Amerika, wie es ist, wie es aber nur wenige kennen
Der Patrizier Christoph von Graffenried aus Bern in der Schweiz gründete 1710 in North Carolina die Stadt New Bern. Dorthin begab sich in der Jetztzeit der Berner Fotograf Michael von Graffenried und dokumentierte mit dem Blick für das Alltägliche das neue Bern und seine Bewohner. Seine Farbfotos lassen den sozialen Zustand des Ortes lesen und ein Amerika spüren – so beschreibt es Martin Lüdke – wie es ist.
Michael von Graffenried zeigt „New Bern“, North Carolina
In der Tradition des amerikanischen Fotografen Walker Evans (1903–1975) bewegt sich sein schweizer Nachfolger. Auch Michael von Graffenried geht es nicht, wie Evans Zeitgenossen Steichen und Stieglitz, um Kunst, sondern um die Abbildung der amerikanischen Realität, um die Dokumentation der gegenwärtigen Verhältnisse. Die Zeit, aus der Evans berühmte Bilder stammen, die große Depression, gibt ihnen eine sozialkritische Note. Durch das Schwarz-Weiß der Bilder wird sie noch weiter betont. Michael von Graffenrieds Bilder sind durchwegs Farbfotografien. Ihre sozialkritisch/politische Ausrichtung ist allerdings gut versteckt – in der kommentarlosen Wiedergabe der vorgefundenen Verhältnisse. „New Bern“ zeigt das Amerika der unmittelbaren Gegenwart. Genau besehen – als Skandal.
Vermutlich war Herr Christoph von Graffenried aus Bern in der Schweiz, der im Jahre 1710 an der Mündung von Neuse und Trent River in den Atlantik die Stadt Neu Bern, also New Bern, im Craven County von North Carolina gegründet hatte, ein Vorfahre des Berner Fotografen, dem wir dieses unglaubliche Buch verdanken. Der Stadtgründer wurde schon kurz nach seiner Ankunft in dieser idyllischen Gegend von Indianern gefangen genommen und nicht etwa skalpiert, sondern äußerlich unversehrt wieder freigelassen. Wir wissen allerdings nicht, was er dabei erlebte. Aber der Eindruck dieser Episode veranlasste ihn immerhin, schon nach einem Jahr wieder in seine eidgenössische Heimat zurückzukehren. Trotzdem hat er in dem kleinen Örtchen an der Atlantikküste nachhaltige Spuren hinterlassen. Der Berner Bär prägt bis heute das Stadtwappen von New Bern und ist auf jedem Briefbogen der Stadt, auch auf jeder Polizeiuniform genau so deutlich zu sehen wie auf jeder der zahlreich herumhängenden Flaggen, allerdings immer ohne den kleinen, knallroten Penis, den der Berner Bär auf allen seinen Abbildungen stolz und nicht nur durch das Berner Oberland trägt.
Also: Christoph von Graffenried kehrte zurück zu seinen Eidgenossen. Etwa dreihundert Jahre später folgte ihm allerdings sein Nachfahre Michael, der Fotograf.
Er präsentiert jetzt einen dicken Fotoband, ohne alle Seitenzahlen, ohne alle zusätzlichen Erläuterungen. Nur mit einer knappen Einleitung von zwei Seiten versehen, so groß geschrieben, dass der kurze Text auch aus einiger Entfernung noch gut zu erkennen ist.
Diese Bilder, Fotos aus fünfzehn Jahren, sprechen allerdings wirklich für sich.
New Bern, die einmal Hauptstadt von North Carolina war, hat heute noch dreißigtausend Einwohner, die gute Hälfte weiß, ein gutes Drittel schwarz. Hier wurde, darauf sind die Bewohner noch heute stolz, vor etwa hundert Jahren Pepsi Cola erfunden. Der Ort liegt, durch eine tiefe Bucht etwas geschützt, an der Atlantikküste. Die Gegend ist flach. Die Meereshöhe wird mit drei Zentimetern angegeben. Wirbelstürme sind häufig.
Ein Denkmal erinnert an eine große Schlacht während des amerikanischen Bürgerkriegs. Auch einige historische Gebäude sind noch unversehrt.
Industrie gibt es wenig. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. New Bern – das ist Amerika. Abseits der touristischen Routen, abseits der großen Zentren, weit weg von überall. Und dieses Amerika präsentiert Michael von Graffenried mit seinen Bildern. Er spricht vom „everyday life“. Tatsächlich führt uns der Fotograf das amerikanisches Leben im 21. Jahrhundert in einer verblüffenden Unmittelbarkeit vor Augen. Der Effekt ist unglaublich. Was man sieht, das Amerika von heute, man hat es mit eigenen Augen gesehen.
An den Straßen, vor fast jedem Haus, eine amerikanische Flagge; an einer Hauswand Fotos von verwundeten Soldaten; junge Mädchen, die mit Gewehren exerzieren; Polizisten in Uniform, der das Wappen der Stadt auf dem Oberarm tragen, der dunkle Bär auf gelben Untergrund, der steil bergauf strebt; tanzende Soldaten, an die sich Frauen schmiegen, die man nicht als Damen bezeichnen möchte, ohne dass man sie einem anrüchigen Gewerbe zurechnen wollte. Hochzeitsbilder; typische Vorstadtstraßen. Waffennarren, die stolz ihre Ausrüstung präsentieren, mit der man eine Kompanie ausrüsten könnte. Eine Gruppe schwarzer Frauen, mit kleinen Kindern, die vor einer Küchentür warten. Eine Gruppe Kubaner. Ein Toter, der neben einem Autowrack auf dem Rasen liegt. Ein Schwarzer mit Handschellen auf einer Polizeiwache. Weiße, die neben einem Pool sitzen, während Farbige den Rasen pflegen. Wie warm es in dieser Gegend über lange Zeit des Jahres ist, man darf es auch schwül nennen, das sieht man an der leichten Bekleidung der Menschen, die sich nicht selten im Bikini auf der Straße bewegen. Schwarze Vorstadtbewohner, weiße Vorstadtbewohner, meist mit unübersehbarem Übergewicht und in aller Regel mit Sportkleidung ausgestattet. Darunter zwei schwangere schwarze Frauen, beide mit einem dünnen, derart gespannten T-Shirt bekleidet, das darunter mindestens Vierlinge vermuten lässt. Oft fröhliche Menschen. Es gibt offenbar viel zu feiern. Plakate für eine Dana Outlaw, die tatsächlich so heißt und für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Junge Football-Spieler, hier, wie selten sonst, Schwarze und Weiße nebeneinander, in einer Mannschaft, alle das Wappen der Stadt mit dem Bären auf dem Trikot. Ein zerlegtes Sturmgewehr auf einem Ehebett. Hochzeiten, Beerdigungen. Sturmschäden und ihre Beseitigung. Kleine Flugzeuge auf dem kleinen Flughafen der kleinen Stadt. Und so weiter. Und so weiter.
Von wirtschaftlicher Depression ist nichts zu sehen. Von Armut schon. Die Fotos stammen aus einem Zeitraum von fünfzehn Jahren. Sie lassen keine Entwicklung erkennen. Sie zeigen vielmehr den Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Gegenwart. Und letztlich, ohne das es groß herausgestellt würde, ein Trauerspiel. Walker Evans hatte seinerzeit die Große Depression im Süden der USA dokumentiert, das Elend sichtbar gemacht.
Graffenried zeigt eine amerikanische Kleinstadt an der Atlantikküste. Eine Stadt, wie es tausende gibt, quer über das riesige Land verstreut. Er zeigt viele fröhliche Menschen, schwarze wie weiße. Von Elend ist nichts, zumindest nicht viel zu sehen.
Wer dieses Amerika, abseits der großen Zentren, hinter den Bergen, irgendwo mittendrin, wer dieses Amerika nicht kennt, hier hat er es vor Augen.
Graffenried hat den Blick für das Gewöhnliche, er vermeidet jedes Pathos. Er lässt seine Bilder sprechen. Ohne Dramatisierung, ohne Stilisierung. Amerika – so wie ist es. Man kann es lieben, auch hassen. Man muss es sehen.
Letzte Änderung: 11.08.2021
Michael von Graffenried Our Town
Fotografisches Porträt von New Bern
Englisch
Gebunden/Leinen, 240 Seiten, 120 Abb.
ISBN: 978-3-95829-883-5
Steidl Verlag, Göttingen, 2021
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