Kultur der Kulturen

Kultur der Kulturen

Gespräch mit Patrick Chamoiseau
Patrick Chamoiseau | © © Jacques Sassier, Editions Gallimard

Patrick Chamoiseau zählt zu den wichtigsten Autoren der Karibik. In seinem Roman „Die Spur des Anderen“, der 2015 für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt nominiert worden ist, zeigt er, wie eng die Selbstfindung des Einzelnen vom Umgang mit dem fremden Anderen abhängig ist. Chamoiseau knüpft an die Kulturtheorien Edouard Glissants an und spiegelt diese in seiner Neugestaltung des Robinson-Crusoe-Mythos wider. Im Interview mit Andrea Pollmeier spricht er über die Herausforderung, nationale Denkmuster zu überwinden und im transkulturellen Umfeld weltweit individuelle Autonomie zu entfalten.

Andrea Pollmeier: Welche Bedeutung hat für Sie das Buch Robinson Crusoe von Daniel Defoe und warum haben Sie in Ihrem Roman das Thema jetzt neu bearbeitet?

Patrick Chamoiseau: Als ich den Roman Robinson Crusoe von Daniel Defoe zum ersten Mal las, war ich noch sehr jung, und die Tatsache, dass die Handlung sich auf einer Insel gleich der meinen abspielte, hat mich unglaublich fasziniert. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich ausschließlich Zugang zu westlicher Literatur – diese spiegelte natürlich in keiner Weise die Realität in tropischen Ländern wider.

Es gab in diesen Büchern nur wenige Dinge, die an meine Welt anknüpften. Plötzlich tauchte da ein Buch auf, das von einer Welt handelte, die mir bekannt vorkam, die mich unmittelbar umgab. Das war etwas ganz und gar Kostbares und Außergewöhnliches für mich. Zudem handelt es sich um eine unbewohnte Insel und somit um einen Ort der absoluten Freiheit. Hier war alles vollkommen neu gestaltbar und sogar mich selbst konnte ich neu entstehen lassen. In meiner Familie war ich das letzte von fünf Kindern, was bedeutete, dass ich allen Frustrationen und Grenzen unmittelbar ausgesetzt war, die eine solche Situation mit sich bringt. Mich faszinierte die Möglichkeit, die Welt neu gestalten zu können. Ich konnte Dinge wieder und wieder neu zusammenfügen und trennen. Ich konnte essen und trinken was ich wollte, keiner sagte mir, wann ich aufzustehen hatte, ein Ort der absoluten Freiheit eröffnete sich mir und die Möglichkeit, mich selbst neu zu sehen und einmal aus meinem Leben machen zu können, was ich wollte. Diese Erfahrung hat mich geprägt und ist in mir als etwas unglaublich Kostbares tief verwurzelt.

Erst viel, viel später, zu dem Zeitpunkt, als ich mich mit den Texten von Edouard Glissant beschäftigte, wurde mir bewusst, dass Robinson genau der Archetypus war, der zum Ausdruck zu bringen vermochte, was Glissant mit seiner Theorie über Beziehungen darzustellen versuchte. Seit den 1950er Jahren hatten kolonisierte Völker versucht, sich aus ihrer Kolonialherrschaft zu befreien. Zu dieser Zeit sagte Glissant bereits, dass – vom damaligen Zeitpunkt aus gesehen – das bestimmende Thema der kommenden fünfzig Jahre die Beziehungsfähigkeit der Menschen untereinander sein werde und es zukünftige Aufgabe der Kulturen, der Zivilisationen und auch der Individuen selbst sein werde, Aufgeschlossenheit zu erzeugen für einen Prozess von ungeheurer Intensität, nämlich dem der “inter – retro–Aktion”, und dass dies das alles beherrschende Thema werde. Diese Idee wird er durch weite Teile seines zukünftigen Werks hindurch weiter entwickeln und das ist ganz in meinem Sinne.

Immer mehr begriff ich, dass ich nicht nur meine eigene Person einer veränderten Sichtweise anpassen musste, sondern auch die Literatur, und dass ein Schwerpunkt auf den sich wandelnden Beziehungsebenen der Menschen dieser Welt wird liegen müssen. Während ich der Frage nachging, wie es mir gelingen könnte, dies darzustellen, wurde mir bewusst, dass die Situation von Robinson der unsrigen, wie wir sie gegenwärtig erleben, in gewisser Weise nicht unähnlich ist. Warum meine ich dies? Mir kam eben dieses Bild in den Sinn, weil auch Robinson, indem er sich ganz allein auf der Insel befand, gezwungen war, ganz von Neuem zu beginnen. Dies bedeutet, dass man sich eine neue Identität und den Dingen neue Inhalte zuweisen muss. Natürlich schafft Robinson Crusoe nur eine Gesellschaft nach seinen Vorstellungen, nach dem Muster, das seiner kulturellen Erinnerung entspringt, nach dem Vorbild eines ihm bereits vertrauten Gesellschaftsbildes, indem er seine Wahrheiten etc. verwirklicht. Dies alles versucht er auf dieser Insel neu entstehen zu lassen.

Daniel Defoes Robinson Crusoe handelt somit eher nach dem Muster der Herrschenden, der Imperialisten, der Kolonisateure und der Kolonialisten. Er versucht sogar, die Herrschaft über die Natur zu gewinnen. Immer schon haben die Menschen, indem sie der Natur und dem ganzen Planeten ihre Regeln aufgezwungen haben, nach diesem Muster gehandelt. Die Folgen dieses Handelns spüren wir heute in vielen Bereichen, sie bedrohen sogar den Fortbestand der Menschheit.

Seit die Menschen in der Welt sich zueinander in Beziehung setzten und sich eigenständige Gesellschaften und Kulturen mit ihren festgefügten Überzeugungen und Richtlinien, die jeweils den Anspruch der Absolutheit in sich tragen, im Prozess der Synthese befinden, in einem Prozess, bei dem sich Gegensätzliches miteinander vermischt – seit dieser Zeit entsteht so etwas, was Glissant mit dem Bild der Welt im Chaos oder gar Chaos-Welt beschreibt. Wir stehen heute vor der gewaltigen Herausforderung, uns in dieser Chaos-Welt neu zu finden und neue Strukturen des Zusammenlebens zu generieren. In Anlehnung an dieses Bild kam mir die Vorstellung, dass wir heute eine vergleichbare Metamorphose durchleben, wie sie die Insel des Robinson Crusoe durchlebt hat. Wir sind zu einem Neuanfang gezwungen, wir sind gezwungen, neue Prinzipien, neue Gedanken und neue Werte zu entwickeln, um zu lernen, gemeinsam auf dieser Welt zu leben. Dies bedeutet, dass wir einander nicht als Gemeinschaft begegnen, sondern als Individuen. Wir sind „espaces-individues“ („Raumindividuen“)“ und als solche müssen wir uns in Beziehung zueinander setzen und aufeinander zubewegen, wir, die Individuen, bilden neue Gemeinschaften und neue Gesellschaften. Mir scheint dies eine ungeheuer interessante Herausforderung zu sein.

Es gibt in der Geschichte von Robinson Crusoe noch einen weiteren Aspekt, der von Interesse ist, und dieser stammt von Michel Tournier, der die Geschichte von Daniel Defoe später weiter entwickelt hat. Tournier gelingt es, zwei Probleme zu lösen, die bei Defoe nur ansatzweise und in anderer Weise auftauchten. Tournier stellt den Bezug zur Umwelt mehr aus ökologischer Sicht her, was einem eher horizontalen Ansatz entspricht. Tournier lehrt Robinson einen respektvolleren Umgang mit dem „Mysterium Natur“, er lehrt ihn, mit ihr zu leben. Dies entspricht ein wenig dem Bewusstsein der Anhänger der ökologischen Bewegung heute. Der Robinson bei Tournier begreift, dass er als Individuum nur überleben kann, wenn er sich mit anderen zusammenschließt. Er braucht den Gegensatz, er braucht Freitag. Bei Tournier ist Freitag, anders als bei Defoe, kein Wilder mehr, den es zu beherrschen gilt. Zwischen Robinson und Freitag entwickelt sich eine sehr spezielle Beziehung, die es ermöglicht, die Gegensätzlichkeit der beiden Protagonisten zu leben, sie in die Bindung einfließen zu lassen und sich aus dieser Gegensätzlichkeit heraus neu zu definieren, im Einklang mit dem Anderen. Dies entspicht ein wenig der postkolonialen Welt, in der der Westen seine dominierende Rolle über den Rest der Welt zu Gunsten einer Welt der Verschiedenheit und des Gegensatzes aufgibt. Der Robinson, dem ich ein wenig versucht habe nahezukommen, wird natürlich versuchen, der Natur auf dieser horizontalen Ebene zu begegnen.

Die Menschheit kann es sich nicht leisten, sich auch in Zukunft aus der vertikalen Position heraus zu definieren. Sie muss sich inmitten der Fülle des Lebens bewegen. Ein weiterer Punkt scheint mir sehr wesentlich zu sein, und dieser ist eng verbunden mit den zwischenmenschlichen Beziehungen: Auch in Zukunft müssen wir uns dem Beziehungsgeflecht der Welt mit ihren Gemeinschaften nicht verschließen, wir begegnen ihm nur auf anderer Ebene, nämlich aus der Erfahrung der eigenen Individualität heraus. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Schriftsteller nur als ein einzelner, mit seinen ureigensten Erfahrungen angereicherter Schriftsteller auftritt und er dem Anderen als ein solcher begegnet.

Schließlich wird das Andere, das Verschiedene, das, was uns erschüttert und gleichermaßen auch verunsichert, nicht einfach nur das Fremde sein, nicht derjenige mit einer anderen Hautfarbe, einer anderen Sprache oder einem anderen Gott, nein, es wird die Idee selbst sein, an die wir uns werden gewöhnen müssen, die Idee davon, dass wir lernen müssen, mit dem Unvorhersehbaren zu leben, dem Unbekannten und sogar dem Undenkbaren. Die Welt ist nicht in eine glatte Formel zu fügen und als solche zugänglich. Wir müssen der Vielfalt – dem Chaos – der Irrationalität – dieser Welt mit großer Aufgeschlossenheit begegnen. Auf Grund der Tatsache, dass wir uns der eigenen Unzulänglichkeit angesichts der großen Mysterien dieses Planeten bewusst sind, können wir akzeptieren, dass wir zunehmend Mysteriösem, uns Fremdem begegnen. Ich spreche vom Mysterium des Lebens, des Todes und des Kosmos.

Gegenwärtig ist die Frage, inwieweit es uns möglich sein wird, Fremdes in unsere Gesellschaft zu integrieren, von hoher Brisanz. Zu Beginn ihres Werkes begegnet dem Protagonisten das Fremde in Form eines Schuhabdrucks, dessen Existenz Angst erzeugt. Erst durch eine veränderte Sichtweise auf diesen bedrohlichen Fremdkörper, verbunden mit einer veränderten Selbstwahrnehmung und einem veränderten Blick auf die ihn umgebende Natur, beginnt er, auch eine veränderte Haltung gegenüber diesem fremden Element einzunehmen. Dank der Begegnung mit dem Unbekannten nimmt er sogar die Welt an sich anders wahr. Sie wird farbig wie im richtigen Leben auch. Es ist eine Art Spiel, in dem durch eine Veränderung der Perspektive auf das „Selbst“, auch die Wahrnehmung des Lebens als solches verändert und neu bestimmt wird. So bekommt Ihre Wahrnehmung, Herr Chamoiseau, zugleich auch eine politische Bedeutung, stimmen Sie mir da zu?

In der gegenwärtigen Weltlage halte ich zwei Dinge für wesentlich. Ich beginne mit dem “Anderen”. Das sogenannte Andere galt früher als bedrohlich – dies lag vor allem an dem kulturellen Absolutheitsanspruch und dem Anspruch auf eine eigene Identität. Heute, d. h. im Zeitalter nach der Kolonialisierung, haben wir in der ersten, zu einer neuen Selbstwahrnehmung führenden Phase gelernt, uns dem Anderen gedanklich zu nähern, und zwar dem, der eine andere Sprache spricht, der einer anderen Kultur angehört oder der eine andere Hautfarbe hat. Wir, oder zumindest die Kolonisatoren und all jene, die der Welt gegenüber eine gewisse Aufgeschlossenheit pflegen, haben damit begonnen, den Gegensatz, das sogenannte Andere, als wesentliches Element einer jeden Entwicklung anzuerkennen, und zwar nicht nur zur Entwicklung einer eigenen, selbstbestimmten Persönlichkeit, sondern auch zur Belebung (und Durchlüftung) einer jeden Gesellschaft und Kultur. So ist die Entdeckung des „Anderen“ ein wesentliches Element der eigenen Entwicklung und der Gemeinschaft. Doch bin ich der Meinung, dass dieser Prozess abgeschlossen ist, und ich sage dies natürlich im Bewusstsein, dass es auch heute noch Angst vor dem Anderen, dem Fremden gibt und das Xenophobie und Rassismus nach wie vor existieren. Doch entspricht dies nicht dem, was die Welt derzeit in der Tiefe bewegt. Heute wollen die Menschen die Begegnung. Und dies ist, wenn ich nochmals auf die Frage zurückkommen darf, bereits vollendet. Deshalb bedurfte es in meiner Geschichte auch nicht mehr eines realen Freitag als Gegenpol zu meinem Robinson. Vielmehr konnte ich auf ihn verzichten, um damit zu zeigen, dass der Prozess der Begegnung mit dem Anderen bereits abgeschlossen ist. Natürlich steht nicht die ganze Welt an demselben Punkt in dieser Entwicklung, doch im Grunde gibt es für uns heute keine Fremden mehr. Wir kennen andere Kulturen, andere Hautfarben, wir werden uns nicht fürchten, weil jemand anders aussieht als wir. Zwar gibt es noch einiges zu tun, für mich ist das jedoch – selbst wenn es einige Archaismen gibt – erledigt. Ich brauche keinen realen Freitag mehr. Ich brauche nur die Idee vom Anderen, um meinem Robinson zu zeigen, dass durch den Anderen, durch das Wissen von der Existenz des Anderen, die Welt leichter zu verstehen ist und dass es leichter sein wird, auch noch den nächsten Schritt zu gehen, um so mit allem Lebenden und der Natur in Kontakt zu treten und zu begreifen, dass der Mensch nicht alles beherrschen und auch nicht alles verstehen kann. Was kann uns heutzutage zutiefst erschüttern? Wo entsteht Schönheit? Ich meine, sie entsteht aus der Fähigkeit, dem zu begegnen, was uns noch Unverständlichen ist, was aus unserem normativen Alltag herausspringt und was wir bislang noch nicht zu denken in der Lage waren.

Mir scheint, dass die freien Künste – die Literatur und alle Formen der Kunst in ihrem unglaublichen Reichtum – uns heute lehren, abzuwerfen, was der Homo sapiens zwischen unser Bewusstsein und das Undenkbare gestellt hat: die Religionen, die Magie, die totalitären Erklärungsversuche der Philosophie, all dies waren im Grunde nur Reduktionen. Auf jeden Fall waren es Trennwände, die zwischen unser Bewusstsein und die einzige Realität gestellt worden sind. Diese Realität besagt, dass wir aufrecht und nur auf uns gestützt stehen können müssen, ohne einen Gott und ohne Systeme, allein mit dem Wissen um eine Poetik des Unterschieds, und dass wir nur in Berührung mit der „Chaos-Welt“ und dem „Undenkbaren“ uns selbst werden realisieren können. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.

Wie ist die Situation heute?

Heute begegnen wir Individuen, die in keinem abgeschlossenen Kulturraum mit nur einer Sprache, einer Geschichte, einem Land und einer Religion leben, sondern Individuen, die in einer Art von Chaos mit einer Vielzahl von Sprachen, Religionen, Philosophien leben. Dieses verwirrende und unverständliche Beziehungsgeflecht lässt gewiss keine monokausalen Erklärungen zu und genau hierin liegt die große Herausforderung unserer Zeit. Inmitten dieses Chaos müssen wir unsere Gesellschaft bauen, multi-transkulturelle Gesellschaften. Diese Gesellschaften dürfen nicht nur in ein einziges, symbolisches System eingebunden sein, sondern in eine Vielheit von unterschiedlichen, symbolischen Systemen. Wir leben in einer Kultur, nämlich in einer Kultur der Kulturen. Müssten wir unsere Zivilisation definieren, so würde man sagen, dass es eine Zivilisation der Zivilisationen ist. Wir befinden uns heute auf der anderen Seite von dem, was der Homo sapiens geschaffen hat. Diese neue Realität, die neue Art des Denkens, dieses Imaginäre erscheint mir das Kostbarste überhaupt zu sein. Es kann uns helfen, eine neue Art der Weltpolitik zu entwickeln und genau diese brauchen wir.

Wie kann es uns gelingen, die Beziehungsgeflechte weiter zu intensivieren und dem Anderen auf gleicher Ebene so zu begegnen, dass dabei die eigene Identität nicht gefährdet wird?

Dazu bedarf es einer neuen Art des Denkens. Wir müssen uns und unser Verhältnis zur Welt neu definieren, wobei im Zentrum die Überzeugung stehen muss, dass die Beziehungen zueinander das Wichtigste sind, und dass jedes Individuum, jede Kultur, jede Gesellschaft, jede Zivilisation seine Vitalität aus den Beziehungen zueinander schöpft. Es sind die vielen Verästelungen, die Kapillaren, die durch ihre Vielfalt nicht nur das Leben, die Biosphäre, sondern die Beziehungen der Menschen (Gattung Homo sapiens) zueinander ermöglichen. Dieses Wissen um die Bedeutung der Beziehungen der Menschen wird der Herzschlag unseres Entwicklungs- und Reifungsprozesses sein. Genau aus diesem Grund halte ich Glissants Beziehungskonzept für dasjenige, das die größtmögliche Chance bietet, den Herausforderungen unserer heutigen Zeit und denen der nahen Zukunft zu begegnen.

Das Konzept der Kreolität, das Sie zusammen mit Glissant entwickelt haben, bildet die Grundlage ihres Werkes, und ich möchte Sie bitten, dies in Umrissen dem Leser vorzustellen.

Es ist für mich schwierig zu erklären, in welcher Weise sich unser Denken auf den Antillen verändert hat. Zu einem gewissen Zeitpunkt haben wir realisiert, dass die traditionellen Denkmuster nicht mehr auf unsere Gegenwart anzuwenden sind. Es geht nicht mehr um Denkmuster, in denen es nur eine Geschichte, eine Sprache, ein Vermächtnis und einen Gott gibt, jetzt geht es vielmehr darum, viele Sprachen, Rassen und Gottheiten zuzulassen, d. h. zu begreifen, dass wir mitten in die Diversität hinein geboren sind und dass wir, um uns selbst zu verstehen, eben diese ganze Vielfalt zueinander in Beziehung stellen müssen. Wir haben begriffen, dass die Entwicklung, wie sie in Amerika und auch auf den Antillen vonstatten gegangen ist, die Weise, in der sich die Völker und all die verschiedenen Zivilisationen begegnet sind, auf den gesamten Planeten übergreifen muss. Für uns stellt sich die Frage, wie sich in diesem Fluss von Beziehungen Identität oder persönliche bzw. kollektive Präsenz überhaupt bildet? Unsere Existenz auf diesem Planeten dürfen wir nicht aus der Isolation heraus begreifen. Der Robinson des Daniel Defoe ist noch in alten Weltbildern gefangen. Er isoliert sich in seiner Kultur und seiner Zivilisation. Um jedoch überleben zu können, muss er seine Gesellschaft umstrukturieren, neue Regeln und neue Überzeugungen zulassen.

Robinson ist ganz allein auf der Insel. Er begegnet niemandem, der alte oder andere Denkmuster in sich trägt (erst als er auf dem Schiff ist, ändert sich das). Mein Eindruck ist, dass seine Vision nur in dieser Isolation funktioniert und nicht in der komplexen Realität. Sobald er sich wieder anderen Menschen gegenüber sieht, entwickelt sich eine Tragödie.

Ja, ja das stimmt. Es gibt eine Tragödie. Betrachtet man eine Vielzahl der Konflikte auf dieser Welt, Genozide, Massaker, Fanatismus, Fundamentalismus, so gibt es im Wesentlichen zwei bestimmende Faktoren: Diese sind, wie man es heute nennt, Terroristen und, allgemeiner gesehen, Individuen. Natürlich gewinnen wir den Eindruck, dass diese Individuen jeweils Gruppen angehören, doch erkennen wir bei genauerem Hinsehen, dass es sich um Konstruktionen von Individuen handelt, es sind Individuen, die versuchen, zu existieren, die versuchen, ihr Leben und die Welt zu verstehen, es sind Individuen, die unfähig zu jeder Art von Beziehung sind und die diese neue Art von Komplexität nicht begreifen können. Sie versuchen, nach alten Mustern zu reagieren, d.h. sie stützen sich auf Fanatismus, Absolutismus und Fundamentalismus; sie schließen Fenster und Türen; sie antworten mit Dogmen und diese Dogmen werden in der Folge zu tödlichen Waffen, weil jegliche Art von Fixierung in diesen Beziehungen tödlich ist. Und wir, wir beginnen, etwas Wesentliches zu verstehen.

Genauso hat auch der Robinson von Daniel Defoe gehandelt. Als er auf die Insel kam, begab er sich zuerst in die Isolation, er hat sich abgeschottet. Und was musste er dann tun? Er musste etwas schaffen, etwas sehr Wichtiges, er musste seine Einsamkeit schaffen. Jeder Mensch muss, um seinen Weg gehen zu können, die Isolation verlassen und seine Einsamkeit gestalten, was bedeutet, dass er seine eigenen Regeln und Werte definieren muss, um in eine abenteuerliche Beziehung zu dem Anderen und in Beziehung zur Welt treten zu können. Genau diese Arbeit ist absolut wesentlich. Wenn wir dieses Prinzip verstehen, dann verstehen wir auch den langsamen Rückgang von Kollektiven, weil wir immer mehr die Individualisierung gestalten können. Nur diejenigen, die ihre eigene Individualisierung nicht gestalten können, brauchen das Kollektiv; aus diesem Grund begegnen wir den verschiedensten Ethnisierungen und ethnischen Reinigungsprozessen. Die Individualisierung selbst erzeugt Ängste, sie kann sogar zerstörerisch sein. Denn gelingt es dem Individuum nicht, sich in dem Geflecht von Beziehungen zu bewegen, die Öffnung zu gestalten, so ist es gezwungen, sich rückwärts zu bewegen, zurück zu Dogmen und Prinzipien. Dies erklärt die momentane Situation vieler Individuen, die sich terroristischen Bewegungen anschließen. Dies dürfen wir niemals vergessen, es handelt sich immer um Individuen.

Jeder ist eine Art individuelles Extrem. Können so geprägte Individuen nicht mehr in Kontakt zueinander treten, nicht mehr miteinander kommunizieren?

Doch, schon, denn es hat ein Individualisierungsprozess stattgefunden. Nehmen wir als Beispiel die Schriftsteller. Ein Schriftsteller repräsentiert heutzutage nicht mehr eine Nation, eine Sprache oder eine Gemeinschaft. Er steht vielmehr für seine eigenen Erfahrungen und für seinen eigenen Weg. Jedes Individuum ist heute in gewisser Weise dazu angehalten, es Robinson Crusoe gleichzutun. Es muss seine Persönlichkeit bilden. Dies bedeutet, dass das Individuum ein gewisses Maß an Bewusstsein für die Eigenständigkeit seiner Person entwickeln und ein Mindestmaß an Wissen erlangen muss, wozu auch die Fähigkeit zu einem intuitiv angemessenen Umgang mit dem Ökosystem gehört, welches das Ökosystem der Welt ist. Gelingt es uns, diese Politik der Beziehung zu leben, so bedarf es gezwungenermaßen des Anderen, des Gegenüber. Der Andere wird notwendig, die Differenz wird notwendig, auch das Sich-Öffnen, das Ablegen von Dogmen, die Bereicherung durch das Miteinander, dies alles wird zu unabdingbaren Determinanten unseres Seins. Wir befinden uns heute noch immer im Prozess der Individualisierung. Da dies so ist, bedeutet jede Art von Krankheit und Unvollkommenheit, jedes Defizit in unserem Bewusstsein, jeder Mangel an Wissen und jede Art von misslungener Beziehung zugleich das Verlassen der Solidarität, die Aufgabe von Kontakten und Beziehungen. In diesem Moment treten Ängste sowie fanatische und fundamentalistische Entgleisungen auf, die Rückhalt und Sicherheit versprechen. Tatsächlich aber müssen wir lernen, in und mit der Unsicherheit zu leben. Jeder, der sich in einen absoluten Kultur- und Sprachraum sowie in ein abgeschlossenes Territorium begibt, sucht im Grunde stärkenden Rückhalt. Wir aber müssen lernen, in freien Territorien und in multikulturellen Zusammenhängen zu denken und zu leben. Dies ist mitunter schwer und genau das müssen wir lernen. So können wir sagen, dass, anders als man denkt, der persönliche Egoismus nichts mit Individualisierung zu tun. Individueller Egoismus bzw. Isolation ist Ausdruck einer krankhaften Individualisierung. Deshalb müssen die Politiker die Individuen ermutigen, den eigenen Bewusstseinsprozess weiter zu entwickeln, sich zu bilden und in Beziehung zueinander zu treten.

Gibt es Ihrer Meinung nach eine Politik, die sich diesem Konzept annähert?

Gewiss doch. Ein Haus wie dieses, ein „Haus der Kulturen der Welt“. Ein solches müsste es in jedem Winkel der Welt geben, in allen Vierteln müsste es stehen, einfach überall …, damit die Kinder lernen, im Angesicht der Welt zu leben. Man muss ihnen verständlich machen, dass ihr Erfahrungshorizont und die Fülle ihres Lebens sich aus den Beziehungen zu einem immer größeren Teil der Welt heraus generieren. Für einen gewissen Zeitraum galt der Stammbaum als etwas sehr Wesentliches: mein Vater, meine Mutter, meine Vorfahren und dann ging es weiter, bis zur Schaffung der Welt. Der Stammbaum erlaubte es uns, das Individuum zu definieren. Heute funktioniert das nicht mehr in dieser Weise, denn heute ist nicht mehr der Stammbaum, sondern der Baum der Beziehungen für das Individuum von Bedeutung.

Heute sind nicht mehr nur mein Großvater oder meine Großmutter von Bedeutung, sondern all diejenigen, denen ich auf meinem Weg begegnet bin und überhaupt alles, was ich je geliebt habe. Man kann heute seine Sprache wählen und auch seinen Geburtsort kann man selbst bestimmen. Der Geburtsort ist nicht mehr zwangsläufig der Ort, an dem man geboren worden ist, sondern der Ort, an dem man sich selbst hat realisieren können. Ein Kind kann in Deutschland geboren worden sein, hat sich aber erst in Japan realisieren können. Ein Japaner fühlt sich in seinem Land nicht wohl und kommt nach Deutschland, wo er in sein Leben findet. Wir sehen, es gibt immer mehr Bewegungsräume, was sehr wichtig ist. Es handelt sich tatsächlich um einen Beziehungsbaum, bestehend aus kulinarischen, musikalischen und zwischenmenschlichen Begegnungen.

Der Begriff der Nation, ist er auch beziehungsabhängig?

Wir haben den Absolutheitsanspruch der Nationen aufgegeben zu Gunsten der Beziehungen der Staaten zueinander. Der Baum der Beziehungen spielt auch hier eine Rolle. Ein Individuum kann einen sehr gestutzten Beziehungsbaum haben. Auch eine Nation kann einen solch gestutzten Baum haben, d. h. er verfügt über wenig Kontakte, wenige Kapillaren und über ein geringes Maß an Solidarität.

Auch wir hier haben Schwierigkeiten, einen Autor, der beispielsweise aus Nigeria kommt und der einmal hier, einmal dort gelebt hat, einzuordnen. Eine solche Biographie erzeugt Irritationen, weil wir das Phänomen der „Interrelation“, wie Sie es beschreiben, nicht einzuordnen wissen. Wenn Sie beispielsweise einem Autor mit einem solch komplexen, transnationalen Hintergrund begegnen, wie würden Sie diesen in ihr Schema einordnen?

Es gibt so etwas wie literarische Brüderschaften. Früher gab es Textsammlungen, die auf der Grundlage der Sprache, des Landes [wie beispielsweise „Deutsche Literatur“] oder der Hautfarbe zusammengestellt worden sind. Ich erinnere mich, dass ich, als ich jung war, eine Anthologie negro-afrikanischer Literatur gelesen habe. In dieser Anthologie war also alles gesammelt worden, was Menschen mit einer dunklen Hautfarbe geschrieben hatten. Das ging damals, weil alle, die schwarzer Hautfarbe waren, im Grunde gegen den gleichen Feind gekämpft hatten. Es waren dies die feindlichen Kolonisatoren, d. h. in gewisser Weise fügte man die Autoren auf einer sehr funktionellen Ebene zusammen. Das würde so heutzutage nicht mehr gehen. Ich, beispielsweise, habe zwar eine schwarze Hautfarbe, aber mit der afrikanischen Literatur habe ich nichts zu tun. Ich habe, obgleich ich dunkler Hautfarbe bin, viel mehr Berührungspunkte mit einem Literaten weißer Hautfarbe der Karibik als mit einem Afrikaner, obwohl ich natürlich viel Solidarität mit Afrika empfinde. Auch schreibe ich in französischer Sprache, habe aber mit der französischen Literatur im Grunde nichts zu tun. Häufig fühle ich mich einem Literaten aus dem anglophonen oder dem hispanophonen Sprachraum der Karibik viel näher als einem französischen Schriftsteller. Die Familie der Schriftsteller bildet sich allein aus den Strukturen ihrer Vorstellungen heraus, d. h. aus der Art und Weise, wie sie ihre persönliche Erfahrungswelt gestalten, individuell und selbstbestimmt. Der Schriftsteller steht nicht für eine Gemeinschaft, sondern allein für seine persönliche Erfahrung. Bedeutsam ist, in welcher Weise ich mein Bewusstsein, meine Ästhetik – mit all den Einflüssen von überall her und aus der ganzen Welt – geschult habe. Genau dies ist kostbar. Durch die Art und Weise, wie wir handeln, entstehen Gefühle der Zusammengehörigkeit oder auch literarische Familien. Das wiederum bedeutet, dass meine Brüder nicht unbedingt auf Martinique oder in Amerika zu finden sind, sondern vielleicht in Deutschland, das hängt davon ab, welche Dinge thematisiert werden und wie sie thematisiert werden. Es hängt auch von der Beziehung zur Sprache ab. Es ist sehr wichtig, welche Beziehung man zur Sprache hat. Ein Schriftsteller, der in einem Beziehungsgeflecht steht, hat einen Bezug zur Sprache und diese Beziehung ist unglaublich kreativ. Glissant sagt von sich, dass er, wenn er schreibt, in Beziehung zu allen Sprachen der Welt stehe. Die Sprache, derer sich ein Schriftsteller der Beziehungen bedient, kommt einem Appell an alle Sprachen der Welt gleich, es ist wie eine Zelebration aller Sprachen der Welt.

Übersetzung aus dem Französischen von Christiane Rudolph.

Das Gespräch führte Andrea Pollmeier am 8. Juli 2015 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Das Buch Die Spur des Anderen war Teil der Shortlist für den “Internationalen Literaturpreises 2015 – Haus der Kulturen der Welt” und Patrick Chamoiseau zusammen mit der Übersetzerin Beate Thill Gast der Langen Nacht der Shortlist & Preisverleihung.

Letzte Änderung: 19.08.2021  |  Erstellt am: 19.08.2021

	  Patrick Chamoiseau (Im Hintergrund: die Übersetzerin Beate Thill)  | © Foto: Santiago Engelhardt, Haus der Kulturen der Welt

Patrick Chamoiseau wurde am 3. Dezember 1953 in Fort-de-France auf Martinique geboren und studierte Recht und Sozialwirtschaft. Er schrieb Theaterstücke, Drehbücher, Romane, Erzählungen und literarische Essays. Für seinen Roman Texaco erhielt er 1992 den Prix Goncourt.
Letzte Publikationen

Césaire, Perse, Glissant, les liaisons magnétiques; Éditions Philippe Rey 2013
Hypérion Victimaire; Éditions La Branche 2013
Le Papillon et la Lumière; Éditions Philippe Rey, Paris 2011
Auch auf Deutsch erschienen

Patrick Chamoiseau & Édouard Glissant: Brief an Barack Obama. Die unbezähmbare Schönheit der Welt, übersetzt von Beate Thill; Verlag Das Wunderhorn 2011 (L’intraitable beauté du monde. Adresse à Barack Obama; Galaade Éditions, Paris 2009

Patrick Chamoiseau Die Spur des Anderen | © © Jacques Sassier, Editions Gallimard

Patrick Chamoiseau Die Spur des Anderen

Roman
Originaltitel: L’empreinte à Crusoé
Aus dem Französischen von Beate Thill
Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-88423-444-0
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2014

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