»Kneipenbesitzer kann man immer fragen«

»Kneipenbesitzer kann man immer fragen«

Joseph Mitchells New Yorker Reportagen
Joseph Mitchell (Foto: Diaphanes Verlag)

In den frühen US-amerikanischen Schwarz-Weiß-Filmen spielen die Zeitungsreporter eine große Rolle, oft die Hauptrolle. Wie die Ermittler in den Kriminal- und Detektivfilmen spüren sie die Wahrheit auf und bringen sie gegen den Widerstand derer, die daran nicht interessiert sind, an die Öffentlichkeit. Aber auch für soziale Detailschilderungen haben Reporter wie Joseph Mitchell Großartiges geleistet. Jetzt sind Reportagen und Erinnerungen von Mitchell erschienen, die Martin Lüdke vorstellt.

Der Zürcher Diaphanes Verlag hat Joseph Mitchell wieder ausgegraben. Reportagen. Berichte. Gescheiterte Ansätze zu einer Autobiographie. Auf den Bildern, auf denen der Reporter zu sehen ist, trägt er einen leicht zerknitterten grauen Anzug, Fischgrätmuster, Krawatte, und immer einen standesgemäß zerbeulten Hut. So wie man sich heute einen Reporter von damals vorstellt. Auch die Geschichten sind leicht verstaubt. Genau das macht ihren Reiz aus. Sie prickeln (in der Nase). Sie stammen aus einer Welt, die es nicht mehr gibt. Dem New York vor allem der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, 1929, kam der gerade 21-jährige Joseph Mitchell aus North Carolina nach New York. Er hatte einen College-Abschluss, wohlhabende Eltern, aber die Absicht, sich aus eigener Kraft, und zwar schreibend, in New York zu behaupten. Er schrieb für die verschiedensten Blätter, die allesamt heute längst vergessen sind. Er schrieb über Verkehrsunfälle, kleine Gauner, Gerichtsverhandlungen, schrieb Porträts von Barkeepern, Kino-Karten-Abreißerinnen, über Hafenarbeiter und Gewerkschaftler, Stahlarbeiter und Straßenprediger. Er schrieb, kurz gesagt, über Gott und die Welt. Einer seiner frühen Chefs, Stanley Walker von der „New York Herald Tribune“, riet ihm: Lerne die Stadt kennen, lauf, was du kannst, fahr Bus, fahr mit 15 oder 20 Bussen, verfahr dich, verlauf dich, gehe auch in die Seitengassen, sei immer unterwegs. Mitchell hat sich daran gehalten. Er wusste auch, dass es für Zeitungen nichts Schlimmeres gibt als einen Reporter, der aus „jeder kleinen 08/15-Geschichte Literatur“ machen will. Er hat Hinrichtungen erlebt. Er sah, wie eine junge Frau starb, der in den Hals gestochen worden war. Und er sah, was bis heute zu sehen ist, aber, zum Glück, immer schärfere Proteste auslöst. Er „sah, wie ein weißhaariger irischer Polizist mit einem freundlichen Gesicht einen schwarzen Dieb verschärft verhörte, indem er ihm langsam den frischen Verband von einer Wunde am Rücken zog“. An diesem Beispiel ist leicht zu erkennen, dass Mitchell diese Verhörmethoden keineswegs gut, aber immerhin normal findet.

1938 erhielt er eine Festanstellung beim damals schon renommierten Magazin „New Yorker“. Er arbeitete dort teilweise wie besessen. Jahrelang erschien ein Artikel nach dem anderen. 1964 schrieb er noch eine große Reportage in zwei Teilen, „Joe Gould’s Secrets“. Und danach war Schluss. Tag für Tag ging er weiter ins Büro, immer war das Klappern seiner Schreibmaschine durch die Tür hindurch zu hören, aber er veröffentlichte keine einzige Zeile mehr. Wenn ihn jemand fragte, sagte er, dass er an einer längeren Geschichte über seine Kindheit sitze, später sprach er von einer größeren Arbeit über New York. Nach wie vor, bis zu seinem Tod 1996, bezog er sein Gehalt, das vermutlich, nach dem „Writers Block“ ab 1964, bestimmt keine üppigen Steigerungen mehr erfuhr. Immerhin. Der „New Yorker“ bezahlte ihn bis zum Schluss.

Die jetzt hier, vor allem in dem Band „New York Reporter“ gesammelten Beiträge präsentieren ein Bild dieser Stadt, das wir allenfalls noch aus alten Gangsterfilmen kennen. Schwarz-weiß natürlich. Große Limousinen, die durch dunkle, schmale Straßen vorbei an Werkstätten und Lagerhallen, durch die nächtliche Stadt rasen, mit Trittbrettern an den Seitentüren, auf denen hagere Gestalten in langen Mänteln mühsam versuchen, in den Kurven nicht weggeschleudert zu werden. Es ist dieses New York, das uns Mitchell gleichsam hautnah beschreibt.

„Ich war als Nachtreporter bei der Herald Tribune für einen Distrikt zuständig. Stundenlang saß ich in einem alten Mietshaus gegenüber dem Polizeipräsidium von Brooklyn in einem verlausten Sessel und wartete darauf, dass etwas Schlimmes passierte.“

Alle New Yorker Zeitungen hatten ihre Vertretungen dort. Sobald etwas geschehen war, gab uns der Mann am Empfang ein Zeichen. „Und wir alle verließen das Mietshaus und eilten zum Schauplatz des Mordes oder des Überfalls oder des Unfalls oder der Schlägerei oder des Feuers oder des Was-auch-immer.“ Dann übermittelten sie ihre Nachricht telefonisch an einen „Tischredakteur“. Das machte Mitchell vier Monate lang, in allen Bezirken von New York, Harlem am Schluss. Dann kam er in die Lokalredaktion und durfte selbst Artikel schreiben. Einer der Besitzer seiner Zeitung mochte das Wort „Blut“ nicht. Das zwang gelegentlich zu erheblichen verbalen Verrenkungen. Gerne berichtete Mitchell allerdings über Gangster-Beerdigungen. Der Band „New York Reporter“ bietet ein weites Spektrum seiner Reportagen. Er erzählt von Predigern, Nonnen, frömmelnden Gaunern und aufrechten Gläubigen. Er erzählt von Sportlern, die ihre kleine Karriere hinter sich hatten, und von großen Talenten, die sie vor sich glauben. Er erzählt von jungen Mädchen, die ihre große Chance darin sehen, dass sie alles zeigen, wenn sie nichts mehr anhaben. Darüber dann zu berichten, empfindet er als „etwas öde“. „Letztlich“, meint er, „haben Stripteasetänzerinnen doch eine große Ähnlichkeit mit Elefanten: Kennt man eine, kennt man alle“. Eine Variante war ihm aber tatsächlich neu. Jan Marsh, eine junge Frau mit Handelsschulabschluss. Ihre Nummer mache, meinte sie, dem „Stripteaserummel den Garaus“. Sie führte ihm ihre Nummer vor. Sie zog sich schnell aus, alles, legte ihre Sachen über einen Sessel und zog sich dann langsam an. Einen ganzen Berg Kleider. Mitchell erzählt auch von Sportlern, die, wie im Fall einer Boxerin, auf eine Karriere hoffen, aber, als Frau, in New York keine Kämpfe bestreiten dürfen. Er erzählt von einem Baseball-Spieler, der plötzlich fromm geworden war, und deshalb Probleme mit seinem Trainer bekam, der auf ihn gewettet hatte und, für den Fall, dass er nicht gewinnt, den „ganzen Winter Schneebälle frühstücken“ müsse. Der Spieler sagte: „Der Herr will aber nicht, dass ich an einem Sonntag laufe.“ Darauf sah ihn der Trainer an und sagte: „Na, das machst du schon. Du läufst erst mal und das mit dem Herrn klärst du später.“

Joseph Mitchell (links) unterwegs in New York

Es ist dieser Typus von Geschichten, die dicht an der alltäglichen Realität orientiert sind, pointenreich und zugespitzt erzählt werden, mehr unterhalten als aufklären wollen, keine politischen Ziele verfolgen, aber moralische Orientierung bieten. Und, natürlich, Information. „Kneipenbesitzer kann man immer fragen.“ Sie erzählen von einer Welt, wie sie auch Brecht noch vor Augen hatte. Eine Welt, die noch zwischen Gut und Böse unterscheiden ließ. Der Prediger, der einst Baseballspieler war, bekennt, dass er „schon mal getrunken habe, aber nie sehr viel“. Und er glaubt, „die Prohibition ist das beste Gesetz, das es überhaupt gab“. Das glaubten die Herrschaften in Billy Wilders Film „Manche mögen’s heiß“ auch. Sie transportierten Särge voller Schnaps mit soliden Leichenwagen durch das Chicago der späten Zwanzigerjahre. An den Türen noch Trittbretter. Das war auch die Zeit von Joseph Mitchell. Sein „writers block“, seine Schreibhemmung in den sechziger Jahren, war sicher nicht zufällig gekommen. Denn die Welt, von der er faszinierend zu erzählen wusste, verschwand immer mehr. Was konnte er denn noch erzählen? Nichts! Und das tat er.

Letzte Änderung: 11.08.2021

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