Wonach es sich zu streben lohnt

Wonach es sich zu streben lohnt

Ferngespräch mit Konrad Paul Liessmann
	  Konrad Paul Liessmann  | © Foto: Heribert Corn

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, der über den Olymp und das Paradies nachgedacht hat, der Kierkegaard, Karl May und Nietzsche liest, hat die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben beschrieben. Elvira M. Gross hat ihn in einem Ferngespräch befragt.

	  Bücher von Konrad Paul Liessmann (Auswahl)  | © Foto: Elvira M. Gross
Elvira M. Gross: Herr Liessmann, woran denken Sie zuerst, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?

Konrad Paul Liessmann: An die Spaziergänge mit meinem Großvater. Sie führten uns immer zu einem nahegelegenen Gasthaus, über Wiesen und Felder. Dort angekommen, trank mein Großvater ein Achterl Rotwein und ich bekam einen Eisbecher. Mit ihm konnte ich über Dinge sprechen, die ich den Eltern nie hätte sagen wollen. Das war der Inbegriff von Glück. Mein Großvater starb viel zu früh, die Felder und Wiesen sind mittlerweile verbaut, das Gasthaus gibt es nicht mehr. So geht es unserem Glück.

Haben Sie schon als Kind gerne geschrieben? Was war Ihr Lieblingsbuch?

Ich habe erst spät lesen gelernt, nach modernen Begriffen wäre ich ein betreuungswürdiger Problemfall gewesen. Schuld daran war die damals eingeführte Lesedidaktik, die uns die Lesetechnik des Buchstabierens verbot. Hätte meine Mutter mir diese nicht gegen das Verbot der Lehrerin beigebracht, wäre ich ein sekundärer Analphabet. Seitdem stehe ich jeder didaktischen Mode einmal prinzipiell skeptisch gegenüber. Aber alle Lesetechnik nützt nichts, wenn man nicht auf Bücher stößt, die man unbedingt lesen will. Bei mir waren das die Sagen des Klassischen Altertums, die deutschen Heldensagen und Karl May. Wie dieser wollte auch ich schreiben, ich recherchierte als Volksschüler in der Arbeiterkammerbibliothek die historischen Hintergründe seines Indianerbildes und begann einen Roman über das angebliche Vorbild Winnetous, den Apachenhäuptling Geronimo. Wie weit ich damit gekommen bin, weiß ich nicht mehr, dieses kostbare Stück Literatur ist leider nicht mehr auffindbar.

Welche Figur aus der griechischen Mythologie fasziniert Sie am meisten und warum?

Bitte interpretieren Sie mich jetzt nicht falsch: Aber mich faszinierten weniger die Helden wie Achill, Herakles oder Odysseus, auch nicht die starken oder tragischen Frauen wie Kassandra, Elektra oder Medea, sondern die olympischen Götter. Zeus in seiner spielerischen erotomanischen Wandlungsfähigkeit hat mich schon schwer beeindruckt. Und nachdem Religion ja heute wieder hoch im Kurs steht, plädiere ich auch für eine Wiederaufnahme der Götter Griechenlands, zumindest in den literarischen Kanon.

Mythen, Legenden, Märchen und Bibeltexte, die Michael Köhlmeier nach- oder neuerzählt, haben Sie zu Interpretationen verführt. Wie kam es zu dieser literarisch-philosophischen Zusammenarbeit?
[oder: Ist es die Zeitlosigkeit, die den Reiz dieser Texte ausmacht?]

Alles begann – bitte lachen Sie nicht – im Paradies. Michael Köhlmeier und ich waren – das liegt jetzt mehr als 20 Jahre zurück – vom Stift Melk eingeladen worden, im Rahmen einer Veranstaltungsserie zum Paradies zu sprechen. Köhlmeier sollte die biblische Geschichte neu erzählen, ich einen Vortrag über die Bedeutung des Sündenfalls in der Philosophie halten. Wir schlugen vor, diese Formate zu koppeln: Köhlmeier erzählt, ich denke spontan und ohne Vorbereitung darüber nach. Es war wunderbar und wir haben dieses Format dann zu unserem Philosophicum Lech transferiert, das wir seitdem durch solch einen mythologisch-philosophischen Vorabend eröffnen. Die Kraft, Vieldeutigkeit, Eindringlichkeit, Weisheit und Schönheit all dieser Mythen sind mir durch diese jahrelange Übung erst so richtig klar geworden. Daraus sind auch zwei Bücher entstanden: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam“ und „Der werfe den ersten Stein“.

Wenn Sie der Zeit ein Motto vorstellen müssten, welches wäre das?

Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen.

Sie beziehen sich in Ihren Essays und Büchern oft auf Sören Kierkegaard – inwiefern ist er Ihrem Denken ähnlich?

Es geht nicht um Ähnlichkeit – wahrscheinlich ist es der Gegensatz, der mich anzieht. Kierkegaards Gespaltenheit in einen radikal experimentierenden Schriftsteller und einen ebenso radikal denkenden Christen machte mir zumindest klar, welche Abgründe zwischen Vernunft und Glauben und zwischen Ethik und Ästhetik liegen. Und überdies war er einer der wenigen Denker, der wirklich schreiben konnte.

	  Bücher von Konrad Paul Liessmann bei den Hanser Literaturverlagen (Auswahl)
Der erste Satz oder der letzte – welcher ist Ihnen beim Schreiben wichtiger?

Der erste Satz! Darüber habe ich im vergangenen Jahr im Rahmen der Vorlesungen zur Kunst des Schreibens an der Grazer Universität stundenlang geredet. Diese Vorlesungen sind jetzt übrigens unter dem schönen Titel „Das alles sind bösartige Übertreibungen und Unterstellungen. Text. Stil. Polemik“ im Droschl-Verlag erschienen. Ohne ersten Satz gibt es für mich keinen letzten Satz, der erste Satz erzwingt erst den Fortgang der Gedanken, der dann in einem letzten Satz münden kann.

Thomas Bernhard hatte die Wut als Antriebskraft des Schreibens. Was veranlasst Sie zum Schreiben?

Wut sicher nicht. Und Thomas Bernhard habe ich seine stilisierte Wut ohnehin nie abgenommen. Ich habe keinen besonderen inneren Antrieb, ich will mich nicht empören und schon lange nicht mehr die Welt verbessern. Wäre ich ehrlich, würde ich sagen, ich schreibe, weil ich anderes zumindest nicht besser kann. Das heißt nicht, dass ich Schreiben kann – aber eine gewisse Lust an einer guten Formulierung, die Herausforderung, einem Gedanken auch eine sprachliche Form zu geben, die Versuche, unterschiedliche Stile und Formen auszuprobieren: Das treibt mich schon immer wieder an den Schreibtisch. Gar nicht so sehr der Gedanke an den Leser, obwohl ich kein Problem habe zuzugeben, dass ich weder nur für mich noch ausschließlich für eine kleine Gruppe von Kollegen schreiben will. Aber was die Leser mit meinen Texten machen, ist ihre Sache.

Welchem Schriftsteller wären Sie gerne persönlich begegnet?

Ich kenne genug lebende Schriftsteller, das dämpft das Bedürfnis, zusätzlich noch toten zu begegnen. Abgesehen davon habe ich danach wirklich kein Bedürfnis. Warum? Die Person eines Schriftstellers bleibt immer hinter seinem Werk zurück. Wäre er als Mensch interessanter gewesen als seine Bücher, hätte er diese nicht geschrieben. Begegnungen müssten so immer enttäuschen. Ich verehre Jean Paul – aber möchte ich wirklich mit ihm in der „Rollwenzelei“ sitzen und zusehen, wie er sich sinnlos betrinkt? Ich liebe Thomas Mann – aber möchte ich wirklich einen Abend mit diesem selbstgefälligen und eitlen Schreibbeamten verbringen? Nein, danke!

Der Essay, schreiben Sie, ist eine Mischung aus Versuch und Versuchung. Worin liegt die Versuchung?

In der riskanten Formulierung. In der Verlockung, nicht alles begründen zu müssen. In der Lust, mit Behauptungen, Zuspitzungen, Pointen zu operieren. Mit einem Wort: Im Genuss der geistigen Verantwortungslosigkeit.

Franz Schuh beispielsweise mag die Fernsehserie „Die Simpsons“; haben Sie auch eine Vorliebe für eine Form von Trash/Unterhaltung?

Ich weiß, dass es ziemlich chic ist, sich als Intellektueller zu Trash zu bekennen. Mit meinen Studenten lese ich gerade Theodor Adornos „Minima Moralia“. Darin findet sich ein kleiner Essay, überschrieben mit: „Wenn dich die bösen Buben locken“. Adorno eröffnet diesen Text mit der Bemerkung, dass es einen „amor intellectualis zum Küchenpersonal“ gebe. Der Intellektuelle kann mit kenner- und gönnerhafter Miene neben den Gedichten von Paul Celan auch jene billigen Serien genießen, die anderen das Hirn verwüsten. Nein, ich mag die Simpsons nicht. Nur weil eine Figur „Homer“ heißt, bin ich noch nicht vom geistigen Tiefgang derselben überzeugt. Mein Bedürfnis nach Trash erschöpft sich darin, hin und wieder „Tatort“ zu sehen und in nostalgischer Verklärung der eigenen Kindheit in der historisch-kritischen Ausgabe der Werke von Karl May zu blättern.

Sie haben viele Jahre unterrichtet: Was bedeutet Lehren für Sie?

Lehren ist eigentlich eine unglaublich anspruchsvolle Tätigkeit. Neben der überschätzten Frage nach der richtigen Methode steht für mich immer der Gedanke dahinter, durch die Lehre nicht zu belehren, sondern Neugier zu wecken, das Staunen zu entfachen, das eine genaue Betrachtung auch noch der alltäglichsten Dinge hervorrufen kann, und eine Ahnung davon zu vermitteln, was es bedeuten könnte, nicht jeden Bildungsanspruch hinter effizienzorientierten Leistungsparametern zum Verschwinden zu bringen.

Wonach lohnt es sich zu streben?

Friedrich Nietzsche, ein Philosoph, der für mich im Lauf der Jahre immer wichtiger wurde, gab seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ den Untertitel: „Ein Buch für Alle und Keinen“. Mit dieser Formel möchte ich auch Ihre Frage beantworten. Wonach es sich zu streben lohnt? Nach allem und nichts.

Die Ausbildung sollte einst dem Individuum einen bestimmten Platz in der Gesellschaft sichern. Heute ist Bildung, wie Sie schreiben, zur Panazee geworden, sie ist allgegenwärtig und doch ein Mangel. Warum? Was fehlt?

Bildung ist ein leeres Versprechen. Sie soll alle Probleme der Welt von der sozialen Ungleichheit bis zur Klimaerwärmung lösen, aber jeder versteht darunter etwas anderes. Die Auflösung der Bildungsidee in die aktuelle Kompetenzorientierung ist selbst ein Dokument grassierender Unbildung. Es fehlt das, was noch für G. W. F. Hegel den Kern der Bildung ausmachte: ein geistiger Stoff, an dem sich junge Menschen entfalten, also bilden können.

Das Leben im Ausnahmezustand scheint monoton – ist der Wiederholung auch Positives abzugewinnen?

Wer sagt, dass das Leben im Ausnahmezustand monoton ist? Ich habe mich noch keine Sekunde gelangweilt. Oder, um auf den vorhin erwähnten Kierkegaard zurückkommen: Die Wiederholung ist das Positive schlechthin! Das absolut Neue ist schrecklich; das nur Einmalige ist bedeutungslos. Nur die Wiederholung erlaubt das, was das Leben lebenswert macht: die Variation des Immergleichen. Der Ausnahmezustand erlaubt diese Erfahrung in einer Form, die der Idee der Wiederholung eigentlich widerspricht, denn Ausnahmen lassen sich nicht wiederholen, sonst wären es keine Ausnahmen. Darin liegt die Dialektik – Kierkegaard hätte gesagt: Paradoxie – dieses Zwangs zur Wiederholung in einer nicht wiederholbaren Form.

Eine letzte Frage: Wenn morgen wieder „Normalität“ herrschen würde, was würden Sie als Erstes tun?

Ich würde nichts anderes machen als das, was ich in den letzten Wochen gemacht habe: aber aus freien Stücken und hoffentlich ohne Angst.

Das Ferngespräch führte Elvira M. Gross

Letzte Änderung: 30.08.2021

Konrad Paul Liessmann, geb. 1953, Professor für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Zahlreiche wissenschaftliche und essayistische Veröffentlichungen zu Fragen der Ästhetik, Kunst- und Kulturphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Seit 1996 wissenschaftlicher Leiter des „Philosophicum Lech“ und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Zsolnay-Verlag. Seit 2010 Vizepräsident der „Gesellschaft für Bildung und Wissen“, Gründungsmitglied und seit 2012 Obmann der „Internationalen Günther Anders-Gesellschaft“, seit 2014 Leiter des Universitätslehrganges „Philosophische Praxis“ an der Universität Wien.

Zuletzt sind erschienen:
Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (2014); Und mehr bedarfs nicht. Über Kunst in bewegten Zeiten (2016); Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam. Mythologisch-philosophische Verführungen (2016, gem. mit Michael Köhlmeier); Bildung als Provokation (2017); Die kleine Unbildung. Liessmann für Analphabeten (2018, gem. mit Nicolas Mahler); Der werfe den ersten Stein. Mythologisch-philosophische Verdammungen (2019, gem. mit Michael Köhlmeier); Das alles sind bösartige Übertreibungen und Unterstellungen. Text, Stil, Polemik (2020).

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