Ich gehe gern fort
Die niederländische Schriftstellerin Anneke Brassinga ist gelernte Übersetzerin. Die Erfahrungen, die sie dabei mit Texten von Broch, Mallarmé oder Sylvia Plath machte, führten sie zu eigenen Gedichten. Das Gespräch mit Bernd Leukert handelt – vom Schreiben von Gedichten: „Ich glaube, dass der Mensch sich am besten in der Literatur äußert.“
Bernd Leukert: Es interessiert mich, wie Sie zu Ihren Gedichten kommen.
Anneke Brassinga: Eines meiner Gedichte mit dem Titel „Kennwörter“ habe ich buchstäblich geträumt: die Worte, nicht die Bilder. Ich bin nachts aufgewacht und habe es ganz schnell aufgeschrieben, denn ich wusste, dass es später schnell verschwindet, wenn man es nicht sofort aufschreibt. Und ich finde das immer noch ein sehr gutes Gedicht, weil ich es nicht geschrieben habe. Es ist mir im Traum gegeben worden. Da habe ich auch nicht gewusst, was kommen würde.
Leben Sie in Amsterdam?
Ja, manchmal. Mein Domizil ist Amsterdam. Und ich gehe gern fort.
Aber es gibt doch in Amsterdam eine Schriftstellerszene. Man kennt sich.
Wir sind eine sehr kleine Familie. Vielleicht haben wir 50, 60 Dichter. Und wir kennen uns alle. Wir haben auch keinen Streit. Vielleicht sagt man hinter dem Rücken von anderen manchmal etwas – aber das ist ganz normal.
Und deshalb dachte ich, vielleicht sind Literaten in Amsterdam nicht allein in der Stadt. Man fühlt sich mehr aufgehoben, als es Dichter zum Beispiel in Berlin sind.
Das weiß ich nicht. Aber es ist natürlich auch so, dass sich Dichter gerne absondern.
Das müssen sie auch.
Oder dass sie vielleicht besser mit normalen Menschen sprechen können, als miteinander. – Ich habe meine Dichterfreunde. Aber ein Dichter in Berlin hat natürlich auch seine Dichterfreunde, die er Sachen lesen lässt. Und man sieht sich auch bei Präsentationen von Zeitschriften. Wir haben davon nur wenige. Aber wir haben eine Menge Autoren, die darin schreiben, die sich begegnen, lesend, auch vorlesend. Wir haben eine Sozietät, die heißt PERDU, an der Kloveniersburgwal zu Amsterdam. Da hat man sehr oft Veranstaltungen nur mit Dichtern. Normale Leute kommen da eigentlich nicht hin. Also man liest füreinander, mehr oder weniger.
Aber das ist doch wunderbar!
Ja, das ist ganz glücklich.
Ich kenne die Zeitschrift Hollands Maandblad …
Die wurde gegründet von Kornelis Lubbertus Poll. Das ist lange her. Er war auch der Feuilletonchef der Zeitung NRC-HANDELSBLAD. Da habe ich einmal einen Job bekommen. Und eines Tages hat er gefragt, ob ich in Hollands Maandblad etwas schreiben könnte. Hollands Maandblad war ihm sehr ans Herz gewachsen. Aber nachdem Herr Poll gestorben war, habe ich nie wieder im Hollands Maandblad geschrieben – aus Nostalgie, Schmerz und Wehmut.
Es ist mehrfach erwähnt worden, dass Sie, angeregt durch die Übersetzung der Gedichte von Sylvia Plath, angefangen haben zu schreiben.
Das ist richtig. Da habe ich mein erstes Gedicht geschrieben. Das war sehr theatralisch. Und dann habe ich damit wieder aufgehört. Und erst, als ich Hermann Broch übersetzt habe, bin ich plötzlich in das Dichten hineingefallen. Brochs „Der Tod des Vergil“ ist eine Flut lyrischer Prosa. Da muss man sich wehren, um nicht darin unterzugehen. Ich war in Wien, um meine Broch-Studien zu machen. Da gibt es ein Archiv und ein Museum und die alte industrielle Kolonie Teesdorf, wo Broch die Arbeit in der Spinnfabrik seines Vaters fortsetzen musste, bis 1927. Und ich saß an einem typisch Wienerischen Marmortischchen in einem Café. Und da habe ich mich plötzlich an einen Teich mit Lotosblättern erinnert, auf denen Vögel standen. Die sanken langsam ins Wasser, und ich wartete darauf, dass sie untergehen würden. Aber im letzten Moment machten sie einen Schritt auf das nächste Blatt. Und das geschah den ganzen Tag. Das war in Bodh-Gaya, wo Buddha seine Erleuchtung hatte. Und dann habe ich mit der Erinnerung an diese Lotosblätter an diesem Tisch mein erstes Gedicht geschrieben. Ich fand toll, dass man mit Worten so einen Zeitsprung machen konnte. So bekam ich mit einem Mal eine Leidenschaft für das Gedichteschreiben und habe nicht wieder aufgehört. Aber es ist auch Broch zu danken, glaube ich.
Zumal die Gedichte von Sylvia Plath sehr viel mit Schmerz, Leid und Verzweiflung zu tun haben, sehr expressiv sind.
Das hat mich getroffen, auch weil sie sich die Freiheit nahm, nicht so poetisch zu sein, sondern herzzerreißende Bilder beherrscht aufzuschreiben. Das zu übersetzen, hat mich fasziniert.
Ihre eigenen Gedichte haben ja diese Expressivität nicht und diese leidvolle Grundierung. Vielleicht verbirgt sich in ihnen ein anderes Leid.
Ja. Ich lebe nicht, wie sie, auf einem dünnen Seil, das über einem Abgrund gespannt ist.
Es gibt ja immer ein persönliches Motiv, das man manchmal benennen kann, oft nicht. Und es gibt Korrespondenzen: Wo findet man die Elemente des Gedichtes? Welche bevorzugt man? Welche sind kalt und welche sind heiß?
Ich habe viele Zitate in meinen Gedichten, denn ich glaube, dass der Mensch sich am besten in der Literatur äußert. Das ist für mich eine Wirklichkeit, die ich transplantiere. Und manchmal mache ich nur eine Anspielung oder ein Wortspiel damit. Und der Rest – das sind schicksalhafte Geschehnisse. Angefangen habe ich mit vielen Liebesgedichten, einfach, weil ich verliebt war. Da war eben auch die Angst des Verliebtseins darin. Und nachher bin ich mir bewusst geworden, dass man eigentlich immer über den Tod schreiben soll, weil das Leben ein Kreislauf ist. – Es gab einen entscheidenden Moment, als meine 82-jährige Mutter sich ertränkt hat. Das war natürlich eine Tragödie. Und da kann man nichts anderes, als darüber schreiben, weil man für das Übrige machtlos hinterlassen wird. Und dann sind leider viele Leute, die ich sehr gerne hatte, gestorben. Ich habe viele Requiem-Gedichte geschrieben, weil man jemanden sozusagen in einem Gedicht bestatten kann. Im Gedicht „Dahin“, das ich vorhin gelesen habe, geht es zum Beispiel um meinen Bruder, der 2006 gestorben ist. Wenn es möglich ist, dann lese ich das immer, um ihn hier dabei zu haben, auf jeder Veranstaltung. Das habe ich gern. – Also, ein Text ist niemals schwierig zu finden.
Manchmal springt einen etwas an. Aber für Lyriker sind – von Poet zu Poet – die Außenreize doch sehr unterschiedlich wirksam.
Aber es gibt auch Momente, in denen das Gedicht sich selber diktiert. Dann muss man einfach hinhorchen und gehorchen und aufschreiben und dann noch ein bisschen dazu komponieren, auch klanglich, damit man auch versteht, was man eigentlich gehört hat.
In Ihren Gedichten spielt die Klanglichkeit eine große Rolle. In einem war etwa das A auffällig betont, in einem anderen, „Ich hab das Rot des Judenbräutchens lieb“, hauptsächlich das O.
Es gibt ein Gedicht von einem niederländischen Dichter, der Pierre Kemp heißt. Er hat sein Gedicht über dasselbe Gemälde geschrieben (Rembrandts „Das jüdische Bräutchen“). Das fängt an mit der Zeile „Ich hab das Rot des Judenbräutchens lieb“, „Ik heb het Rood van ‘t Joodse Bruidje lief“. Ich habe aus seinen Worten ein Klangspiel gemacht, auch, weil ich nicht wusste, wie man anders über ein Gemälde schreiben könnte. Und ich habe auch den Blick des Mannes auf dem Gemälde hineinlegen wollen, also seine Gedanken. Das war toll, das alles so zusammenzukneten, dass all diese Klänge immer wieder zurückkommen.
Arbeiten Sie viel an Gedichten? Oder belassen Sie es bei einem Wurf?
Nein, das kann wochenlang dauern. Und ich verbessere auch permanent, weil ich eine Übersetzerin bin. Und Übersetzer verbessern immer. Die haben auch die Pflicht zu verbessern, um immer näher an den Text heranzukommen. Ich glaube auch, ein Gedicht ist immer eine provisorische Version. Ich habe jetzt einen großen Band mit all meinen Gedichten. Der ist neu herausgekommen. Ich habe alles vorher durchgelesen und vieles geändert. Ich habe also die Geschichte verfälscht (lacht), aber ich glaube, dass es für die Gedichte besser ist. Denn sie müssen doch so gut wie möglich autonom dastehen mit lebendigen Muskeln, schönen Kleidern und guten Schuhen.
Aber ich dachte, dafür ist wenigstens beim Entstehen eine nicht zu große Kontrolle nötig, mehr ein unkontrollierter Freiraum.
Ja, das braucht man. Anders hört man nicht. – Man hat das Gefühl, wenn ich das Gedicht nicht fertig mache, dann muss ich aus dem Fenster springen. Und das schafft die Freiheit im Kopf, – weil man doch nichts anderes mehr zu tun hat, als sein Leben zu retten. So ungefähr. Man ist vollkommen abgesondert von jeder anderen Zukunft. Es bleibt nur noch, das Gedicht zu schreiben.
Die klassische Formel ‚Freiheit ist Notwendigkeit’ in Reinform.
Ja! Aber natürlich ist das sehr anstrengend. Ich werde auch vermutlich nicht alt werden. – Aber ich bin ja schon alt.
Wir kennen sehr wenig von niederländischer Dichtung in Deutschland. Mich hat überrascht, dass Michael Krüger vom Hanser Verlag uns mit einem Band einen Dichter vorgestellt hat, Remco Campert.
Er ist schon seit den 50er Jahren bei uns berühmt, und er hat auch ein großes Publikum. Jetzt ist er, glaube ich, 85, und er schreibt noch immer. Er hat auch eine Rubrik in einer Zeitung.
Dann muss er ja schreiben.
Nein, ich glaube, er macht es, weil es Spaß macht und weil man nicht aufhören kann zu schreiben. Und er hat noch im letzten Jahr einen Gedichtband publiziert. – Aber es gibt auch andere: Hans Faverey. Das war ein großer Lyriker. Er schrieb sozusagen aus dem Geist der Vorsokratiker. Ganz neu und bildstark. Und seit er wusste, dass er Krebs hatte, erschienen Gedichte, die seinen Umgang mit dem Tod zeigen, den Tod, den man leiblich in sich trägt. Das macht das sehr direkt.
Wie bei Rilke.
Ja. Und Lucebert!
Der auch Künstler ist, eine Doppelbegabung.
Ja. Aber er hat auch die Sprache der Dichtung wesentlich verändert.
Wie ist der Einfluss solcher Leute, die in Holland so bekannt sind? Kann man sagen, der interessiert mich nicht? Oder ist er immer da?
Ich glaube, Lucebert ist immer da. Er ist das Zwanzigste Jahrhundert. Er hat eigentlich die freie Lyrik eingeführt, in der es mehr auf die Metaphorik und den Klang ankommt und nicht so sehr auf die Form. Vor den 50er Jahren hatten wir nur diese Formdichter: Sonette und Reime.
Es gibt aber doch auch die neuen Formdichter, die man fast Formalisten nennen könnte. Ihre Gedichte, Anneke Brassinga, sind ganz frei von Formalismen. Sie haben nie die Versuchung gespürt, …
Nein, für mich hat jedes Gedicht seine eigene Form. Und ich möchte nicht von einer Form ausgehen. Ich habe einen Freund, der schreibt immer Sonette. Er nimmt sich Reimwörter. Und dann kommen die surrealen Bilder zu ihm. Aber ich könnte das überhaupt nicht. Ich kann nicht gehorchen, nicht mal mir selbst. Man muss so diszipliniert sein, um sich der Form zu unterwerfen.
Und letztlich komponiert man dann in eine Form hinein.
So ist es. Und das möchte ich nicht. Das nimmt das Leben aus dem Kopf. – Allerdings habe ich eine Reihe von vier Gedichten geschrieben, die alle dieselbe Strophierung haben. Das kann ich noch leiden. Das sind immer sechs Strophen von drei Zeilen und dann noch eine einzige Schlusszeile. Wenn es bildlich schön ist, dann habe ich das gern. Aber das muss sich erst herausstellen.
Es wurde erwähnt, dass eine zweisprachige Ausgabe Ihrer Gedichte erscheinen soll.
Das wird 2016 sein. Dann wird Holland Schwerpunkt der Buchmesse sein. Dann bin ich sozusagen Frau Antje aus Holland mit einer zweisprachigen Ausgabe.
Ih5. n welchem Verlag?
Matthes & Seitz. Hundert Gedichte. Denn sie haben eine Kooperation mit Katharina Narbutovi? vom Berliner Künstlerprogramm. Da war ich Gast.
Letzte Änderung: 17.08.2021
Anneke Brassinga, die 1948 in Schaarsbergen geboren wurde, studierte an der Universität von Amsterdam literarisches Übersetzen. Sie übertrug Werke von Oscar Wilde, Jules Verne, Samuel Beckett, Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath ins Niederländische, auch Vladimir Nabokovs „Die Gabe“, wofür sie den Martinus-Nijhoff-Preis erhielt, den sie aber nicht annahm, weil sie die Meinung vertrat, die Jury habe zu wenig Auswahl gehabt.
Brassinga, die auch Prosa und Essays veröffentlichte, hatte ihr Debüt als Lyrikerin 1987 mit dem Band Aurora, dem bis jetzt noch zehn weitere folgten. Im Grunde trennt sie das Übersetzen nicht vom Dichten: „Schreiben, und gewiss das Schreiben eines Gedichts, ist dasselbe wie Übersetzen, nur in umgekehrter Reihenfolge: ein behutsames Tasten nach dem klopfenden Herzen des eigenen Textes.“ Mit Wortneuschöpfungen einerseits und mit der Wiederbelebung eines alten, nicht mehr gebräuchlichen Vokabulars erweitert sie nach Bedarf die Möglichkeiten, der Realität in ihren bekannten, aber verborgenen Nuancen gerecht zu werden. Die Art und Weise, wie Brassinga ihre Themen verarbeitet, ist äußerst vielfältig. Oft wählt sie die direkte Ansprache, deren abgründige Pointe sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Sie kann ihre Sprachbilder übermütig herumtanzen lassen, oft kleidet sie ihre Reflexionen in eine überraschende und anmutige Ikonographie. Tiefster Ernst und selbstironischer, manchmal bissiger Humor prägen in Tateinheit ihre Lyrik. Ihr tiefes Verständnis der Musik, das sich nicht nur in ihrem Zyklus Adagio Hammerklavier offenbart, ermöglicht es ihr, den philosophischen Kern ihrer Poesie zur Anschauung und zur Sanglichkeit zu bringen.
Das folgende Gespräch fand im Anschluss an eine einstündige Lesung statt, die Anneke Brassinga am 4. Juli 2015 im Rahmen des 20. Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad hielt.
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