In die Mutter verliebt

In die Mutter verliebt

Europoesie: Giorgio Caproni
Giorgio Caproni | © Dino Ignani / Wikimedia

Giorgio Capronis Gedichtband „Il seme del piangere / Die Saat des Weinens” aus dem Jahr 1959 ist, zum ersten Mal vollständig übersetzt, in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen. Im umfangreichen Werk des großen, illusionslosen Lakonikers fällt dieses Buch mit einem anderen Ton auf. Denn es enthält die Livorneser Gedichte.

In einem betagten Videomitschnitt, der auf Youtube zu finden ist, erklärt Giorgio Caproni, dass er die grassierende Logorrhoe nicht mag. Wer seine Gedichte liest, merkt, dass sich die Abneigung nicht auf den Umfang von Gedichten bezieht, sondern auf die Geschwätzigkeit. Caproni (1912-1990) hat in der Mehrzahl kurze Gedichte geschrieben und sogar – nicht gerade selten in der italienischen Lyrik – Kürzestgedichte, aber gelegentlich auch ein längeres, wie die ‚Stanze della funicolare’ oder das ‚Lamento (o boria) del preticello deriso’. Caproni wird in Livorno geboren, kommt als Zehnjähriger nach Genua. Dort bleibt der musisch begabte Knabe bis 1939. Dann zieht er nach Rom, kämpft an der Westfront und unter der deutschen Besatzung als Partisan in Alta Val Trebbia. Nach dem Krieg ist er Grundschullehrer und schreibt für Zeitschriften und Zeitungen, übersetzt französische Literatur ins Italienische und schreibt weiter Gedichte, womit er 1932 begonnen hatte. Sein erstes Buch, „Come un’ allegoria“, erscheint 1936.

Bevor er starb, hatte er einen Gedichtband vorbereitet, der dann, von Giorgio Agamben herausgegeben und mit einem Essay versehen, 1991 mit dem Titel ‚Res Amissa’ erschien. Es war sein 19. Buch. Bisher ist keines ins Deutsche übersetzt worden. 1990 erschien aber im Verlag Klett-Cotta eine zweisprachige Auswahl der Gedichte Capronis, die von Hanno Helbling übertragen und in einem Nachwort kommentiert wurde. Darin sind Gedichte aus etwa sechs nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Bänden des „nun auch bei uns zu entdeckende(n) Werk(s) Giorgio Capronis“ versammelt. Mehr als ein Vierteljahrhundert später ist der Meister der Canzonetten bei uns immer noch ein Unbekannter. Nun hat der eigenwillige Verlag ‚edition taberna kritika’ in Bern Capronis „Il seme del piangere“ – ‚Die Saat des Weinens’ aus dem Jahr 1959 zweisprachig herausgebracht. Die deutsche Fassung der Gedichte dieses Bandes, die von Stefan Ruess übersetzt wurden, ist – das lässt sich verallgemeinern – näher am Wortlaut der Originale als die Übertragung Helblings, die auch Sinnlücken auffüllt, Konkretes in Sinnbilder hüllt und zuweilen auch den Text mit eigenen Wortbeiträgen anreichert. Ruess hält sich strikt an die schlichte, unprätentiöse, düster-nüchterne Diktion, die nach den Kriegserlebnissen die Poesie Capronis beherrscht und schon im Eingangsgedicht anklingt:

Weil ich …
… weil ich, der ich in der Nacht alleine wohne,/ auch ich, nächtens, ein Streichholz an der Mauer/ reibend, vorsichtig in meinem Geist/ eine weiße Kerze entzünde – setze ich ein/ schüchternes Segel in die Finsternis, und die/ Feder reibend, die mir knarzt, schreibe auch ich/ und schreibe weiter wortlos und langhin die Klage,/ die den Geist mir tränkt …

Dennoch fällt „Die Saat des Weinens“ aus der Reihe der Capronischen Dichtung, denn die „Livorneser Gedichte“ – so sind 22 der 30 Gedichte zusammengefasst – sind seiner 1950 gestorbenen Mutter Anna Picchi („Annina“) gewidmet. Dabei geht er weit über den Wunsch, dass sie lebendig/ noch unter den Lebenden weile hinaus. Er imaginiert sie sich als Kind und als Heranwachsende, feiert anmutig und verliebt dieses Mädchen mit den sinnlichen Hüften, das eines Tages seine Mutter sein würde. Das wirkt mit seinem Zeitenwechsel und der Alltagsszenerie Livornos unmittelbarer und gegenwärtiger als die Beatrice Dantes oder die Laura Petrarcas und steht doch in dieser Tradition.

erstellt am 26.2.2017
aktualisiert am 10.3.2017

Letzte Änderung: 25.09.2021

Il seme del piangere / Die Saat des Weinens Gedichte von Giorgio Caproni | © Dino Ignani / Wikimedia

Giorgio Caproni Il seme del piangere / Die Saat des Weinens

Gedichte
Zweisprachige Ausgabe im Paralleltext
Aus dem Italienischen von Stefan Ruess
Mit Zeichnungen von Sabine Jansen sowie einem Nachwort des Übersetzers
116 Seiten
ISBN: 978-3-905846-40-9
edition taberna kritika, Bern, 2016

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