Unter dem Paradiesbaum

Unter dem Paradiesbaum

Gespräch mit Lucien Leitess

In diesem Sommer hat die saudi-arabische Autorin Raja Alem die weltweite Erstveröffentlichung ihres Romans „Sarab” über die Wurzeln der al-Kaida-Bewegung dem Schweizer Unionsverlag anvertraut. Das „Zwergenhaus”, wie Verleger Lucien Leitess es nennt, ist seit Jahrzehnten die deutschsprachige Heimat zahlreicher Autoren von Weltrang. Sie alle bleiben dem kleinen Verlagshaus fest verbunden und scheinen zu spüren, dass ihr Werk hier auf eine besondere Weise in den deutschsprachigen Kulturraum übermittelt wird. Im Austausch mit Andrea Pollmeier spricht Lucien Leitess u.a. über die Kunst, an unvermuteten Orten einen Schatz zu heben, über die Leistungen der Übersetzung und die Steinzeit-Phase des e-Books.

Andrea Pollmeier: Der Unionsverlag ist spezialisiert auf die Entdeckung guter Literatur weltweit. Selbst Werke aus schwer zugänglichen Sprachen werden in Ihrem Auftrag übersetzt. Solche Pionierleistungen gehören fest zu Ihrem Verlagsprogramm. Das alles gelingt mit nur fünf festangestellten MitarbeiterInnen. Verlage dieser Größe spezialisieren sich in der Regel auf einzelne Regionen und Sprachen, Sie aber wählen den maximalen 360 °- Rundblick. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Lucien Leitess: Der Globus ist ja rund, der 360°-Blick ist doch eigentlich das Normale! Im Unionsverlag gehen wir davon aus, dass es rund um die Welt Erzählkulturen gibt. Länder und Kontinente bedeuten uns nichts. Die ältesten Epen wie das Gilgamesch-Epos sind schließlich allesamt nicht in Europa entstanden. Wir achten – radikal gesagt – gerade NICHT darauf, woher ein Autor kommt. Wir prüfen, ob jemand eine große Stimme, große Stoffe, starke Geschichten und eine große Erzählkunst hat, die Herkunft ist dann egal.

Meine geheime Leitlinie ist die große Republik der Weltliteratur, in der kein Autor aufgrund seiner Herkunft, Hautfarbe, Sprache, Stimme und der Größe oder Bedeutung seines Territoriums ohne Chance bleibt, deutschsprachige Leser zu erreichen.

Mit dieser Grundeinstellung war der Weg gegeben. Viele der größten Autoren dieser Welt waren bis in die Neunzigerjahre noch zu entdecken. Ich erinnere mich, dass es in Gründerjahren des Verlags zwei Lexika der Weltliteratur gab, eines aus der einstigen DDR und eines aus dem Westen. Diese Lexika habe ich von vorne nach hinten durchgearbeitet. Ich saß also unter dem Paradiesbaum und konnte die reifen Feigen pflücken.

So gelangte ich beispielsweise zu Nagib Machfus . Es gab schon Übersetzungen in der DDR, er wurde dort in seiner Bedeutung bereits erkannt. Ich habe ihm nach Kairo einen Brief geschrieben, so ist er zu unserem Verlag gekommen. Ähnlich unkompliziert war die Verbindung zu Yaşar Kemal. Ich habe damals Freunde gefragt: Welche großen Autoren gibt es in der Türkei? Sie empfahlen Yaşar Kemal und organisierten ein Treffen. Er hatte Vertrauen und sagte: „Mach`s!“ So kamen manche noch unbekannte Größen der Weltliteratur in unser Zwergenhaus und sind zum Glück bei uns geblieben.

Der Blick auf die Welt als Ganzes

Pollmeier: Gab es keinen verstärkenden Impuls im Menschen Lucien Leitess, der diesen weiten Weltblick bedingt hat?

Leitess: Es half wohl, dass ich mich als Aktivist der Weltrevolution und des anti-imperialistischen Kampfes sah. Der Blick auf die Welt als Ganzes entsprach meinen Überzeugungen und richtete sich gegen die Vorherrschaft einzelner Länder des Nordens über den Süden. Europa dachte in dieser Zeit gleichzeitig kolonial und provinziell. Die übertriebene Dominanz der eigenen Kultur und das mangelnde Weltbewusstsein gehörten damals zur Realität. Schritt für Schritt hat sich aus diesem politischen Impuls heraus ein weit gefasstes, literarisches Programm entwickelt.

Viele Autoren, die man im deutschen Sprachraum noch nicht kannte, waren draußen in der Welt schon berühmt. Ich erinnere mich, dass mich auf einer Kritikerreise nach Ägypten eine namhafte Journalistin bei der Ankunft in Kairo fragte: „Herr Leitess, gibt es überhaupt eine arabische Literatur?“ Solche simplen Fragen stellt man heute nicht mehr, die literarische Welt ist ein gutes Stück zusammengewachsen. Das ist schön zu sehen, dafür haben wir gekämpft. Inzwischen ist immerhin ein Buchweltmarkt entstanden. Außereuropäische Literaturen sind zumindest in ihrer Existenz anerkannt.

Pollmeier: Sind Sie damals in diese Länder des Südens gereist?

Leitess: Vor Ort zu sein, ist nicht entscheidend. Heute reisen Millionen. Aber das ist Tourismus, der per se die Einstellungen nicht verändert. Es kommt darauf an, wie man reist, welcher Kopf mit welcher Einstellung unterwegs ist und die Augen offenhält. Sonst trinkt man am Morgen auch unterwegs nur Jacobskaffee mit Bärenmarke und hat nicht viel mehr erlebt als Gespräche mit Taxifahrern und Reiseführern. Natürlich reise ich gern, und sooft mein Bürojob es erlaubt, bin ich auf den Busbahnhöfen des Südens.

Das literarische Niveau ist entscheidend

Pollmeier: Ich habe den Eindruck, dass Sie Autoren wählen, bei denen die beiden Elemente – politisches Wachsein und literarisches Können – zusammenwirken.

Leitess: Eine komplexe Frage … Fortschrittliche Überzeugungen allein machen keinen Literaten zum Meister. Natürlich fällt das oft zusammen, vielleicht, weil gute Literatur nur entstehen kann, wenn der Autor sich durch Äußerlichkeiten nicht blenden lässt, er hinter die Kulissen zu schauen weiß, kompromisslos ist und die Menschen liebt, oder zumindest von ihren Abgründen und Untiefen fasziniert ist. Letztlich aber glaube ich, dass die Weltanschauung des Autors kein Kriterium für die Qualität seines Oeuvres sein kann. Karl Marx sah im royalistischen Reaktionär Balzac den größten Realisten seiner Zeit.

Pollmeier: Als Sie sich zu Beginn des bis heute andauernden Syrienkrieges entschieden haben, ein Werk des kurdischen Autors Bachtyar Ali zu publizieren, sind Sie, so schien es mir, ein relativ starkes Risiko eingegangen. Ali lebte zwar bereits lange in Deutschland, aber niemand kannte ihn hier. Der Irak, aus dem Bachtyar Ali stammt, gehört zwar seit Jahrzehnten zur wichtigsten Krisenregion der Weltpolitik. Literarisch wurde diese Region jedoch komplett übersehen. Sie haben den Blick auf etwas gelenkt, was hier nicht wahrgenommen werden will. Stand hinter diesem Schritt nicht ein bewusster politischer Impuls? Oder warum wählten sie einen Autor, der in eine Region Einblick gibt, die gegenwärtig hoch umstritten ist?

Leitess: Ihre Einschätzung zeigt die Hürden, über die wir springen müssen. Wir haben ja schon seit Jahrzenten kurdische Autoren im Programm. Zum Beispiel den großen, auf Sorani-Kurdisch schreibenden Lyriker Sherko Bekas. Oder Mehmed Uzun, der Begründer des modernen türkisch-kurdischen Romans. Leider wird solches oft erst viel später sichtbar, wenn die Weltläufte neue Aufmerksamkeit bewirken.

Als ich eines Tages das Manuskript von Bachtyar Ali in der Mailbox sah, war mir klar, das ist ein Autor von Weltrang. Er hätte in diesem Moment auch aus Usbekistan sein können oder Gambia – der literarische Level ist entscheidend. Aber ich leugne nicht, dass es besonders befriedigend ist, an einem Flecken der Erde einen Schatz zu heben, den hierzulande keiner vermutet hat.

Pollmeier: Ein Verleger ist auch Geschäftsmann. Wie findet man die Balance zwischen dem Wunsch, sich in den Dienst der Inhalte und der Autoren stellen zu wollen und dem kalkulierenden Auftrag, Profit machen zu müssen?

Leitess: Ich weiß kein Geheimrezept. Das Programm eines Verlages, der nicht commercially driven, sondern content driven ist, repräsentiert eine Art Gesamtschau für diejenigen, die den Willen haben, sich aus dem Meer der Literatur das herauszusuchen, was ihnen entspricht. Wenn die LeserInnen fündig werden, ist das Programm gut, wenn sie genügend häufig fündig werden, kann es überleben. Aber wie merkt man vorab, ob dieser doppelte Erfolg eintrifft? Für mich ist das auch nach 42 Jahren und 800 Titeln noch ein Rätsel. Bei der Suche bestimmt uns jedenfalls der Wunsch, dass in fünfzig Jahren, wenn jemand die Programmliste durchsieht, möglichst viele Werke dabei sein werden, die dann immer noch Bedeutung haben.

Sie sprachen zuvor von „Risiko”. Ich habe das nie so empfunden, im Gegenteil. An der Börse kann man sich am Substanzwert oder am volatilen Marktwert orientieren. Wenn man unsere Arbeit in solchen Kategorien auslegt, dann ist auf der sicheren Seite, wer Autoren veröffentlicht, die Bedeutung und Qualität haben. Es ist ein Glück, auf diese Weise große Autoren im kleinen Verlag zu betreuen.

Treue ist immer etwas Multipolares

Pollmeier: Wie entsteht „Qualität“ auf diesem inzwischen heiß umkämpften Buchweltmarkt? Es gibt ja jetzt diese angestrebte Ausweitung des Buchmarktes, doch zeigen sich dort erhebliche qualitative Unterschiede in der Art, wie diese Literatur in den Verlagen behandelt wird. Diese Differenz entsteht nicht nur durch die Auswahl der Texte, die man publiziert, sondern auch durch die Haltung, mit der man diese Werke in die eigene Welt hineinführt.
Es gibt, meine ich, eine eigene Art, wie übersetzt und lektoriert wird. Diese Art ist in den Verlagen sehr unterschiedlich. Manchmal hat man sogar den Eindruck, dass gute Autoren, die aus weniger gängigen Weltzonen stammen, zwar sichtbar gemacht werden, ihr Bild jedoch so verzerrt wird, dass es das literarisch Besondere zerstört.
Nur scheinbar also bemühen sich auf diesem Buchweltmarkt alle um die gleichen Dinge. Das Endergebnis ist sehr verschieden. Mal wird der Eigenton des Autors oder des jeweiligen Kulturraums bewahrt, mal beispielsweise im Lektorat weggefiltert. Worauf geben Sie in Ihrem Verlag besonders acht?

Leitess: Wir lektorieren intensiv, das gehört mit zu unserem Job. Die Gestalt der Übersetzung, Form, Ton, Sprachfluss sind wichtig, aber da steckt die Diskussion, scheint mir, noch in den Kinderschuhen. Verlage packen das oft pragmatisch an und weisen die ÜbersetzerInnen an, treu gegenüber dem Original zu sein. Wem aber soll man treu sein? Der Quellsprache, der Zielsprache, dem Autor, dem Publikum, dem Wortlaut, dem Sinngehalt? Die Treue ist bei der Übersetzung, wie im wahren Leben, immer etwas Multipolares. Nur ein großes Ziel, jenseits aller Methoden und Konzepte, ist unerschütterlich: Die Übersetzung eines Meisterwerks sollte selbst meisterlich sein.

Übersetzen: eine Aufgabe für Originalgenies

Pollmeier: Ist das Übersetzen von Werken aus der “Literatur des Südens” eine besondere Herausforderung?

Leitess: Beim interkulturellen Übersetzen entstehen leicht Missverständnisse. Im Arabischen und Türkischen werden Gefühle gern an einen Körperteil gebunden. Übersetzt man diese Formulierungen wörtlich, entsteht im Deutschen eine sprachliche Blumigkeit, die wie ein orientalistischer Wortgarten wirkt. Diese Wirkung hat das Original nicht auf seine Leser. Dort wirken die Passagen vielmehr wie normale Ausdrucksweisen. Die “Blumigkeit der orientalischen Literatur” ist somit oft ein Missverständnis.

Und Weltliteratur ist nicht nur ein Import. Der Westen exportiert auch Erfolgskriterien und literarische Techniken. Autoren, die hier an Diskussionsrunden teilnehmen, erleben, was beim Publikum ankommt oder geschätzt wird. Weltliteratur ist immer ein gegenseitiger Prozess von Befruchtung und Austausch.

Auf einem Podium der Buchmesse in Abu Dabi sagte einmal ein junger Agent einer großen internationalen, literarischen Agentur ins Publikum, wo viele Autoren saßen: „Wir haben eine Leserschaft für Mehrgenerationenromane, die soziale Fragen, religiöse Fragen und gender issues transportieren. Wenn Sie so etwas haben, bitte, hier ist meine Karte …“

Manche Autoren bedienen diesen Katalog, weil sie erleben, das kommt an. Ich sehe auf dem literarischen Weltmarkt immer wieder Bücher, die, bewusst oder unbewusst, ich will das gar nicht werten, auch auf unsere Erwartungen hin geschrieben werden. Und es gibt beispielsweise ein eigenes Genre, das von Creative-writing-Kursen der US-Colleges geprägt ist. Einwanderer der zweiten, dritten Generation fahren zurück in die Heimat ihrer Vorfahren und gehen auf die Suche nach der Welt ihrer Großmütter. Für dieses Genre gibt es gelungene Beispiele wie etwa Drachenläufer von Khaled Hosseini, aber natürlich auch Werke, die einfach diesen Katalog abarbeiten. Gemeinsam ist ihnen die leichte Konsumierbarkeit – hier schreibt ja jemand, der wie wir über eine fremde Welt staunt.

Mich beeindrucken jene Autorinnen und Autoren am meisten, die aus ihrer eigenen Erzähltradition heraus kreativ und schöpferisch sind und sich nicht beeindrucken lassen durch das, was Kanon oder Erwartung im Westen ist. Eigentlich suchen wir, wie es Goethe gesagt hätte, die Originalgenies.

Die Schmonzette: leicht konsumierbar und authentisch

Pollmeier: Häufig wird in den Texten von Autoren, die nicht zur westlichen Literatur zählen, nach „Authentizität“ gesucht. Was halten Sie von dieser Herangehensweise?

Leitess: Um den Begriff „authentisch“ würde ich einen großen Bogen machen. Jeder versteht darunter etwas anderes. Auch ein auf den Markt hin geschriebener, erfolgreicher Unterhaltungsroman, der von einer in der vierten Generation in den USA lebenden Hawaiianerin verfasst ist, ist, auch wenn es eine Schmonzette ist – pardon ich will keine Literaten beleidigen – in gewisser Weise authentisch. Auch dieser Text spiegelt eine Haltung, ein kommerziell-kulturelles Bedürfnis und eine Erwartung wider. Die Frage bleibt wie bei der Treue: Wofür ist ein Text authentisch?

Pollmeier: Ist es wichtig, dass ein Übersetzer oder eine Übersetzerin den kulturellen Kontext des Landes, aus dessen Ursprung er bzw. sie einen Text übersetzt, gut kennt?

Leitess: Das Allerwichtigste ist – und das ist Pflicht -, sie oder er muss gut Deutsch können! Muss alle Register auf der großen Orgel der eigenen Sprache ziehen, einen hohen aktiven Wortschatz, Rhythmusgefühl, Einfühlung haben. Der Übersetzer muss also vor allem in der eigenen Kultur sicher zuhause sein.

Und natürlich gehört auch eine Kenntnis der Welten, die übersetzt werden, dazu: Wie und was man isst und trinkt, wann man wie redet, schweigt, schimpft oder flucht, wer zu wem aufschaut, und wie zu welchem Gott. Diese kulturelle Fachkenntnis muss sein, aber man kann sie erwerben. Und natürlich muss der Übersetzende die Orgeltöne der Quellsprache hören können. Nur so kann er die Sprachregister im Deutschen passend einstellen. Dabei geht notgedrungen viel verloren, aber das ist die große Kunst und Leistung des Übersetzers. Wir lesen ja “seinen” Text.

Pollmeier: Gibt es Weltregionen, die noch blinde Flecken auf der literarischen Weltkarte sind?

Leitess: Vielleicht bei etlichen afrikanischen Sprachen wie zum Beispiel dem Kisuaheli. Sicher bei den indischen Literatursprachen, die von Millionen gesprochen werden und eine blühende Literatur haben. Der Pazifik ist ein stupend vitaler Kulturkontinent, über Neuseeland und Australien hinaus. Thailand? Der Mittlere Osten? Was sind die bedeutendsten Autoren Kasachstans, Armeniens, Aserbaidschans? Ich denke, dass wir ihre Bücher auf Deutsch vielleicht schon kaufen könnten, wenn wir nur wollten … Die blinden Flecken auf der Weltkarte sind ja die Balken in den eigenen Augen.

„Dröhnendes Schweigen” im literarischen Umfeld

Pollmeier: Ist die Literaturkritik eigentlich schon reif für den Buchweltmarkt? Welche spezifischen Aspekte gilt es zu berücksichtigen?

Leitess: Das Feuilleton wünsche ich mir maximal neugierig, sich mit flammender Ungeduld stürzend auf alles Unerwartete und Überraschende … Das würde auch bedeuten: ein offenes Ohr und ausreichend Platz für Literatur aus ferneren Kulturen. Research and Developement nennt man das in der Industrie, das ist der Bereich, der Zukunft schafft. Wenn ein Erdölkonzern nicht genügend Probebohrungen macht, wird er an der Börse abgestraft. Woher sollen sonst die sprudelnden Quellen künftig kommen?

Leider scheinen im Feuilleton Platz, Mitarbeiterstamm und Neugier parallel zu schrumpfen. Bei den Rezensionen muss in jeder Saison zunächst der Pflichtteil abgedeckt werden – das sind ein bis zwei Dutzend Titel, die rezensiert werden müssen, weil es angeblich die Leser erwarten oder weil die Rezensenten einander ihre Positionen wechselseitig kundtun möchten. Wenn der Platz eingeschränkt wird, reduziert man nicht bei diesen Pflichttiteln, also geht die Schrumpfung überproportional auf Kosten der Überraschungen der Saison.

Die dramatischen Sparrunden bei freien Rezensenten und Mitarbeitern treffen zudem genau die Fachleute für außereuropäische Kulturen. Viele kundige freie Rezensenten, die uns jahrzehntelang bei unseren Explorationen begleitet haben, sind in feste Berufe gewechselt oder verstummt. Weil nun qualifizierte Rezensenten für bestimmte Regionen fehlen, findet in der Literaturkritik ein Qualitätsverlust statt. Das dröhnende Schweigen der Buchkritik über so viele bedeutende Werke gefährdet uns alle, nicht zuletzt das Feuilleton selbst, weil die Zeitungsleser ja Neugier befriedigen wollen. Da bleiben so viele faszinierende Geschichten über Bücher unerzählt. Es gibt mutige Gegenströmungen: Die Weltempfänger-Bestenliste und die Krimi-Bestenliste kennen keine Scheuklappen und holen auch aus kleinen Verlagen große Erzähler ans Licht. Warum orientiert sich das Großfeuilleton nicht häufiger an ihnen?

„Cicerone der Literatur”

Pollmeier: Was macht – aus Ihrer Sicht – die Qualität einer Rezension aus. Sollte der Rezensent den kulturellen Kontext eines Romans kennen?

Leitess: Jeder gute Roman ist Neuland für jeden Leser, seine Herkunft ist weniger wichtig. Der kundige Rezensent wird über den Hintergrund eines Werkes informieren und den Autor einschätzen können. Er führt wie ein Fremdenführer in die Welt eines Romans. Ich stelle ihn mir vor als “Cicerone der Literatur”. Er hat einen Wissensvorsprung und weist hin auf Aufbau und Tonalität, wie auf die Raffinessen eines Kunstwerkes, und vermittelt es mit kluger, begründeter Begeisterung. Er macht die werkspezifische Ästhetik erkennbar und zeigt, mit welchen Stilmitteln gearbeitet wurde. Er kennt den Stellenwert des Werks im Oeuvre des Autors oder der Autorin und im Kontext der Literaturszene des Herkunftslandes.

Lesehunger zu wecken, scheint mir ein Qualitätskriterium der Literaturkritik. Ich sehe es als eine Spezialität der deutschen Geistesgeschichte, den Kritiker als Beckmesser der Literatur zu sehen. Mit Lessing hat sie begonnen, bei Marcel Reich-Ranicki hat sie kulminiert. Warum diese Kultur des Verrisses? Warum die Leute vom Lesen abhalten? Es mag unausweichliche Ausnahmen geben – aber ich bin Anhänger der englischen oder französischen Art, über Bücher vor allem dann zu schreiben, wenn man sie liebt. Eine Rezension, in der sich Kenntnis mit Begeisterung und Respekt paaren, ist den Platz wert, die sie allen anderen guten Büchern wegnimmt.

Pollmeier: Gibt es im Bereich der Welten-Literatur besonders wirksame Verstärker, um wahrgenommen zu werden? Ich denke an den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt in Berlin, die bereits erwähnte Weltempfänger-Bestenliste von Litprom oder auch den LiBeraturpreis für Autorinnen aus Ländern des Südens?

Zum Glück gibt es diese Initiativen als Gegengewicht. Wir sind in der glücklichen/unglücklichen Lage, die Auswirkungen genau messen zu können. Die Krimi-Bestenliste (auch sie ohne Schengen-Scheuklappen) hat sich bei den LeserInnen eine getreue Gefolgschaft aufgebaut, und viele Buchhandlungen präsentieren die Bücher auf eigenen Tischen. Die Weltempfänger-Bestenliste, der Internationale Literaturpreis und der LiBeratur-Preis sind in dieser Hinsicht noch im Dornröschen-Status. Wie schafft man es, solchen Preisen öffentliche Wahrnehmung und Wirkung bei den LeserInnen zu organisieren? Kulturmarketing ist ein so peinliches Wort, aber vermutlich geht es nicht mehr ohne.

Das e-Book in seiner Steinzeit

Pollmeier: Weltweite Leserschaft kann man im digitalen Zeitalter ja auch mit Hilfe von e-Books erzielen. Sie haben sich als Verlag in diesem Punkt bewusst engagiert. Hat sich das bewährt?

Leitess: Natürlich wollen wir Leser, die mit dem e-Reader lesen, auch gut bedienen. Zudem hat der radikale technologische Wandel bei den Lesemedien Tradition. Während Jahrtausenden wurde Literatur mündlich weitergegeben, dann schrieb man auf Stein- oder Tontafeln, auf Knochen, Bambus, Pergament oder Papyrus, mit Meißel, Feder oder Pinsel, später kam das gedruckte Buch und blieb über Jahrhunderte ein Luxus. Erst die Rotationsromane, die plötzlich ganz billig waren, und das Taschenbuch, machten Literatur für alle erschwinglich. Das e-Book ist da nur ein zusätzliches Element.

Doch glaube ich, dass sich das e-Book heute noch in seiner Steinzeit befindet. Dies in verschiedener Hinsicht. Die Lesegeräte sind hässlich und lieblos gebaut. Wenn man bedenkt, mit wie viel Phantasie heute Handys und ihre Benutzeroberflächen gestaltet sind! Sie schmeicheln allen Sinnen, schmiegen sich in die Hand und überbieten sich mit tausend Extras. Die e-Reader sehen aus wie graue Mäuse und haben den Charme der PCs aus dem letzten Jahrhundert. Wo bleiben da die Designer, warum geben sie den phantasielosen Ingenieuren keine Impulse?

Viel schlimmer ist jedoch, dass die Qualität des Satzbildes und der Gestaltung, die uns Buchmenschen im Printbereich in Fleisch und Blut übergegangen sind, im e-Book fast nicht realisierbar sind. Es gibt immer noch e-Reader (vor einigen Jahren waren es noch alle), die beherrschen nicht einmal Silbentrennung, was die Typographie zur Katastrophe macht. Ein Bild und seine Legende für alle Lesegeräte auf der gleichen e-Book-Seite zu platzieren, ist praktisch ein Ding der Unmöglichkeit (nur ein Beispiel). Außerdem wird von vielen Verlagen nachlässig produziert, oder das ungeliebte Kind wird ohne rechte Vorgaben und Kontrolle per Outsourcing zu Dienstleistern abgeschoben.

Die traditionsbewussten Hersteller haben es versäumt, für die gute Typographie auf die Barrikaden zu steigen und bei den Ingenieuren der Hersteller auf den Tisch zu klopfen und einheitliche Standards bei der Lesesoftware aller Marken und Generationen zu fordern. So kommt es, dass das e-Book zwar praktisch, aber keine Freude ist. Das subkutane Glücksgefühl eines bewusst gestalteten Buches will sich beim digitalen Lesen nicht einstellen. Der e-Reader ist nur praktisch und convenient…

Wir geben uns viel Mühe, das Beste aus den beschränkten Fähigkeiten der e-Reader herauszuholen und haben uns da allerlei einfallen lassen. Dennoch stoßen wir immer wieder an frustrierende Grenzen. Es gibt Hürden bei Gedankenstrichen und Zeilenumbruch, bei Abbildungen und unzähligen Details.

Dass der Anteil der e-Books am Gesamtmarkt stagniert, mag man beklatschen oder bedauern. Sicher ist nur: es wird so bleiben, bis das Lesen auf dem e-Reader so viel Spaß macht wie das Aufschlagen eines gedruckten Buches.

Das Gespräch führte Andrea Pollmeier am Rande der Litprom-Literaturtage in Frankfurt, Frühjahr 2018.

Letzte Änderung: 15.08.2021

	  Der Verleger Lucien Leitess (Mitte), hier mit den Autoren Bachtyar Ali (rechts) und Leonardo Padura (links) | © Foto: Foto: Kahsraw Hamakarim
	  Lucien Leitess in der Midaq-Gasse in Kairo, dem Schauplatz des berühmten Romans von Nagib Machfus

Lucien Leitess, geboren 1950 in Zürich, studierte Geschichte, Philosophie und Deutsche Literatur. 1975 gründete er den Unionsverlag, den er seither leitet. Neben dem Büchermachen programmierte er die Verlagssoftware EDDY (DOS-Version) und, für die Internationale ISBN-Organisation, das Tool zur weltweiten Umstellung auf die ISBN-13. Er entwickelt die Website des Unionsverlags und die automatisierte Produktion von E-Books auf der Basis von transpect. 2015 wurde Leitess vom Branchenmagazin »Buchmarkt« als »Verleger des Jahres« ausgezeichnet. 2017 erhielt er den Kulturpreis des Kantons Zürich.

Die allerersten Titel des 1975 gegründeten Unionsverlags waren Werke der Schweizer Arbeiterliteratur. Bald folgten mit den Erinnerungen eines namibischen Zwangsarbeiters („Kontraktarbeiter Klasse B: Mein Leben in Namibia“) erste internationale Themen. Schritt für Schritt hat sich aus einem sehr entschiedenen politischen Impuls heraus ein weit gefasstes, literarisches Programm entwickelt. Im Unionsverlag erscheinen Autoren wie Tschingis Aitmatow, Giulio Cisco, Fazıl Hüsnü Dağlarca, Pablo de Santis, Assia Djebar, Mahmud Doulatabadi, Ferit Edgü, Memduh Şevket Esendal, Yaşar Kemal, Nagib Machfus, Claudia Piñeiro, Juri Rytchëu, Murat Uyurkulak, Halid Ziya Uşaklıgil und Mo Yan.

Mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels wurden Yaşar Kemal(1997) und Assia Djebar (2000) ausgezeichnet, den Literaturnobelpreis erhielten Nagib Machfus (1988) und Mo Yan (2012).

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