Eines Menschen gedenken ist mehr als an jemanden denken. Das Gedenken ist, im Sinne eines lautlosen Nachrufes, des nil nisi bene, ein An-Denken. Was aber denken wir, wenn wir so positiv den Kopf senken, wie wir es rituell tun seit Menschengedenken? Jenseits dieser rätselhaften Geste suchte Alexandru Bulucz in einem schriftlichen Gespräch mit dem Lyriker Sascha Anderson zum Tod von Elke Erb eine unsentimentale Form des Erinnerns.
Alexandru Bulucz: Lieber Sascha, Elke Erb ist gestorben, die Anteilnahme in meinen Kreisen ist ungewöhnlich groß, sie bedeutete und bedeutet vielen viel, auch vielen aus meiner Generation – von den schreibenden Millennials. Wir haben uns dieses (E-Mail-)Gespräch vorgenommen, um Worte der Würdigung für sie zu finden, vielleicht gelingt uns das.
Sascha Anderson: 1975, vielleicht auch Anfang 1976 begleitete ich Heinz Kahlau zu einer Lesung Andrei Wosnessenskis in der Ostberliner Akademie der Künste. Danach saßen wir als größere Gruppe zusammen in irgendeiner nahegelegenen Kneipe. Ich kann mich nur noch an Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel, Elke Erb und Adolf Endler erinnern. Weil ich von denen schon Texte gelesen hatte. Elke war, abgesehen von mir, die Jüngste in der Runde. Ich denke, dass ihr Band „Gutachten“ schon erschienen war. Auch Wosnessenskis „Schatten eines Lauts“. Kahlaus „Du“ schon ein paar Jahre früher. Alle bei Aufbau in der Reihe „Edition Neue Texte“. Elke hat mich sofort eingemeindet. Zumindest diesen einen Abend lang. Sie trug eine riesengroße Brille. Eine Brille, bei der jeder Versuch, sich hinter ihr zu verstecken, scheitern musste. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir beim sie Anschauen zusieht. Ab da habe ich sie nicht mehr aus den Augen verloren. Sie war die zentrale intellektuelle Erscheinung ihrer Generation – der in den 1930ern Geborenen.
Ich muss an zwei Anthologien denken. Eine halte ich gerade in den Händen: „Sprache & Antwort“, 1988 von Egmont Hesse im Westen herausgegeben. Dort vertreten sind neben dir: Döring, Igel, Kolbe, Koziol, Lorek, Neumann, Papenfuß-Gorek, Schedlinski, Zieger. Vier von ihnen sind schon tot. Die zweite Welle der Historisierung hat sie also schon erfasst. Die erste Welle kam ja mit der Wiedervereinigung und wurde vom sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit noch beschleunigt.
Alle von dir Genannten – außer Gert Neumann – sind in den 1950ern Geborene. Und wieder war Elke Erb die zentrale Figur. Die Gleichzeitigkeit ihres Wahrnehmens, Denkens und zur Sprache Bringens hat einen derart spannungsgeladenen Raum geschaffen, dass man sofort wusste: Das hier, das geht nicht ohne Konsequenzen ab. Erst recht nicht ohne persönliche Konsequenzen.
Wie sollten wir Elke Erb erinnern?
Jetzt ist da ja diese Generation, deren Kindheit in den 1970er-Jahren liegt. Die haben alle in den 90ern studiert. In unseren Kreisen war Elke noch die einzige fachgerecht Studierte. Germanistik und – ich glaube – Slawistik. Sie war also jederzeit fähig, uns mit ein paar deutlich gemachten Zusammenhängen aus der Selbstbewusstseinsfassung zu drehen. Mir zum Beispiel hat das sehr viel gegeben. Und nun denke ich, dass Menschen wie Monika Rinck und Steffen Popp oder auch der Verleger Urs Engeler – das sind ja alles Sprach- und Denkstudierte –, letztlich weitaus mehr für Elke tun konnten und können, als wir, als ich es je vermocht habe. Ich erinnere ihre immer geisterhellenden Geschenke. zum Beispiel:
Ich will in diesem Moment der Trauer deine Trauer nicht vergrößern, ich komme um die Frage aber nicht herum. Wie hat sich euer Verhältnis verändert, nachdem deine unrühmliche Vergangenheit Anfang der 90er-Jahre publik wurde? „Es geht nicht um Wiedergutmachen, Entschuldigen – es ist nichts wiedergutzumachen, zu entschuldigen“, sagtest du einmal dazu. Kam es zu einer Aussprache zwischen euch beiden?
Ich meine, gesagt zu haben, „entschulden“ im Sinne von, sich durch Entschuldigung von Schuld zu befreien, sei mir nicht möglich. Und da es kein Spiel war, sind es keine Ehrenschulden. Vielleicht war ich ja vor zehn Jahren und im Banne Nietzsches unfähig, Schuld und Schulden auseinanderzuhalten. Als Elke und ich uns Ende 2014 noch einmal getroffen haben, haben wir genau darüber gesprochen. Über unscharfe Bedeutungen und den Begriff der Unbestimmbarkeit bei Paul Valéry. Ich hatte ihr einen ihrer aufklärerischen Brieftexte an mich mitgebracht. Den hat sie mir dann noch einmal kommentiert. Und mir ist das Hirn geplatzt.
Ist die Verleihung des Büchnerpreises an Biermann, Grünbein, Braun, Hilbig, Erb, Seiler eine Art Wiedergutmachung des gesamtdeutschen Literaturbetriebs an ostdeutscher Literatur?
Absurd. Man könnte doch für jeden ein gutes Dutzend anderer sogenannter ostdeutscher Namen nennen. Zum Beispiel Bert Papenfuß, Thomas Brasch, oder wie wäre es mit Gert Neumann für „Elf Uhr“ oder mal postum Inge Müller und Anemone Latzina. Ich habe absolut keine Ahnung, nach welchen Regeln die würfeln. Nicht einmal von den Maßstäben habe ich eine Ahnung.
Michael Braun nannte Elke Erbs Poetik einmal eine solche der „Aufsässigkeit“. In ihrem kurzen Nachruf auf sie schrieb Monika Rinck von einer Sprache, die „den vorgrammatischen Bewegungen des Denkens so nahe wie nur irgend möglich“ komme, dann vom „Aufbrausenden ihres Denkens“, von „präziser wie sprunghafter Beobachtung“, von „Geistesgegenwart und innerer Beweglichkeit“. Ich würde vielleicht noch hinzufügen: göttliche Verzückung. Schlägst du aus irgendwelchen Gründen was Anderes oder Ergänzendes vor?
Ich weiß nicht, was eine „Poetik der Aufsässigkeit“ sein soll. Monika Rinck scheint Elkes Sprache aus ihrer Persönlichkeit abzuleiten. Das kann ich nachvollziehen. Hinzuzufügen: Bei Elke ergibt sich der Text nie der Methode. Zur Not lässt er sich fallen. Das ist ja auch seine Tendenz. Die Methoden zu studieren, führt zu einer langen Zeit des Vergessenmüssens. Auch das kann eine Methode sein. Aber wofür.
Ihr habt nicht nur geschrieben, sondern auch viel lektoriert. Schreiben und Lektorieren, gehört das zusammen? Ich habe, wenn ich mich mit rumäniendeutscher oder ostdeutscher Literatur auseinandersetze, immer den Eindruck, dass deren Akteure das Handwerk des Lektorierens besser beherrschen oder vielleicht strenger auslegen. Elke Erb schrieb einmal vom „leibhaft lesen“.
Auch wenn die DDR-Verlage eine Nichtveröffentlichung zur Not damit begründeten, dass das Druckpapier knapp sei, gab es doch genug Durchschlagpapier. Ich denke, jede Generation kultiviert ihre Art gegenseitiger Offenheit. Das ist vor allem erstmal Vertrauen in die Fähigkeit des Anderen, von sich selbst abzusehen. Das Wissen, dass Schreiben von Lesen kommt. Die kommunikationstechnischen Voraussetzungen. Und schließlich der unbedingte Wunsch, dass ein Gespräch über Bäume auf das Pflanzen eines Baumes hinauszulaufen hat. Das ist sicher zu viel des Gewollten. Vielleicht war es einfach nur ein ergebnisorientiertes Sein. Allein Elke hatte die Fähigkeit, ihre eigenen Texte zu lektorieren.
Warum war für eure Gruppe in der DDR Poesie „wichtiger“ als Prosa? Weil sie aufgrund der Kürze und des andeutungsweisen Sprechens geeigneter zur Regimekritik ist?
Vielleicht sogar im Gegenteil. Die Poesie sagt es direkt. Während man in der Prosa geneigt war, zwischen den Zeilen zu lesen.
Wie hast du eigentlich Elke Erb kennengelernt und erlebt, und wie kam es zu Eurer – war es denn eine Freundschaft? Und wie würdest du eure Zusammenarbeit beschreiben? Ein Teil Eurer Zusammenarbeit ist dokumentiert. Ich komme zur zweiten Anthologie, wobei nicht nur deren Inhalt legendär ist, sondern auch ihr Titel: „Berührung ist nur eine Randerscheinung“. Elke Erb und Du, ihr habt sie herausgegeben und jeweils ein Begleitwort dafür geschrieben. In Elke Erbs Vorwort ist einmal die Rede von einer Chancensuche mittels Literatur nach dem, „was nicht Aufstieg, sondern Leben heißt“. Ein andermal von einer Kunst, die ein „korrektives, verantwortendes“ Denken sei. Sind das Merkmale für – verzeih das große Wort – für eine Kunst des politischen Widerstands?
Uwe Kolbe und ich waren 1980 von Franz Fühmann gebeten worden, Texte von Autorinnen und Autoren zu sammeln, die bis dato aus ideologischen Gründen in der DDR nicht veröffentlicht wurden. Mehr oder weniger im Auftrag der Akademie der Künste. Ich arbeitete damals als Hausmeister der Versöhnungskirche in Dresden Blasewitz. Außer mir waren da noch einige andere Künstler beschäftigt. Sozusagen in einigermaßen Sicherheit unter dem Dach der Kirche. Wir hatten eine großangelegte Auktion mit Grafiken, Handschriften und Typoskripten zugunsten eines Behindertenheimes der Herrnhuter Stiftung in der Lausitz organisiert. Der Höhepunkt war eine Lesung mit Gert Neumann, Wolfgang Hilbig, Christa Wolf und Franz Fühmann. Ich hatte die Masse der Handschriften eingesammelt und kannte auch die Autorinnen und Autoren ganz gut. Nach der Lesung saßen wir in meinem Heizungskeller und diskutierten die Situation der jungen Autoren. Zwei Jahre später war das Projekt geplatzt. Ich glaube, da gibt es irgendwelche Doktorarbeiten drüber. Da kann man das alles nachlesen, sicher auch im Internet. Auch Elke ist damals in der Kirche gewesen. Und in einer anderen Dresdner Kirche, der Weinbergskirche in Trachenberge, hatte ich eine Lesereihe laufen. Da hat Elke 1981 zusammen mit Karl Mickel, Rainer Kirch und Eddi Endler gelesen.
Was auch immer: Eins führte zum anderen. Und irgendwann, ich weiß nicht mehr wie, gelangte ein Teil des für Franz Fühmann gesammelten Materials in die Hände des bei Kiepenheuer & Witsch in Köln arbeitenden Lektors Helge Malchow. Der kam dann nach Ostberlin und brachte „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ ins Rollen.
Wir waren ja damals oft in Wuischke, Elkes Sommersitz, machten da von Dresden aus regelmäßig Ausflüge hin. Mit Ralf Kerbach und Heiner Müller und eben auch mit Malchow. Inzwischen waren seit der Akademie-Anthologie zwei Jahre vergangen. Die Situation hatte sich verschärft. Es ging jetzt darum, über die literarischen Maßstäbe hinaus, die selbstverlegerische Kultur, und also zwingend die Zusammenarbeit mit den bildenden Künstlern und Musikern zu dokumentieren. Ich habe zwar – und ganz sicher nicht allein; da hat einer zum anderen geführt – die Autoren und Texte eingesammelt. Auswahl und Lektoratsarbeit aber hat Elke gemacht, unterstützt von Papenfuß.
Kannst du in Worte fassen, wie es sich anfühlt, noch zu Lebzeiten historisiert zu werden, weil man aus einer Geografie mit besonderer Spezifik herkommt? Während deren politische Spezifik erlischt.
Ich bin nicht dabei. Werde auch zu solchen Veranstaltungen nicht eingeladen. Das brächte ja kaum was. Ich wäre ungern Zuschauer eines Wettbewerbs der Erinnerungslücken. Nur einmal, vor vielleicht zehn Jahren, waren Bert und ich zu einer dreitägigen Veranstaltung, unter ich weiß nicht mehr welchem Motto, in Oxford. Auf einem ewiglangen Beistelltisch lagen dort mindestens fünfzig Bücher zur sogenannten Prenzlauer-Berg-Connection und zusätzlich noch eine wirklich exklusive Auswahl der handgebastelten Zeitschriften und Künstlerbücher. Die hatten das tatsächlich alles gesammelt. Ansonsten schaue ich mir nicht zu bei meinen Nachleben. Ich schreibe seit fast sechzig Jahren Gedichte, und ich finde es mehr als gerecht, dass die, die sich als Sieger der Geschichte betrachten, sie auch schreiben.
Letzte Änderung: 29.01.2024 | Erstellt am: 29.01.2024
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