Seine Vorfahren starben im Lager Sobibor, seine aus Antwerpen stammende jüdische Mutter heiratete einen Österreicher und k.u.k.-Offizier, der später als Personaldirektor einer Bank in den Niederlanden jüdisches Eigentum „arisierte“. Schon in seinen frühen Romanen thematisierte der 1927 in Haarlem, Niederlande geborene und aufgewachsene Harry Mulisch Kollaboration und das ambivalente Verhalten der Menschen unter der Nazi-Herrschaft. Kurz nach dem Erscheinen seines Romans „Siegfried“ hat Marli Feldvoß den Schriftsteller in Frankfurt interviewt.
Harry Mulisch im Gespräch mit Marli Feldvoß zu seinem Roman „Siegfried. Eine schwarze Idylle“ (2001)
Marli Feldvoß: Herr Mulisch, Sie haben schon einmal „die Biographie eines Deutschen“ geschrieben, wie eine Kapitelüberschrift in „Strafsache 40/61“ heißt, nämlich die von Adolf Eichmann. Und Sie waren 1961 Prozessbeobachter in Jerusalem – auf eigenen Wunsch. Und Sie haben damals geschrieben: „Diese Verbindung zum Fall Eichmann geht weiter als das thematische Verhältnis zu meinem anderen Werk, das ich geschrieben habe und noch schreiben werde.“ Was führt von der Biografie des Adolf Eichmann zur erfundenen Biografie eines Siegfried, Adolf Hitlers Sohn?
Harry Mulisch: Der Eichmann, der war ein Polizist. Und der hat die Befehle ausgeführt, die er bekommen hat. Und in diesem Fall waren es die Befehle, die Juden auszurotten. Und wenn es andere Befehle gegeben hätte, hätte er die ausgeführt. Wenn er den Befehl bekommen hätte: „Jetzt mach’ mal für die Juden einen Staat Israel, einen paradiesischen Staat, wo sie alle friedlich zusammen leben können!“ Dann hätte er das gemacht. Und weil er ja eigentlich nur ein Befehlsempfänger war, hatte er gar keine Meinung. Und meiner Meinung nach – und das habe ich auch in „Strafsache 40/61“ geschrieben –, war er wahrscheinlich auch kein Antisemit – im Unterschied zu Hitler. Und das macht die Sache umso gefährlicher. Denn wenn er ein dämonischer Antisemit gewesen wäre, wäre es ein Leichtes gewesen, in der Zukunft aufzupassen auf dämonische Antisemiten, damit man die rechtzeitig festnehmen kann oder was weiß ich. Aber er war eben ein einfacher Polizist. An seiner Stelle hätte ein anderer genau dasselbe getan. Hitler dagegen war der absolute Antisemit. Und es gab auch Gläubige um Hitler herum, die die Thesen von Hitler glaubten, wie Himmler und andere, die die ganzen antisemitischen Sachen wunderbar fanden. Und das war bei Eichmann alles nicht der Fall. Nochmal: Das war ein nüchterner Polizist. Er fühlte sich auch nicht schuldig. Und jetzt kommt „Siegfried“. Da konzentriere ich mich völlig auf die Person oder Unperson von Hitler. Und da habe ich mich gefragt, war er jetzt wirklich hundertprozentig das Böse? Oder vielleicht doch nur neunundneunzig Prozent? Und das eine Prozent, was war das für eine Güte, wo steckt die in ihm? Und wie kann man das herausfinden? Da habe ich mir ein literarisches Experiment ausgedacht. Ich stelle ihn in eine fiktive Situation und werde sehen, wie er sich da beträgt. Die Situation war so, dass ich dachte, er hat ein Kind, das von Eva Braun hätte sein können. Nichts in dem Buch ist unmöglich. In dem Buch „Siegfried“ ist es ein Schriftsteller, der sich das alles hier überlegt, der ganze Theorien entwirft und halb verrückt wird und schließlich daran stirbt.
Ich nehme jetzt einmal ein Zitat aus dem Buch auf, und zwar über Ihr Schriftsteller Alter ego Rudolf Herter, der einen etwas verräterischen Namen hat, der Hitler begegnet, also diese imaginäre Begegnung hat. Sie sagen selbst ganz am Anfang Ihres Romans, daß er ein verrückter Schriftsteller sei. Wie verrückt muß ein Schriftsteller eigentlich sein, um sich so etwas auszudenken?
Gewiss muss er verrückt sein. Denn wenn er nicht verrückt wäre, dann wäre er ein Psychologe oder ein Soziologe. Und diese Theorie, wo immer gesagt wird, dass der Hitler eine Unperson ist, dass er eine Maske ist, und hinter der Maske ist nicht irgend ein wahres Gesicht, was jeder herauszufinden versucht, – aber: nichts! Einfach nichts. Und dass er diese Millionen Deutsche und Österreicher und viele andere mehr nicht verführt hat, obwohl er seelenlos war, sondern weil er seelenlos war. Er war dieses schwarze Loch, das alle aufsaugte.
Kommen wir doch zu Harry Mulisch, dem Philosophen. Denn dieses schwarze Loch, das Nichts, das ist ja eine Idee, die Sie auch schon früher angedacht haben, jetzt aber eben voll, sozusagen zur Erklärung Hitlers, als angebetete Figur entwickelt haben. Und Ihre Definition Hitlers borgen Sie sich von einem evangelischen Theologen, von Rudolf Otto. Und die heißt mysterium tremendum ac fascinans, also das schreckliche und zugleich verzaubernde Geheimnis. Und Sie unternehmen jetzt aber eine ganz großartige, philosophische Weltschau, um zu erklären, was es mit dieser Figur, mit diesem Mysterium auf sich hat. Ich finde das sehr spannend, wenn es auch für mich zwei Seiten hat, weil es einerseits sehr unterhaltsam und amüsant ist, und andererseits eine ernsthafte Idee. Aber man weiß es nicht so genau.
Ja, ich denke, ein deutscher Schriftsteller hätte das Buch so nicht schreiben können. Dann wäre es ganz schwer geworden. Es handelt sich ja hier um Massenmord und Hitler. Und da darf man nicht auch noch etwas Komisches schreiben. Das soll streng geschieden sein, der Humor und der Ernst. Aber das ist deutsch. Wenn man sich die Bühnenstücke von Shakespeare ansieht – die sind blutig, sehr ernst und auch zum Lachen. Und das ist die Größe von Shakespeare. Und von Cervantes mit dem Don Quijote usw. Also damit habe ich kein Problem. Das mysterium tremendum ac fascinans, das ist das bezaubernde, verführerische und schreckliche Geheimnis, das der Rudolf Otto da gemacht hat. Im Christentum redet man dann vom Lieben Gott. Der ist in Ordnung. Der vergibt die Sünden. Und sein Sohn – ja, wieder ein Sohn (lacht) – stirbt dann für die Sünden der Menschheit. Und das ist alles wunderbar. Das ist der Gott der Liebe. Und der Rudolf Otto kommt dann mit dem mysterium tremendum ac fascinans, mit dem Göttlichen als schreckliches Prinzip: ein erschreckendes, aber zugleich faszinierendes Prinzip. Sie sagten, dass er ein Evangelischer war, war er auch. Aber der ganze Protestantismus geht viel mehr zurück auf das Alte Testament als auf das Neue. Bei den Katholiken geht es eigentlich nur um das Neue. Die Protestanten gehen aber zurück zum Alten Testament, und da ist dieser schreckliche, eifersüchtige Jahwe, der sehr verschieden ist von dem Lieben Gott.(lacht) Und für den Lieben Gott wird auch niemand sterben wollen oder sich hinrichten lassen, aber schon für diesen alten Kerl aus dem Alten Testament. Rudolf Höß, das war der Lagerkommandant von Auschwitz, der sagt – und das war ein Mann wie Eichmann, ein Polizist –, dass er ganz gerührt war, als er sah, wie die Zeugen von Jehova singend ins Gas gingen, weil sie ja wussten, dass sie innerhalb einer Viertelstunde im Himmel sein würden. Das glaubten sie. Und das kann man jetzt vergleichen mit diesen arabischen Fundamentalisten, die mit einem Flugzeug in ein Gebäude fliegen. Und dann sagt man, ist das feige oder ist das eben mutig. Nein! In dem Moment, in dem sie in das Gebäude fliegen, sind sie im Paradies! Das ist gar kein Problem. Natürlich macht man das, wenn man das glaubt. Und hinter dieser Ideologie steht auch wieder der schreckliche und zugleich faszinierende Gott, der in diesem Fall Allah heißt.
Sie sind ein Autor, der sich sehr früh mit diesen traumatischen Themen Deutschlands beschäftigt hat, die eigentlich erst jetzt stärker herauskommen. Haben Sie das Gefühl, „Siegfried“ ist jetzt richtig, der richtige Zeitpunkt, oder …?
So denke ich nicht. Ich schreibe, was mir einfällt. Und ich habe damals, 1957 oder 1958, „Das steinerne Brautbett“ geschrieben. Und da sagte auch mein Verleger, das will doch keiner mehr hören! Der Krieg ist eben vorbei, und jetzt fängst Du wieder an mit Bombenteppichen auf Dresden. Was soll das? Ja, ich habe es doch gemacht. Und es war ein großer Erfolg, damals in Holland. Und dann fing man eigentlich erst an nachzudenken über die andere Seite. Man hatte immer die Lager und diese Seite gesehen. Doch die Deutschen waren ja auch ein Opfer von Hitler in diesem Sinne. Es war ja so, dass, weil es Hitler gab, Dresden vernichtet wurde. Und nicht aufgrund einer anderen Ursache. Das hat er auch auf seinem Gewissen. Aber in Deutschland war es noch nicht so weit, als das Buch 1961 oder 1962 herauskam. Und das ist überhaupt nicht wahrgenommen worden. Das ist jetzt nachgedruckt bei Suhrkamp. Und das ist schön. Ist der Schriftsteller ein Prophet? Ich weiß nicht. Aber vielleicht ist er eine Art Antenne, die gewisse Zeichen früher registriert als andere Menschen. Könnte sein. Aber das weiß ich auch nicht. Ich kann so gar nicht denken. Man ist, wie man ist.
Eine Frage zum „historischen Roman“. Sie haben das ja selbst in ihrem Buch durch ihren ‚Stellvertreter‘ diskutieren lassen, dass man über Hitler eigentlich keinen historischen Roman schreiben kann. Das wäre ein zu braves Genre. Sie wollen ihn mit dem „Netz der Fiktion“ fangen. Das ist ja eine sehr lustige Formulierung, finde ich, wie Sportangeln oder so. Was ist denn der Vorteil der Fiktion?
Dass ich ihn vor die Wahl gestellt habe. Wählt er seinen Hass oder wählt er seine Liebe? was seinen Sohn anbetrifft. Und da wählt er seinen Hass. Das hat in der Wirklichkeit nicht stattgefunden, soweit wir wissen. Aber wenn es stattgefunden hätte, wäre es so gegangen. Also, das ist der Vorteil der Phantasie. Es gibt zu diesem Hitler tausende Erklärungen. Das war doch mal ein netter, kleiner Knirps, Adölfchen, der da herumlief. Und wo und wann hat dieses Adölfchen sich in Hitler verändert? Wann, wo, wieso, warum, wodurch? Was war das für ein Mensch? Und dann kommen die Theorien: weil er im Ersten Weltkrieg erblindet war, weil seine Mutter von einem jüdischen Arzt schlecht behandelt worden ist, weil es die Arbeitslosigkeit gab, weil er eigentlich homosexuell war, und tausende andere, die sagen, er war ein Mensch mit diesen und jenen Eigenschaften. Und dass es so viele Interpretationen davon gibt, diese Tausende und noch mehr, das ist doch schon sehr verdächtig. Das gibt es doch nicht über Stalin! Oder über Napoleon oder Nero und seine diktatorischen Kollegen. Es scheint doch, dass er sich auch qualitativ unterscheidet von diesen Leuten wie Stalin. Und da habe ich mir überlegt: Das Einzige, was jetzt noch nicht von ihm gesagt worden ist – alle sagen, er sei so und so –, ist, dass er eben nicht so und so war. Dass er nicht war. Dass er eine seelenlose Entität in Menschengestalt war. Und dann steigert mein Rudolf Herter sich hinein in hochphantastische Theorien über Nietzsche und Heidegger und was weiß ich noch alles. Und diese Theorien hätte ich natürlich nie ausgearbeitet und veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung! Und was ich zeige, ist auch keine Theorie, sondern, wie bei jemandem eine Theorie entsteht. Es ist ja eine Romanfigur, die sich etwas ausdenkt. Das ist das Subjekt des Buches! Und wenn einige Kritiker gesagt haben: Mulisch behauptet, Hitler sei ein schwarzes Loch. Nein! Mulisch hat einen Roman geschrieben, und in diesem Roman gibt es eine Figur, die behauptet, Hitler sei ein schwarzes Loch. Das ist, wie wenn ich einen Roman schreiben würde über einen SS-Mann, und der SS-Mann sagt im Roman: Ich liebe Adolf Hitler. Dass dann in der Zeitung steht: Mulisch liebt Adolf Hitler. So ist es eben nicht.(lacht) Es ist etwas komplizierter.
Das hört sich jetzt alles so lustig an. Aber ich denke, Herr Mulisch, Sie tun sich auch immer etwas an, wenn Sie dieses Thema angehen, was Sie von Anfang an begleitet hat. Was steckt letztlich dahinter? Was treibt Sie an?
Was treibt mich an? Mein Verstand und natürlich auch meine Biografie. Meine Mutter war jüdisch, mein Vater war ein österreichischer Berufsoffizier, der dann nach Holland ausgewandert ist und mit den Nazis kollaboriert hat. Er war natürlich kein Nazi. Er war ja mit einer Jüdin verheiratet gewesen. Davon bin ich das Produkt. Das ist eine paradoxe Situation, die wahrscheinlich mitgeholfen hat. Aber das soll dann ein Psychoanalytiker sagen. Das ist nicht etwas, was mich interessiert. Mich interessieren nicht so sehr die Ursachen: wo kommt das her. Das ist wie mit einer Blume. Da kann man psychologisch sagen, das ist ja nur Mist. Das kommt aus dem Moder, aus dem Grund, auf dem dann die wunderbare Rose steht. Wenn man das reduziert auf seine Ursachen, ist es nur schmutzige Erde. Aber man kann es auch anders herum sehen: dass die Rose sich zur Sonne hebt, was sie will, wo sie hin will, nicht, wo sie herkommt. Ich bin kein Reduktionist, kein Psychologe in diesem Sinn. Was interessieren die Ursachen? Was wollen die Leute?! Das habe ich auch geschrieben in „Die Zukunft von gestern“, dass jeder versucht, die Nazis zu begreifen aus der Vergangenheit, aus der Arbeitslosigkeit. Meiner Meinung kann man sie nur verstehen, wenn man sich ansieht, was wollten die? Was war ihre Utopie? Was war ihre Vision? Von da aus, von dem, was noch nicht da war – das hat sie viel mehr motiviert als das, was dagewesen ist. Und das ist der Unterschied zwischen Nazis und Neonazis, die Jungs mit den kahlen Köpfen. Die sind Romantiker. Die haben Heimweh nach einer schrecklichen Vergangenheit. Aber die Nazis hatten kein Heimweh nach einer schrecklichen Vergangenheit. Die echten, die hatten Heimweh nach einer schrecklichen Zukunft. Und das ist ganz was anderes.
Sie haben den Rudolf Herter im Buch auch wieder als Erzähler entwickelt, als Hauptfigur, ein Alter ego, ein Ich-Sager, der im Namen ein bisschen Rudolf Heß verbirgt, aber auch ein Stück Adolf Hitler, wenn man die Silben auseinanderzerrt. Warum ist es notwendig, dass immer so ein Alter ego oder sehr oft ein Alter ego in Ihren Romanen auftritt oder sie sogar ganz strukturiert?
Na, ich brauchte einen Schriftsteller! Ich hätte die Erzählung auch ganz einfach so realistisch schreiben können, wie sie angeblich geschehen ist, einen Roman über Hitler und Eva Braun. Aber das fand ich nicht interessant. Übrigens fand ich es auch ein bisschen gefährlich. Ich hatte das Gefühl, ich muss zwischen mir und Hitler einen anderen Schriftsteller schieben – aus einem Selbsterhaltungstrieb. Denn man begibt sich ja in Gefahr auf solchen Gebieten. Das habe ich gemacht. Ich hatte also einen Schriftsteller nötig. Ein Schriftsteller arbeitet immer nach Vorbildern. Ich hätte mich hinsetzen können und fragen, wen könnte ich nehmen? Günter Grass oder Goethe oder Franz Kafka? Was für eine Art Schriftsteller sollte das sein? Na, es gibt einen Schriftsteller, den ich ziemlich gut kenne: das bin ich. Also habe ich mich selber genommen. Und ich hoffe, dass die Leser – er ist aufgeführt als weltberühmter Schriftsteller in Wien und so –, dass sie auch den Selbstspott, die Selbstironie darin spüren. Nicht sehr viele Leute haben ein Gefühl für Selbstspott. Schon für Spott, aber nicht für Selbstspott. Das mag man nicht so gern. Aber ich schon!
Hat Ihnen dieses Buch Spaß gemacht? Denn es liest sich so, als hätte es Ihnen auch Spaß gemacht.
Natürlich hat es mir Spaß gemacht! Und das soll auch so sein. Denn sonst ist es nicht gut. Sonst wird man ein Grübler. Bin ich nicht. Es ist doch die Welt der Freiheit. Es hat mir Spaß gemacht. Nur mit einer Szene hatte ich Mühe, in der der kleine Siegfried erschossen wird. Und ich habe mehrere unangenehme Szenen in meinen Büchern geschrieben. Damit hatte ich kein Problem. Aber hier habe ich mich wirklich ein paar Tage nicht getraut. Das war irgendwie zuviel. Da hatte ich Mühe. Das hat mir keinen Spaß gemacht. Und das ist auch der Kern des Buches, der nicht spaßig ist.
Das Interview wurde im Oktober 2001 im Auftrag des Bayerischen Rundfunks in Frankfurt am Main geführt. Harry Mulisch ist am 30.10.2010 in Amsterdam gestorben.
Letzte Änderung: 04.04.2022 | Erstellt am: 01.04.2022
Harry Mulisch Siegfried: Eine schwarze Idylle
Carl Hanser Verlag, 2001
Gebraucht Hardcover