die Dodos ausgerottet wurden, weil sie nicht fliegen konnten: Wir sprangen vom Boot, rannten mit einem großen Stock hinter den Dodos her und bekamen kiloweise Fleisch. Wir denken, dass wir Menschen auch gefährdet sind, weil wir zu viel konsumieren, fett werden und deshalb nicht fliegen können wie die Dodos. Aber wenn wir den Kindern Bücher zur Verfügung stellen, dann haben wir vielleicht eine Chance: Bücher sind wie Flügel für Kinder. Dodo fliegt, Dodo lebt. (Der fliegende Dodo ;-)
Sophie Bazin:
Ich füge ein paar Aspekte hinzu. Dodo vole bezieht sich auf ein Spiel namens pigeon vole (Tauben fliegen), es klingt nach Kindheit. Dodo ist ein süßes Wort für jedes Kind. Der Dodo lebte nur auf Mauritius, aber er ist auf allen unseren Inseln in dieser Region der Welt sehr gut bekannt. Wir haben uns entschieden, den Verlag nicht nur auf der Insel La Réunion anzusiedeln, sondern im weiteren Kontext der Region des südwestlichen Indischen Ozeans. Im Englischen sagen wir “as dead as a dodo”. Ihr Verschwinden ist eine Warnung für alle Minderheitenkulturen | gefährdeten Arten.
Ich hatte dieses Spiel vergessen. Im Deutschen heißt es Alle Vögel fliegen hoch. Welch angenehme Erinnerung an eine unbeschwerte Kindheit! Für einen Augenblick saß ich am Tisch meiner Vorschullehrerin, eine Schriftstellerin, die Ende der sechziger Jahre vormittags Kindern Geschichten, Spiele und Bastelarbeiten näher brachte. Das war für mich eine großartige Zeit. Der Dodo war mir damals nicht im Sinn, um die anderen Kinder hinter das Licht zu führen, ich wählte Elefanten und andere Säugetiere. Was diese Erinnerung aber zeigt: Überall brauchen Kinder Flügel, die ihre Phantasie auf Reisen schicken. Mit der Reihe Dodo bonimenteur haben Sie das ursprüngliche Konzept, Künstler*innen durch Kinderbücher bekannt zu machen, dahingehend erweitert, dass Sie zukünftige Künstler*innen engagiert haben, die Bücher zu illustrieren und zu gestalten: die Kinder selbst. Das ist ein großartiger Schritt der Partizipation. Bitte berichten Sie, wie die Bücher dieser Reihe entstanden und welche Erfahrungen dabei die Schüler*innen im kulturellen Austausch zwischen dem südwestlichen Indischen Ozean und der Normandie machen konnten.
Johary Ravaloson:
Die Sammlung Dodo bonimenteur entstand aus einer doppelten Beobachtung heraus: der Tatsache, dass es in Madagaskar praktisch keine Kinderbücher gibt (vor allem wegen der geringen Kaufkraft der Bevölkerung) und dem Reichtum an mündlich überlieferter Literatur. Um das erste Handicap auszugleichen, müssen wir uns anderweitig um die Finanzierung eines Buches für madagassische Kinder bemühen. Daher die Idee eines Austauschprojekts, das sowohl madagassischen Kindern als auch Kindern in anderen Ländern zugute kommt: Jede Partei bietet eine Geschichte und ihre Illustration an und profitiert von einem bereichernden Workshop über Illustration, Einführung in eine fremde Sprache und allgemeine Kultur, aber auch über Buchherstellung. Für die Produktion eines jeden Buches bleiben wir eine Woche lang in einer Klasse. Die Schüler fragen ihre Eltern nach traditionellen Geschichten aus ihrer Region. Wir bereiten uns auch durch Recherchen in Archiven und Bibliotheken vor. Dann kommen wir an einem Montagmorgen mit einem lokalen Geschichtenerzähler. Jeder erzählt eine Geschichte. Am Ende des Vormittags stimmen die Schüler darüber ab, welche Geschichte in ihr Buch kommt. Wir unterteilen die Geschichte in 12 Teile und bauen das Gerüst (zwölf gezeichnete Schritte). Der Rest der Woche ist der Illustration mit plastischen Techniken gewidmet, aber auch der schriftlichen und bildlichen Schilderung ihres Lebens als Schüler in ihrer Klasse, zu Hause, in ihrem Dorf (oder ihrer Stadt) und in ihrem Land für ihre Austauschpartner im Ausland. Wenn die madagassischen Kinder auf diese Weise mit Freude die Modernitäten und Technologien der westlichen Kinder entdecken, sind diese nicht weniger erstaunt, aber auch nicht weniger neidisch auf die Freiheit der madagassischen Kinder, die das Geschirr in einem Fluss abwaschen, mit ihren eigenen Kanus zur Schule fahren oder nach Hause zurückkehren, um einen kleinen Hai zuzubereiten, den der Vater tagsüber gefangen hat. Ziel ist es, den Kindern ein Buch in ihrer Muttersprache zur Verfügung zu stellen, so dass das Buch, das jedes Kind erhält (anstelle von Lizenzgebühren), zweisprachig ist. Wir haben fast zwei Jahre gebraucht, bis die Finanzierung stand und das erste Buch produziert werden konnte. Danach erhielten wir das Vertrauen der Klassen, Behörden, NGOs und Verbände, die uns nun unterstützen. Wir haben etwa dreißig französisch-madagassische Alben und wenden uns dem Kontinent zu. Zwei Alben wurden im Senegal auf Wolof und auf Serer mit einer französischen Übersetzung produziert. Zwei weitere sind in Vorbereitung. Die Schwierigkeit besteht darin, Personen zu finden, die die mündlichen Erzählungen verschriftlichen und ihre Übersetzungen zur Verfügung stellen können.
Sophie Bazin:
Das Projekt ermöglicht die Förderung wenig bekannter Sprachen sowie die Anerkennung der Gleichwertigkeit des Alltags der Kinder in allen Ländern, von einem Kontinent zum anderen. So haben beispielsweise einige Kinder aus der Normandie Madagaskar als Ziel für ihren Familienurlaub gewählt (die Eltern haben uns diese Rückmeldung gegeben). Das zeigt, wie ihre Wahrnehmung des Landes bereichert wurde und dass sie es nicht mehr mit Armut gleichsetzen. Die künstlerischen Workshops zielen auch darauf ab, sich den traditionellen Künsten zu öffnen. Für die Serer-Geschichte in Joal Fadiouth (Senegal) haben wir uns zum Beispiel an der Textilkunst von Benin orientiert. Für die Wolof-Geschichte, illustriert in St. Louis du Sénégal, haben wir uns an den Grafiken der Korhogo-Kunst orientiert. Diese bemalten Tücher sind auf jedem afrikanischen Markt zu finden, aber die Kinder kennen ihre Geschichte nicht. Am Ende der Alben gibt es einen kleinen dokumentarischen Teil über die traditionelle Kunst.
Frankreich tut sich schwer mit der Sprachvielfalt im eigenen Land. Nichtsdestotrotz werden Minoritätssprachen wie das Normannische in Nischen gepflegt. In der Nähe von Bayeux liegt die Ferme culturelle du Bessin, wo Menschen zusammenkommen, um ihre Sprache zu pflegen. Solche Erzählcafés sind essentiell für den Erhalt bedrohter Sprachen. Dennoch die Frage: Kann eine Sprache überdauern, wenn sie in einer so stark visuell geprägten Welt nicht sichtbar ist? Wie wichtig sind Bücher als Ausdruck der reichen oralen Tradition einer Sprache?
Sophie Bazin:
Eine schwierige Frage. Das Normannische wird in der Normandie nicht mehr im Alltag verwendet. Es überlebt nur in dem leidenschaftlichen Engagement einiger Gelehrter. Und auch in einigen Vokabeln, die in unser Französisch übergegangen sind. In das Bretonische wird viel mehr investiert, da es in den bretonischsprachigen Diwan-Schulen erlernt und von einigen Sprechern im Alltag praktiziert wird. Es ist deutlich stärker in Publikationen vertreten, auch in Jugendbüchern. Ich komme gerade aus dem Senegal von einem Noon-Workshop zurück. Diese Sprache ist aufgrund des Drucks, der von Französisch und Wolof ausgeübt wird, vom Aussterben bedroht. Es geht nicht so sehr um ihre visuelle Präsenz, sondern vielmehr um ihren Gebrauch in den Familien. Bücher werden die Sprache nicht retten, aber sie helfen dabei, die Vorstellung, die Kinder aus Noon-Familien von ihrer Muttersprache haben, wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Programmpalette des Verlags ist größer als wir bislang besprochen haben. Da sind die Reihen DOc DOc, DuO DuO, Dodo vavangueur, Dodo plumitif und die Literaturzeitschrift Lettres de Lémurie. Bitte stellen Sie diese Reihen kurz vor.
Johary Ravaloson:
DOc DOc: Dokumentationsalben mit starker grafischen Komponente (Texte, Illustrationen, auch: bearbeitete visuelle Objekte) zu verschiedenen Themen, die Kinder auf den Inseln des Indischen Ozeans betreffen.
DuO DuO: Literarisches Objekt, das zwei Autoren (zwei Schriftsteller oder einen Schriftsteller und einen bildenden Künstler) und zwei Sprachen miteinander verbindet.
Dodo vavangueur: Reisetagebuch, das einen Schriftsteller und einen bildenden Künstler verbindet.
Dodo plumitif: Romane oder Sammlung von Kurzgeschichten über Madagaskar von innen heraus, auf Französisch oder ins Französische übersetzt.
Lettres de Lémurie: Vorstellung der lebendige Literatur der Inseln des Indischen Ozeans (auf Französisch oder in der Sprache des indoozeanischen Autors mit einer französischen Übersetzung). Alle Texte (Gedichte, Kurzgeschichten, Auszüge aus laufenden Werken oder Theaterstücke) sind zuvor unveröffentlicht. Seit 2018 eine Ausgabe pro Jahr, 24 Autoren pro Ausgabe.
Wird der Dodo in ganz Afrika und Europa heimisch?
Wie viel Zeit bleibt Ihnen angesichts dieser umfangreichen verlegerischen Tätigkeit für Ihr eigenes schriftstellerisches bzw. künstlerisches Werk?
Johary Ravaloson:
Genug Zeit, aber man braucht Disziplin ;-) Ich bringe etwa alle drei Jahre einen Roman heraus, was gut zu meinem Rhythmus passt, mit oder ohne die anderen verlegerischen Aktivitäten: Überlegungen, Schreiben, Werbung. Ich muss mich drei bis vier Monate isolieren, idealerweise in einer Schreibresidenz zur Fertigstellung des Romans.
Sophie Bazin:
Meine plastische Tätigkeit hat sich immer nach den Möglichkeiten entwickelt, die mein Wohnort bot. Und nach den Begegnungen, die ich hatte. In Madagaskar, wo ich über ein großes Atelier verfügte, habe ich Porträts in sehr großen Formaten angefertigt. Jetzt lebe ich in einer Wohnung, also mache ich andere Erfahrungen: experimentelle Pop-up-Bücher, kleinformatige Drucke, Aquarelle. Die kleinen Dimensionen sind mit meinem heutigen Leben besser vereinbar. Manchmal vermisse ich das Malen auf großen Leinwänden, aber diese nähmen zu viel Platz in unserer Wohnung weg. Die Verlagstätigkeit dominiert nun meinen Alltag, aber es gelingt mir, mir Zeit und Raum für persönliches Schaffen freizuhalten. Auch die Erstellung des Layouts für ein neues Buch ist eine ziemlich kreative Phase.
Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Edition? Sie sagten bereits, dass die Programme auf den afrikanischen Kontinent ausgeweitet werden. Wird der Dodo in ganz Afrika und Europa heimisch?
Johary Ravaloson:
Die Ausweitung auf afrikanische Sprachen betrifft speziell die Sammlung Dodo bonimenteur und entspricht dem Wunsch, Kindern das Rüstzeug für Minderheitensprachen an die Hand zu geben. Was die Zukunft betrifft, so scheint es mir, dass wir über solide Basiskollektionen verfügen und Autoren, die sich an den Verlag gebunden fühlen. Bücher entstehen durch Begegnungen. Projekte werden langsam aufgebaut. Wir müssen darauf achten, eine überschaubare Größe und unsere Lebensqualität zu behalten: nicht mehr als sieben bis acht Veröffentlichungen pro Jahr. Die Entwicklung sollte sich in den nächsten Jahren stärker auf den Vertrieb und die Verbreitung konzentrieren.
Sophie Bazin:
Ich glaube auch nicht, dass wir den Dodo vergrößern sollten. Es ist die bescheidene Größe, die es uns ermöglicht, Zeit für das persönliche Schaffen zu wahren. Aber wir suchen Wege, uns bekannt zu machen, denn tatsächlich kennen uns viele Leser und Bibliothekare, die an unseren Büchern interessiert sein könnten, noch nicht. Ich würde gerne Ko-Editionen anstreben, insbesondere mit afrikanischen Verlegern. Unsere Arbeit macht wirklich nur durch Begegnungen und Zusammenarbeit Sinn. Wir denken über Kooperationen nach. Das Netzwerk der Alliance Internationale des Éditeurs Indépendants sowie die Präsenz auf Messen erleichtern Kontaktaufnahme und Vernetzung sehr. Wir bauen auch auf lokaler Ebene unsere Verbreitung aus. Wir sind gerade La Fabrique o livres beigetreten, einem Verband von Verlegern aus der Normandie, der einen Laden in Le Havre eingerichtet hat und anbietet, bestimmte Vermarktungswerkzeuge gemeinsam zu nutzen.
Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche gutes Gelingen.
Links:
http://dodovole.blogspot.com/
http://lemurie.blogspot.com/
https://www.alliance-editeurs.org/dodo-vole,1284?lang=fr
https://www.lafabriqueolivres.fr
Siehe auch.
Kurzer Hinweis auf Griotte | Anny Grondin: „A la source des filles-des-eaux“ in der Editions Dodo Vole
Letzte Änderung: 26.01.2022 | Erstellt am: 26.01.2022
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